das "Offene" in Rilkes achter Duineser Elegie

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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Paula
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das "Offene" in Rilkes achter Duineser Elegie

Beitrag von Paula »

Hallo,

was bedeutet eigentlich "das Offene" in Rilkes achter "Duineser Elegie":

"Mit allen Augen sieht die Kreatur das Offene..." ?

Grüsse, Paula
Marie
Beiträge: 308
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Beitrag von Marie »

Hallo Paula,
das ist wirklich eine der schwierigsten Stellen in den Elegien. Das "Offene" zu sehen, heißt zum einen, die Begrenzungen durch die Raum-Zeit zu überschreiten bzw. davor zu bleiben wie das Tier und zum andern die Mittelbarkeit der Wahrnehmung durch die Begriffsschablonen in unserem Gehirn auszuschalten, um die Dinge wieder an sich sehen zu können.

"Immer ist es Welt/ und niemals Nirgends ohne Nicht: das Reine,/ das man atmet und / unendlich weiß und nicht begehrt."

Wir sehen nicht mehr Stuhl oder Tisch ohne sofort auch die entsprechende begriffliche Zuordnung davon zu haben; das macht die Wahrnehmung mittelbar. Man kann es auf die Formel bringen, "wir sehen nur noch das, was wir wissen" und nicht das, was ist!
Ähnlich ist es mit Zeit und Raum: unser ganzes Denken und Erleben spielt sich in der linearen Zeitauffassung Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft ab, deswegen weiß man den Tod stets vor sich. Das "vor" drückt auch gleich den Bezug zum Raum aus, er ist ebenso in "Kästchen" aufgeteilt: wir wissen immer, was vorne, hinten, neben usw. ist.
Zeit, Raum und Begrifflichkeit bilden für den bewussten Menschen das Hindernis zur Erfahrung des "Offenen", während das Tier sich im Stadium der vorbewussten All-Einheit befindet (die ebenfalls ihre Schrecken hat - s. die Metapher mit der Mücke!)

Vielleicht ist es etwas klarer - oder? Gib ruhig 'ne Rückmeldung! :shock:
Gruß :D
Wasmut (noch Gast)

Beitrag von Wasmut (noch Gast) »

Hallo Marie

Dein Ansatz ist verblüffend präzise! Er ist weniger "schwierig" als wir annehmen - lediglich "ungewohnt" ist es für uns meist, da es "einfach" ist. Da stimme ich Dir vollends zu: betrachten wir unsere Existenz als eine Art "multidimensionales Dasein" -wissenschaftlich gesprochen: Existenz in mehreren unbekannten Frequenzebenen, so muss es uns möglich sein, dies mit unseren Augen zu erfassen. das lehnt zwar die Wissenschaft tendenziell ab, ist dem Tier aber möglich, warum? Das Tier ist extrem intuitiv unterwegs und orientiert sich gewissermaßen an Frequenz-Spuren, wie die Bienen zum Beispiel.
Uns Menschen ist es größtenteils vergönnt, so zu sehen, zu schauen, weil wir - wie Du schreibst - über die Existenz des Unsichtbaren urteilen und sagen: „was wir nicht wissen, existiert auch nicht - können wir also nicht wirklich "sehen".

Schaffen wir es also, bewusst diese eingebauten Filter zu deaktivieren, sehen wir die Welt wie sie wirklich ist. Die einen versuchen es mit Drogen und die anderen mit z.B. Meditation - beides ist nicht die Lösung, sondern ein unabschätzbares Risiko. Die anderen unter uns sind schlicht "hellsichtig" und sehen das alles auch ohne weitere ‚Hilfsmittel’ - schweigen sich jedoch darüber aus, um nicht für anomal eingestuft zu werden.

Die Essenz des Lebens – die Schöpferkraft – der Urgrund aller Frequenzebenen – der alles und zugleich nichts sein kann.

