Der neue Orpheus

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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Barbara
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Der neue Orpheus

Beitrag von Barbara »

Hallo,

in einem Programmheft der Nürnberger Oper fand ich folgenden Text:

Der neue Orpheus
Für Claire


Orpheus
Musikant des Herbstes
Trunken von Sternenmost
Hörst Du die Drehung der Erde
Heute stärker knarren als sonst?
Die Achse der Welt ist rostig geworden
Abends und morgens steilen Lerchen zum Himmel
Suchen umsonst das Unendliche
Löwen langweilen sich
Bäche altern
Und die Vergißmeinnicht denken an Selbstmord.

Müde ist die gute Natur
Dünn der Sauerstoff ewiger Wälder
im Ozon der Gipfel erstickt man
Wolke regnet und sehnt sich nach Schlamm
Mensch muß immer zu Menschen zurück

Ewig bleibt uns Geschick
Eurydike:
Das Weib das unverstandene Leben
Jeder ist Orpheus

Orpheus: wer kennt ihn nicht:
1 m 78 groß
68 Kilo
Augen braun
Stirn schmal
Steifer Hut
Geburtsschein in der Rocktasche
Katholisch
Sentimental
Für die Demokratie
Und von Beruf: ein Musikant
Vergessen hat er Griechenland
Eisvogels Morgengesang
Die dunkle Trauer der Zedern
Die Hochzeit der Blumen
Und soviel knabenhafter Bäche Freundschaft

Was sollen ihm heute Enzian und Gemse
Die Menschen sind elend
Gefangen in der tiefen Unterwelt
In Städten von Mörtel
Von Blech und Papier
Sie muß er befreien
Die Armen an Mond an Wind und an Vögeln

Herr, bleibe stehn
Du da im gutgeschnittenen Smoking
Halt: Herz vorweisen!
Mitteleuropäische Kultur
Mit Kaiserkrönungen
Baugesellschaften
Boxkämpfen

O Zeitgenosse, sehr geehrter Herr!
Orpheus ist zu dir gekommen
Von den griechischen Hügeln
In die Ackerstrasse des Alltags
Ist der neue Dichter gestiegen

Du triffst ihn überall wo Lippen lechzen
Wo Herzen hungern
Musik wie einen warmen Umschlag
Auf allen Weltschmerz legt er dir

Orpheus singt den Menschen Frühling
Am Mittwoch zwischen halbeins und halbzwei
Als schüchterner Klavierlehrer
Befreit er ein Mädchen vom Geize der Mutter
Abends im Welt-Varietè
Zwischen Yankeegirl und Schlangenmensch
Ist sein Couplet von der Menschenliebe die dritte Nummer

Um Mitternacht ein Clown
Im sonnengoldenen Zirkus
Weckt er mit großer Pauke die Schläfer

Sonntags vor Kriegervereinen
Im eichengeschmückten Tanzsaal
Der Dirigent der Freiheitslieder

Magerer Organist
In stillen Sakristeien
Übt er die Orgel süß für Jesukinder

In allen Abonnentskonzerten
Mit Gustav Mahler
Grausam über die Herzen fährt er

Im Vorstadtkino am Qualenklavier
Läßt er den Pilgerchor
Den Mord an der Jungfrau beklagen -

Grammophone
Pianolas
Dampforgeln
Verbreiten Orpheus´ Musik

Auf dem Eiffelturm
Am 11. September
Gibt er ein drahtloses Konzert

Orpheus wird zum Genie
Er reist von Land zu Land
Immer im Schlafwagen
Seine Unterschrift faksimiliert
Für Poesiealbums
Kostet tausend Mark

Und von Athen aus fährt er nach Berlin
Durch die deutsche Morgenröte
Da wartet am Schlesischen Bahnhof
Eurydike! Eurydike!
Da steht die Sehnsucht-Geliebte
Mit ihrem alten Regenschirm
Und zerknitterten Handschuhn
Tüll auf dem Winterhut
Und zuviel Schminke auf dem Mund
Wie damals
Musiklos
Seelenarm
Eurydike: die unerlöste Menschheit!

