Der neue Orpheus

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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lilaloufan
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Beitrag von lilaloufan »

Hallo Lea,

ich denke eher an so etwas wie das rechte "Neigung Erweisen", das das "offenbare Geheimnis" der Dinge aufschließt.

Hierzu die Goethe-Stelle
aus: Goethe, Dichtung und Wahrheit [betr. 1770]:
  • Ich befand mich nämlich in ansehnlicher Gesellschaft auf einem Landhause, von wo man die Vorderseite des Münsters und den darüber emporsteigenden Turm gar herrlich sehen konnte. Es ist schade, sagte jemand, dass das Ganze nicht fertig geworden und dass wir nur den einen Turm haben. Ich versetzte dagegen: Es ist mir eben so leid, diesen einen Turm nicht ganz ausgeführt zu sehen: denn die vier Schnecken setzen viel zu stumpf ab, es hätten darauf noch vier leichte Turmspitzen gesollt, sowie eine höhere auf die Mitte, wo das plumpe Kreuz steht.
    Als ich diese Behauptung mit gewöhnlicher Lebhaftigkeit aussprach, redete mich ein kleiner, munterer Mann an und fragte: Wer hat Ihnen das gesagt? - Der Turm selbst, versetzte ich. Ich habe ihn so lange und aufmerksam betrachtet und ihm soviel Neigung erwiesen, dass er sich zuletzt entschloss, mir dieses offenbare Geheimnis zu gestehn. - Er hat Sie nicht mit Unwahrheit berichtet, versetzte jener; ich kann es am besten wissen, denn ich bin der Schaffner, der über die Baulichkeiten gesetzt ist. Wir haben in unserem Archiv noch die Originalrisse, welche dasselbe besagen und die ich Ihnen zeigen kann. - Wegen meiner nahen Abreise drang ich auf Beschleunigung dieser Gefälligkeit. Er ließ mich die unschätzbaren Rollen sehn; ich zeichnete geschwind die in der Ausführung fehlenden Spitzen durch ölgetränktes Papier und bedauerte, nicht früher von diesem Schatze unterrichtet gewesen zu sein. Aber so sollte es mir immer ergehen, dass ich durch Anschauen und Betrachten der Dinge erst mühsam zu einem Begriffe gelangen musste, der mir vielleicht nicht so auffallend und fruchtbar gewesen wäre, wenn man mir ihn überliefert hätte.

»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
Paul A.
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Beitrag von Paul A. »

Nun ja , lilaloufan,

solange es nicht der schiefe Turm von Pisa ist :wink: !

Paul 8)
"... Knaben, o werft den Mut/ nicht in die Schnelligkeit,/ nicht in den Flugversuch./ Alles ist ausgeruht:/ Dunkel und Helligkeit,/ Blume und Buch." (R.M. Rilke)
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lilaloufan
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Beitrag von lilaloufan »

Geneigter Herr Paule, :wink:
es war nicht der Eiffelturm :wink: , und den Campanile betraf's 1770 auch nicht. Aber in Strasbourg war's, und dort habe ich schon mehrmals mit Studierenden Übungen in anschauender Urteilskraft versucht: sich einzuleben in die Formensprache des Unvollendet Gebliebenen.
Da fängt in gewisser Weise "die Welt zu singen" an; in dieser Richtung meinte ich, dass Eichendorff vertieftes Interesse schon im Wahrnehmungsakt im Sinn hatte.
Und eben dies ist ja bei Rilke - über den künstlerischen Stil hinaus - Persönlichkeit geworden: dieses Anders Sehen.
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