Gedicht interpretieren

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

Moderatoren: Thilo, stilz

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Tonika
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Gedicht interpretieren

Beitrag von Tonika »

Hallo,

was meint Ihr, kann man ein Gedicht schon allein dadurch verstehen, dass man es auswendig lernt ?

Tonika :lol:
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lilaloufan
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Beitrag von lilaloufan »

Hallo Tonika,

ich kann keine Aussage über „man“ machen, aber du weißt ja, wie geleiert manches Auswendiggelernte klingt und damit entlarvt, dass hier allenfalls intellektuell verstanden, aber der Genius eines Gedichts nicht berührt wurde. Wenn ich dagegen ein Gedicht - zunächst ja lesend - wirklich spreche, dann kann ich oft in die künstlerische Intention eintauchen, und die ist nicht etwas Gedanklich-Vorstellungsmäßiges für den Nur-Kopf, sondern etwas Gefühlsartig-Willenshaftes. Ich bin dann nämlich als ganzer Mensch beteiligt, werde vielleicht den Rhythmus gehen, einzelnen Lautfolgen nachspüren, Satzgestalten gestisch nachplastizieren und mich in den Gehalt einleben, statt ihn mir bloß gegenüberzustellen. Wenn ich dann dem Nachklang meines Sprechens lausche, werde ich darin entdecken, wo ich mit dem Rätsel des Gedichts noch uneins bin, wo ich seiner lyrischen Wahrheit noch nicht gerecht werde. Und wenn’s gut geht, wird mir dabei das Gedicht vertraut - ich möchte sagen: jenseits des bloßen Inhalts. Das ist natürlich nicht dasselbe wie ein Auswendiglernen am Schreibtisch, und natürlich ist die Wirkung auf mich auch eine andere als ein analytisch-philologisches Verstehen - das ich übrigens als komplementären Teil eines Erkundungsgeschehens auch sehr zu schätzen weiß.
Kannst du damit etwas anfangen?
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
Tonika
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Beitrag von Tonika »

Hallo,

ich hatte schon eher an ein meditatives Auswendiglernen gedacht bei meiner Frage - und nicht an eines am Schreibtisch ... :o ! Hat jemand damit bereits Erfahrung gemacht ?

Es grüßt freundlich in die Runde,

Tonika :lol:
Ich bin der Eindruck, der sich verwandeln wird. (RMR)
Weltinnenräumer
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Beitrag von Weltinnenräumer »

Hallo Tonika,
Wahrscheinlich willst du darauf hinaus, dass sich einem (manchmal) beim mehrmaligen Zuhören/Durchlesen immer neue (mit jedem mal tiefere) Einsichten auftun, bzw neue Aspekte ins Zentrum der Aufmerksamkeit drängen. Find ich gut.


Ich teile in dieser Hinsicht im Groben lilaloufans Meinung:

a) nicht jeder 'Leierkasten' kann ein Gedicht durch Auswengiglernen verstehen (denn auch beim "meditativen Auswendiglernen" bedarf es minimaler Vorkenntnisse -und sei es nur das Verständnis der Sprache :wink:)

b) Auswendiglernen im Sinne eines intensiven Auseinandersetzens mit äußerer Form und innerer Bedeutung eines Textes kann das Verständnis eines Gedichts (bzw das Nachvollziehen der ihm zugrunde liegenden künstlerischen Intentionen) erheblich erweitern (bzw überhaupt erst ermöglichen).
Mikado
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Beitrag von Mikado »

Hallo,

"Das Lernen ist wie ein Meer ohne Ufer." - heißt es bei Konfuzius :wink: !

Mikado :lol:
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lilaloufan
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Beitrag von lilaloufan »

lilaloufan hat geschrieben: …wird mir dabei das Gedicht vertraut - ich möchte sagen: jenseits des bloßen Inhalts.
Hallo Tonika,

ich war auf Tagung und lese erst heute deine Antwort.
Im Grunde beschreibe ich so etwas wie mindestens die Vorstufe zu einem Geschehen, wie ich es von meinem täglichen Umgang mit Mantrischen Dichtungen kenne. Es wächst da halt wirklich nicht ein Verstehen im Sinne von Kenntnis, gar Enträtselung. Sondern das so meditativ aufgenommene Gedicht ermöglicht mir, ein seelisches Organ zu bilden, das vorher nicht da war.
Dabei fällt mir in der Regel gar nicht auf, dass ich es nun "kann", dass ich nicht mehr steckenbleibe, nach dem rechten Wort suche, sondern das Gedicht, das zuvor "da draußen" war, sola scriptura, nun in mir wiederentdecke, "by heart" heißt es im Englischen (s. u.). Ebensowenig aber bemerke ich, dass ich nun zu irgendwelchen siebeng'scheiten Auskünften über das Gedicht fähig wäre. Aber solcherart "Verstehen" meintest du auch nicht oder zumindest nicht primär.

Ich habe vorhin mal gegoogelt und den folgenden Satz gefunden, im article_3148 der Site von Taizé: »And then, when words already known by heart are rediscovered by reading them, some texts are illuminated with an unexpected light.« bzw. 3144: »Ensuite, en redécouvrant dans la lecture des mots que l’on connaît déjà par coeur, certains textes sont éclairés d’une lumière inattendue.«

Nun geht es dort um Gebete, nicht Gedichte, anderenorts um Suren - der Vorgang, die innere Tätigkeit, ist dieselbe, nicht wahr?

Ich erinnere mich gut, wie ich vor 24 Jahren die Zeilen kennenlernte:

und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.


Wie ich diesen Zeilen damals einen Raum in mir erlaubt, bereitet habe, dass sie mich ausfüllten, wie sonst eine Melodie sich im Innern behaust und ihr logement gepflegter, geschmückter hinterlässt als sie's beim Einzug vorfand.

Das, was damals unwillkürlich geschah, als unvorbereitete und nicht vermutete Wirkung des Gedichts, aus freiem Entschluss zu erüben und zum Werkzeug eines Gedicht-Begreifens zu machen, ist wohl eher das, worum es dir geht. Ich denke, nur mit diesem selben Instrument können wir die wirklich "große" Dichtung als eine solche erkennen und von dem vielen Poetisch-Verlegenen scheiden, das ein Lyriker zu verwerfen versäumte.

Eigentlich heißt das: Seine Arbeit ist in ähnlicher Weise eine meditative wie unsre: Inspiration ist offenbar nicht ein passives Begabtwerden, sondern allerstärkstes Tätigsein. Musen sind wohl nur anwesend, wenn sie mit solch meditativer Aufmerksamkeit der Seele rechnen dürfen.

d'accord?
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Tonika
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Beitrag von Tonika »

Hallo,

genauso . EINVERSTANDEN :lol: !!!

Tonika :lol:
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lilaloufan
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Par cœur

Beitrag von lilaloufan »

Jetzt hab’ ich’s: Am 21. Oktober 1924 lässt Rilke in einem Brief an Hermann Pongs dessen vierjährigen Sohn grüßen, mit einem beigefügten kurzen Gedicht, und schreibt dazu: «Sollte er es je auswendig lernen wollen, so möchte ich diese Anstrengung lieber mit dem Ausdruck, den man im Französischen für das Ergebnis hat, mir wünschen: qu’il le saurait „par Cœur“!»
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
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