Und Orpheus sieht sich um
Er sieht sich um - und will sie schon umarmen

Zum letzten Mal aus ihrem Orkus holen:
Er streckt die Hand
Er hebt die Stimme
Umsonst! Die Menge hört ihn schon nicht mehr
Sie drängt zur Unterwelt zum Alltag und zum Leid zurück!

Orpheus allein im Wartesaal
Schießt sich das Herz entzwei!

Yvan Goll

Wie findet Ihr diesen Text? Kann jemand etwas zur Entstehung des Gedichts sagen ? Kannte Yvan Goll die "Sonette an Orpheus" von R.M. Rilke ? ...

Viele Grüße von Barbara :)
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Gefällt mir gut! kannte es nicht. Gruß
gliwi
Nils

Beitrag von Nils »

Hallo,

mir gefällt es auch :) . Interessieren würde mich nur, was meint er mit dem 11.September (und dem Eiffelturm) ?

Nils
e.u.
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Beitrag von e.u. »

Für Rilke wäre das klar: 11.September ist der erste Tagebucheintrag Maltes in Paris. Damit begann sein Verhängnis.
Aber Ivan Goll hatte da sicher eine andere Sache im Kopf. Vermutlich war es das Datum einer Radiosendung.
P.S.: In Rilkes Schriften kommt der Eiffelturm nicht vor. Warum?
e.u.
Marie
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Beitrag von Marie »

Hallo e.u.,
die gleiche Frage habe ich mir auch schon gestellt. Vielleicht war der anlässlich der Weltausstellung 1887 erbaute Eiffelturm für Rilke bereits Symbol eines "anderen" Paris, das nicht mehr seins (oder Maltes) war?
Ich liebe Paris sehr und trotz meines chaotischen Orientierungssinns finde ich mich in keiner anderen Stadt besser zurecht! Als ich im vorletzten Herbst fünf Tage alleine durch Paris streifte, war ich fast überall - außer am Eiffelturm! Ich besuchte eine Ausstellung in der Nachbarschaft des Eiffelturms und nahm deutlich wahr, dass ich mich dort nicht wohlfühlte, ohne zu wissen warum. So vertraut wie Paris mir ist (auch die "moderne" Architektur!), so fremd ist und bleibt mir der Eiffelturm! Möglicherweise hatte Rilke ähnliche Empfindungen, die er (untypischerweise) nicht näher analysierte. Man hat ein wenig den Eindruck, der Eiffelturm wird einfach in sämtlichen Schriften ignoriert. Hast du bzgl. dieser Frage auch den gesamten Briefwechsel abgeklopft? (Würde mich bei dir nicht mal wundern :wink: ). Ich hatte bei Google "Rilke" und "Eiffelturm" eingegeben - auch ohne Erfolg.

Viele Grüße :shock:
Barbara
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Beitrag von Barbara »

Hallo ,

zum Eiffelturm habe ich folgenden interessanten Hinweis gefunden. Vielleicht ging R.M. Rilke davon aus, dass der Eiffelturm nicht lange bestehen würde und erwähnt ihn deshalb nicht ?

"Zunächst stieß der Eiffelturm auf Widerstand in der Bevölkerung, die ihn für einen Schandfleck hielt. Empörte Künstler nannten ihn "tragische Straßenlaterne". Heute gilt er allgemein als eines der schönsten Architekturbeispiele in der Welt. Die Pariser nennen ihn liebevoll "Eiserne Dame".

Ursprünglich hatte Eiffel nur die Genehmigung, den Turm für zwanzig Jahre stehen zu lassen; er sollte 1909 sogar wieder abgerissen werden. Aber als er sich seiner Höhe wegen als wertvoll für die Kommunikation herausstellte und die ersten transantlantischen Funkverbindungen des neuen Jahrhunderts ermöglichte, durfte er stehen bleiben..."

http://de.wikipedia.org/wiki/Eiffelturm

Auch ich bin gespannt, ob er bei R.M. Rilke an irgendeiner anderen Stelle mal erwähnt wird - oder überhaupt auch die Weltausstellung ...