Lineares Raum- Zeit- Empfinden bringt viele Nachteile mit sich, zum Beispiel zu akzeptieren, dass wir uns auch schon vor hundert Jahren mit Rilkes Themen beschäftigt haben. Wir tun immer das, was wir bereits in einer anderen Lebensphase – anderen Frequenzebene taten: treffen die selben Leute, interessieren uns für den selben Lesestoff (z.B. RMR). Wir sagen halt „Vergangenheit“ dazu, findet jedoch parallel statt und ist quick alles lebendig – und: alles ist EINS.

Die Tiere scheinen nach dem Prinzip zu leben: Intuition contra „logisch programmiertes Wachbewusstsein“ (unter dem wir Menschen scheinbar leiden?)

Daher meine Frage an Dich Marie, ist es lediglich eine Interpretation oder gar der Ansatz für Dein eigenes praktisch philosophisches Lebenskonzept?

Beste Grüße,

Wasmut (noch Gast)
Patricia H.

Beitrag von Patricia H. »

Liebe Paula,

Rilke selbst sagt über den Begriff des Offenen in der 8. Elegie in einem Brief an Lev P. Struve am 25.2.1926 folgendes :

"Die Achte Elegie ruft (...) den Liebenden nur vorübergehend auf, um eine menschliche Verfassung zu zeigen, die, einen Augenblick, jene Sicht ins Offene gewähren mag, von der ich vermute, daß sie des Tieres (in unserem Sinne) "Sorglossein" ausmacht. Sie müssen den Begriff des "Offenen", den ich in den Elegien vorzuschlagen versucht habe, so auffassen, daß der Bewußtseinsgrad des Tieres es in die Welt einsetzt, ohne daß es sie sich (wie wir es tun) jeden Moment gegenüber stellt; das Tier ist in der Welt; wir stehen vor ihr durch die eigentümliche Wendung und Steigerung, die unser Bewusstsein genommen hat... Mit dem "Offenen" ist also nicht Himmel, Luft und Raum gemeint, auch die sind, für den Betrachter und Beurteiler, "Gegenstand" und somit "opaques" und zu. Das Tier, die Blume, vermutlich, ist alles das, ohne sich Rechenschaft zu geben und hat so vor sich und über sich jene unbeschreiblich offene Freiheit, die vielleicht nur in den ersten Liebesaugenblicken, wo ein Mensch im andern, im Geliebten, seine eigene Weite sieht, und in der Hingehobenheit zu Gott bei uns (höchst momentane) Äquivalente hat."

(Quelle: R.M. Rilke: KA, 1996, Manfred Engel im Kommentar zu den DE II, 673f.)


Grüsse, Patricia H.
Paula
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Beitrag von Paula »

Hallo,
danke für die Antworten ! Sie haben mir wirklich weitergeholfen .
Grüsse von Paula
Marie
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Beitrag von Marie »

Hallo,
schön mal wieder ein Thema zu haben, bei dem es um mehr als nur "wo steht das?", "wie ist das zu interpretieren? geht.

Patricias Briefzitat ist sehr hilfreich, denn in ihm macht Rilke deutlich, dass die Liebe die Kraft ist, die - für die meisten nur kurzfristig - die Aufspaltung der Welt, in der der denkende Mensch Subjekt und der Rest der Welt Objekt ist, überwinden kann.
Die "Sorglosigkeit" des Tieres ähnelt auch der eines kleinen Kindes, das noch in diesem weitestgehend undifferenzierten Zustand der Einheit mit sich und der Welt ist. Das macht es auch so faszinierend ein Kind zu beobachten, das mit allen Sinnen und seinem ganzen Erleben noch "in der Welt" ist und sie viel unmittelbarer (und urteilsfreier) wahrnimmt als wir Erwachsenen.

Es geht Rilke m. E. nicht darum wieder in den Zustand des "sorglosen" Tieres zurückzukehren, sondern den nächsten Schritt in Richtung bewusstes All-Eins-Sein zu verwirklichen.

