lilaloufan hat geschrieben: …wird mir dabei das Gedicht vertraut - ich möchte sagen: jenseits des bloßen Inhalts.
Hallo Tonika,
ich war auf Tagung und lese erst heute deine Antwort.
Im Grunde beschreibe ich so etwas wie mindestens die Vorstufe zu einem Geschehen, wie ich es von meinem täglichen Umgang mit Mantrischen Dichtungen kenne. Es wächst da halt wirklich nicht ein Verstehen im Sinne von Kenntnis, gar Enträtselung. Sondern das so meditativ aufgenommene Gedicht ermöglicht mir, ein seelisches Organ zu bilden, das vorher nicht da war.
Dabei fällt mir in der Regel gar nicht auf, dass ich es nun "kann", dass ich nicht mehr steckenbleibe, nach dem rechten Wort suche, sondern das Gedicht, das zuvor "da draußen" war, sola scriptura, nun in mir wiederentdecke, "by heart" heißt es im Englischen (s. u.). Ebensowenig aber bemerke ich, dass ich nun zu irgendwelchen siebeng'scheiten Auskünften über das Gedicht fähig wäre. Aber solcherart "Verstehen" meintest du auch nicht oder zumindest nicht primär.
Ich habe vorhin mal gegoogelt und den folgenden Satz gefunden, im article_3148 der Site von Taizé: »And then, when words already known by heart are rediscovered by reading them, some texts are illuminated with an unexpected light.« bzw. 3144: »Ensuite, en redécouvrant dans la lecture des mots que l’on connaît déjà par coeur, certains textes sont éclairés d’une lumière inattendue.«
Nun geht es dort um Gebete, nicht Gedichte, anderenorts um Suren - der Vorgang, die innere Tätigkeit, ist dieselbe, nicht wahr?
Ich erinnere mich gut, wie ich vor 24 Jahren die Zeilen kennenlernte:
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
Wie ich diesen Zeilen damals einen Raum in mir erlaubt, bereitet habe, dass sie mich ausfüllten, wie sonst eine Melodie sich im Innern behaust und ihr logement gepflegter, geschmückter hinterlässt als sie's beim Einzug vorfand.
Das, was damals unwillkürlich geschah, als unvorbereitete und nicht vermutete
Wirkung des Gedichts, aus freiem
Entschluss zu erüben und zum Werkzeug eines Gedicht-Begreifens zu machen, ist wohl eher das, worum es dir geht. Ich denke, nur mit diesem selben Instrument können wir die wirklich "große" Dichtung als eine solche erkennen und von dem vielen Poetisch-Verlegenen scheiden, das ein Lyriker zu verwerfen versäumte.
Eigentlich heißt das: Seine Arbeit ist in ähnlicher Weise eine meditative wie unsre: Inspiration ist offenbar nicht ein passives Begabtwerden, sondern allerstärkstes Tätigsein. Musen sind wohl nur anwesend, wenn sie mit solch meditativer Aufmerksamkeit der Seele rechnen dürfen.
d'accord?