in einem Programmheft der Nürnberger Oper fand ich folgenden Text:
Der neue Orpheus
Für Claire
Orpheus
Musikant des Herbstes
Trunken von Sternenmost
Hörst Du die Drehung der Erde
Heute stärker knarren als sonst?
Die Achse der Welt ist rostig geworden
Abends und morgens steilen Lerchen zum Himmel
Suchen umsonst das Unendliche
Löwen langweilen sich
Bäche altern
Und die Vergißmeinnicht denken an Selbstmord.
Müde ist die gute Natur
Dünn der Sauerstoff ewiger Wälder
im Ozon der Gipfel erstickt man
Wolke regnet und sehnt sich nach Schlamm
Mensch muß immer zu Menschen zurück
Ewig bleibt uns Geschick
Eurydike:
Das Weib das unverstandene Leben
Jeder ist Orpheus
Orpheus: wer kennt ihn nicht:
1 m 78 groß
68 Kilo
Augen braun
Stirn schmal
Steifer Hut
Geburtsschein in der Rocktasche
Katholisch
Sentimental
Für die Demokratie
Und von Beruf: ein Musikant
Vergessen hat er Griechenland
Eisvogels Morgengesang
Die dunkle Trauer der Zedern
Die Hochzeit der Blumen
Und soviel knabenhafter Bäche Freundschaft
Was sollen ihm heute Enzian und Gemse
Die Menschen sind elend
Gefangen in der tiefen Unterwelt
In Städten von Mörtel
Von Blech und Papier
Sie muß er befreien
Die Armen an Mond an Wind und an Vögeln
Herr, bleibe stehn
Du da im gutgeschnittenen Smoking
Halt: Herz vorweisen!
Mitteleuropäische Kultur
Mit Kaiserkrönungen
Baugesellschaften
Boxkämpfen
O Zeitgenosse, sehr geehrter Herr!
Orpheus ist zu dir gekommen
Von den griechischen Hügeln
In die Ackerstrasse des Alltags
Ist der neue Dichter gestiegen
Du triffst ihn überall wo Lippen lechzen
Wo Herzen hungern
Musik wie einen warmen Umschlag
Auf allen Weltschmerz legt er dir
Orpheus singt den Menschen Frühling
Am Mittwoch zwischen halbeins und halbzwei
Als schüchterner Klavierlehrer
Befreit er ein Mädchen vom Geize der Mutter
Abends im Welt-Varietè
Zwischen Yankeegirl und Schlangenmensch
Ist sein Couplet von der Menschenliebe die dritte Nummer
Um Mitternacht ein Clown
Im sonnengoldenen Zirkus
Weckt er mit großer Pauke die Schläfer
Sonntags vor Kriegervereinen
Im eichengeschmückten Tanzsaal
Der Dirigent der Freiheitslieder
Magerer Organist
In stillen Sakristeien
Übt er die Orgel süß für Jesukinder
In allen Abonnentskonzerten
Mit Gustav Mahler
Grausam über die Herzen fährt er
Im Vorstadtkino am Qualenklavier
Läßt er den Pilgerchor
Den Mord an der Jungfrau beklagen -
Grammophone
Pianolas
Dampforgeln
Verbreiten Orpheus´ Musik
Auf dem Eiffelturm
Am 11. September
Gibt er ein drahtloses Konzert
Orpheus wird zum Genie
Er reist von Land zu Land
Immer im Schlafwagen
Seine Unterschrift faksimiliert
Für Poesiealbums
Kostet tausend Mark
Und von Athen aus fährt er nach Berlin
Durch die deutsche Morgenröte
Da wartet am Schlesischen Bahnhof
Eurydike! Eurydike!
Da steht die Sehnsucht-Geliebte
Mit ihrem alten Regenschirm
Und zerknitterten Handschuhn
Tüll auf dem Winterhut
Und zuviel Schminke auf dem Mund
Wie damals
Musiklos
Seelenarm
Eurydike: die unerlöste Menschheit!
Und Orpheus sieht sich um
Er sieht sich um - und will sie schon umarmen
Zum letzten Mal aus ihrem Orkus holen:
Er streckt die Hand
Er hebt die Stimme
Umsonst! Die Menge hört ihn schon nicht mehr
Sie drängt zur Unterwelt zum Alltag und zum Leid zurück!
Orpheus allein im Wartesaal
Schießt sich das Herz entzwei!
Yvan Goll
Wie findet Ihr diesen Text? Kann jemand etwas zur Entstehung des Gedichts sagen ? Kannte Yvan Goll die "Sonette an Orpheus" von R.M. Rilke ? ...
Viele Grüße von Barbara