Viele Grüße von Barbara
Nils

Beitrag von Nils »

Hallo,

heute nacht habe ich doch tatsächlich von einem Brief von R.M. Rilke an M. Vollmöller geträumt, in dem ein Gedicht über den Eiffelturm vorkam . Leider konnte ich nur die erste Zeile lesen: "Eiffelturm, Eiffelturm..." . Es waren drei Verse mit jeweils vier Zeilen... Das kann doch nicht wahr sein?

Nils :roll:
Paula
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Beitrag von Paula »

Hallo,

also Nils : Träume sind Schäume !!!

Ich habe zu dem Thema mit dem Eiffelturm auch noch eine Idee, warum er nicht im "Malte" vorkommt... Mich interessiert Eure Meinung dazu sehr:

Wenn ich im "Malte" die Parisbeschreibung lese kommt es mir vor, als ob er nur das unmittelbar vor ihm liegende, ihn umgebende in Paris wahrnimmt und fast immer nach unten schaut - oder besser: fast nie nach oben. Wie soll er dann den Eiffelturm sehen? Es müsste also an der Perspektive liegen mit der er Paris wahrnimmt.

Das mit dem Neuen, Modernen, Marie, kann eigentlich nicht sein, da er ja Automobile zb wahrnimmt...

Aber das ist nur so eine Idee von mir . Was meint Ihr ?

Viele Grüße von Paula :lol:

ps.: übrigens habe ich auch noch herausgefunden das Yvan Goll das Gedicht "Der neue Orpheus" 1918 geschrieben hat, später - 1927 - wurde es von Kurt Weill vertont in einer Kantate ...
Barbara
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Ingeborg Bachmann

Beitrag von Barbara »

Hallo,

hier noch ein weiteres neueres Orpheus-Gedicht:

Ingeborg Bachmann (1926-1973)

[Dunkles zu sagen]

Wie Orpheus spiel ich
auf den Saiten des Lebens den Tod
und in die Schönheit der Erde
und deiner Augen, die den Himmel verwalten,
weiß ich nur Dunkles zu sagen.

Vergiß nicht, daß auch du, plötzlich,
an jenem Morgen, als dein Lager
noch naß war von Tau und die Nelke
an deinem Herzen schlief,
den dunklen Fluß sahst,
der an dir vorbeizog.

Die Saite des Schweigens
gespannt auf die Welle von Blut,
griff ich dein tönendes Herz.
Verwandelt ward deine Locke
ins Schattenhaar der Nacht,
der Finsternis schwarze Flocken
beschneiten dein Antlitz.

Und ich gehör dir nicht zu.
Beide klagen wir nun.
Aber wie Orpheus weiß ich
auf der Seite des Todes das Leben,
und mir blaut
dein für immer geschlossenes Aug.

Viele Grüße von Barbara :D
Paula
Beiträge: 239
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Beitrag von Paula »

Hallo ,

hier noch eine Ergänzung zu
"...übrigens habe ich auch noch herausgefunden das Yvan Goll das Gedicht "Der neue Orpheus" 1918 geschrieben hat, später - 1927 - wurde es von Kurt Weill vertont in einer Kantate ..."
gerade ist dazu ein neues Buch erschienen:

Wackers, Ricarda: Dialog der Künste : die Zusammenarbeit von Kurt
Weill und Yvan Goll / Ricarda Wackers. - Münster [u.a.] : Waxmann,
2004. - 326 S. : Notenbeisp.. - 3-8309-1369-9 Pp. : EUR 29.90. -

(Veröffentlichungen der Kurt-Weill-Gesellschaft Dessau ; 5 :
Kurt-Weill-Studien)

