"Tiere traten getrost in den offenen Blick ..."

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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Beate

"Tiere traten getrost in den offenen Blick ..."

Beitrag von Beate »

Hallo,

ich suche das Gedicht von R. M. Rilke in dem folgende Zeilen vorkommen. Es erinnert mich sehr an die achte "Duineser Elegie". Schön wäre es auch, eine Interpretation dazu zu bekommen.

"...Tiere traten getrost
in den offenen Blick, weidende,
und die gefangenen Löwen
starrten hinein wie in unbegreiflicher Freiheit;
Vögel durchflogen ihn grad,
den gemütigten Blumen
wiederschauten in ihn
groß wie in Kinder..."

Viele Grüße von Beate :)
Carola
Beiträge: 23
Registriert: 11. Okt 2003, 05:23

Beitrag von Carola »

Wendung
Der Weg von der Innigkeit zur Größe
geht durch das Opfer.
Kassner



Lange errang ers im Anschaun.
Sterne brachen ins Knie
unter dem ringenden Aufblick.
Oder er anschaute es knieend,
und seines Instands Duft
machte ein Göttliches müd,
dass es ihm lächelte schlafend.

Türme schaute er so,
dass sie erschraken:
wieder sie bauend, hinan, plötzlich, in Einem!
Aber wie oft, die vom Tag
überladene Landschaft
ruhete hin in sein stilles Gewahren, abends.

Tiere traten getrost
in den offenen Blick, weidende,
und gefangenen Löwen
starrten hinein wie in unbegreifliche Freiheit;
Vögel durchflogen ihn grad,
den gemütigen; Blumen
wiederschauten in ihn groß wie Kinder.

Und das Gerücht, dass ein Schauender sei,
rührte die minder,
fraglicher Sichtbaren,
rührte die Frauen.

Schauend wie lang?
Seit wie lange schon innig entbehrend,
flehend im Grunde des Blicks?

Wenn er, ein Wartender, saß in der Fremde; des Gasthofs
zerstreutes, abgewendetes Zimmer
mürrisch um sich, und im vermiedenen Spiegel
wieder das Zimmer
und später vom quälenden Bett aus
wieder:
da beriets in der Luft,
unfassbar beriet es
über sein fühlbares Herz,
über sein durch den schmerzhaft verschütteten Körper
dennoch fühlbares Herz
beriet es und richtete:
dass es der Liebe nicht habe.

(Und verwehrte ihm weitere Weihen.)

Denn des Anschauns, siehe, ist eine Grenze.
Und die geschaute Welt
will in der Liebe gedeihn.

Werk des Gesichts ist getan,
tue nun Herz-Werk
an den Bildern in dir, jenen gefangenen; denn du
überwältigtest sie: aber nun kennst du sie nicht.
Siehe, innerer Mann, dein inneres Mädchen,
dieses errungene aus
tausend Naturen, dieses
erst nur errungene, nie
noch geliebte Geschöpf.



20.6.1914, Paris
Gesammelte Werke, Band III (1927)

Freut mich, wenn ich helfen konnte!

Carola
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