Was meine eigenen Lebenskonzepte anbelangt, Wasmut, schweige ich mich inzwischen lieber aus - das hat sich in diesem Rahmen nicht bewährt, darüber zu sehr auszuschweifen. Wenn du etwas zurückblätterst, findest du sicher einige meiner "Versuch-Irrtum-Beiträge"!
Deine Gleichsetzung von Drogen und Meditation in puncto Gefährlichkeit, teile ich allerdings nicht; ich weiß aber, dass es einige riskante Abarten von Meditationspraktiken gibt, auf die das evt. zutrifft.
Als ich vor vielen Jahren einmal nach einer tiefen Bewusstlosigkeit wieder aufwachte, konnte ich die Erfahrung dieses vorbewussten Zustandes machen. Für einige Minuten (? vielleicht auch Sekunden - das Zeitbewusstsein war nämlich auch nicht mehr vorhanden) war die komplette Datenbank meines Gehirns noch inaktiv so dass ich keine Begriffe, Zeitkategorien und sonstige Raster zur Verfügung hatte, um mich und meine Umwelt erkennend wahrzunehmen. Das hat aber wie gesagt nichts mit dem mystischen Einheitszustand zu tun, der in den Religionen der Welt angestrebt ist!

Liebe Grüße :D
Marie
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Beitrag von Marie »

....hab' noch was vergessen:
Die "eigene Weite" wahrnehmen ist ein ganz wichtiges Stichwort Rilkes in diesem Briefzitat; die Welt als Projektion des Geistes zu erkennen, ist ebenfalls ein uraltes religiöses Thema.
Rilke ist in gewisser Weise inkonsequent, wenn er in der siebten Elegie vorwegnimmt "Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen.", denn wenn man erst mal diese Weite im Außen als etwas Eigenes wahrgenommen hat, existiert folglich auch die Unterteilung in "innen" und "außen" nicht mehr so wie zuvor!

Gruß :roll:
Patricia H.

Beitrag von Patricia H. »

Hallo Marie,

...in der 8. Elegie von Rilke heisst es aber auch:

"...Liebende, wäre nicht der andre, der
die Sicht verstellt, sind nah daran und staunen...
Wie aus Versehn ist ihnen aufgetan
hinter dem andern... Aber über ihn
kommt keiner fort, und wieder wird ihm Welt.
Der Schöpfung immer zugewendet, sehn
wir nur auf ihr die Spiegelung des Frein,
von uns verdunkelt. Oder daß ein Tier,
ein stummes, aufschaut, ruhig durch uns durch.
Dieses heißt Schicksal: gegenüber sein
und nichts als das und immer gegenüber..."


Bedeutet das nicht, dass Liebende sich gegenseitig im Wege stehen bzw die Sicht verstellen? Nur eine Spiegelung des Freien/Offenen sehen können?

Grüsse, Patricia H.
Marie
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Beitrag von Marie »

Hallo Patricia,
das ist ja gerade das Dilemma bei Rilke: die Liebenden können in seltenen Momenten das Potential der Liebe staunend erahnen, doch sie erreichen es nicht. Deswegen wehrt sich Rilke auch so sehr dagegen (vgl. dazu die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge), vom Liebenden zum Geliebten zu degradieren, denn dann ist man wieder auf der (gewohnten) Ebene von liebendem Subjekt und geliebtem Objekt und die Einheit fällt den Projektionen und Erwartungen zum Opfer.
Was Rilke ersehnt ist, glaube ich, diese allumfassende, bedingungslose Liebe allem und jedem gegenüber (vgl. das "Ja" zur Schöpfung in der 9. Elegie), die dennoch quasi als Initialzündung von der Liebe zweier Menschen ihren Ausgang nimmt. Das scheint auf den ersten Blick ein Paradoxon zu sein, denn wenn eine Liebe über die geliebte Person hinauswächst, wird das eher als (Liebes-)Verlust gewertet und widerstrebt unserem Sicherheits- und Besitzdenken. Den meisten Menschen ist der Gedanke, aus der Zweiheit eine Einheit von nur zwei Menschen zu machen sicher sympathischer als Rilkes All-Einheit. Rilke war vielleicht ein Visionär, der dieses Potential der Liebe schon lange bevor es verwirklicht werden kann wahrnahm.

Viele Grüße :(
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