Abstract:
"Aus der Zusammenarbeit Kurt Weills mit dem deutsch-französischen
Schriftsteller Yvan Goll sind in den Jahren 1925/26 die Kantate Der
neue Orpheus und die Oper Royal Palace entstanden. Sie erlebten ihre
recht erfolglose Uraufführung Anfang 1927 in Berlin. Bald darauf stellte
die Kooperation Weills mit Bertolt Brecht alles andere in den Schatten,
und so fanden Der neue Orpheus und Royal Palace nur noch wenig
Beachtung. Dies hat sich bis heute kaum geändert. Diese Studie
beschreibt erstmals die Voraussetzungen der bislang im Dunklen
liegenden Kooperation Golls und Weills sowie die beiden Werke.
Vorrangiges Ziel ist dabei, die in schlechtem Ruf stehende Oper neu zu
bewerten. - Um der Zusammenarbeit eines Komponisten mit einem
Schriftsteller möglichst gerecht zu werden, ist die Untersuchung
interdisziplinär angelegt. Dabei zeigt sich, dass die Kooperation mit
Goll für Weill weit bedeutender war, als bislang angenommen. Und
auch für Goll erweist sich vor allem die Oper Royal Palace geradezu
als ein Schlüsselwerk. "

Liebe Grüße und Danke für den Tipp aus Münster :wink: ,
Paula :lol:
Barbara
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... die Gezeiten folgen seinem Rhythmus...

Beitrag von Barbara »

Hallo,

in den Briefen Lisa Heises an R.M. Rilke fand ich ein wunderschönes Zitat über die "Sonette an Orpheus", das ich gerne an Euch weitergeben möchte.

R.M. Rilke hatte ihr zuvor die "Sonette an Orpheus" geschickt und sie bedankt sich in diesem Brief . So schreibt sie in ihrem Brief vom 10.4.23:

"... Liest man die Lieder des Orpheus oder hört man sie singen? Ein "zum Rühmen Bestellter" singt, und sein Gesang ist "wie Wehn um Gott". Ein Sänger, einer der "bleibenden Boten", gönnt uns von den Überflüssen. Da werden Tiere erlöst und Steine, Flüsse bekommen Gesicht und Felsen Ohr, und Früchte geben ihr Letztes. Meere rauschen ihm Lob, Blumen singen und Fische. Der Wind schmiegt sich in seine Harfe, und die Gezeiten folgen seinem Rhythmus. Die Erde läßt Frühlinge erblühen wie junge Kinder und die Wurzeln der Bäume nähren sich von der Fülle seines Wohlklangs. Übermächtiges ist in jedem Ding. Und das Herz, der Dinge kleinstes, fühlt das Erwecktsein der Welten...."

Das ist doch wunderbar beschrieben, nicht wahr ?

Liebe Grüße von Barbara :lol:
Lea
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Beitrag von Lea »

Hallo,

in einem frühen Gedicht schreibt Rilke: "...die Dinge singen hör ich so gern...". Was meint er damit, die Dinge "singen" ?

Lea :lol:
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Tja, was könnte er meinen, Lea? Vielleicht hilft dir Eichendorff weiter:
"Schläft ein Lied in allen Dingen,
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort."
Oder Novalis:
"Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
sind Schlüssel aller Kreaturen,
wenn die, so singen oder küssen,
mehr als die Tiefgelehrten wissen...."
Kannst du damit was anfangen?
Gruß
gliwi
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
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lilaloufan
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Die Dinge singen

Beitrag von lilaloufan »

Danke, @gliwi, für die beiden Hinweise!

hier berühren sich zwei Threads: http://rilke.de/phpboard/viewtopic.php?p=6689#6689.

Ich werde auf dein Posting dort per Link aufmerksam machen.

Herzlichen Gruß,
lilaloufan
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
Lea
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Beitrag von Lea »

Hallo, gliwi,

das Eichendorff Gedicht ist wirklich wunderbar : "... triffst Du nur das Zauberwort." Allerdings bin ich etwas am rätseln, was mit diesem "Zauberwort" gemeint sein könnte : die "blaue Blume" ?

Lea :lol:
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