Seite 1 von 1
Herbst aus Buch der Bilder
Verfasst: 20. Feb 2007, 18:03
von ToMi
Hallo
Ich moechte gerne ueber das folgende Gedicht sprechen
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Aus: Das Buch der Bilder
Ich denke jetzt schon seit ein paar Tagen darueber nach. Vieles ist mir klar und ich finde die sprachlichen Mittel, die Rilke hier einsetzt einfach schoen. Was mir allerdings zum vollen Verstaendnis noch fehlt, ist der Sinn der Zeilen
...,fallen wie von weit
als welkten in den Himmeln ferne Gaerten;
Ich sehe einfach nicht was Rilke damit sagen will. Ich habe schon an den Garten Eden gedacht, finde aber, dass das nicht wirklich passt. Das zweite was mir eingefallen ist, dass man das
weit zeitlich auffassen koennte, und die ferne Gaerten des Himmels als die Kindheit ansehen koennte. Aber auch das hat fuer mich keine Stimmigkeit. Wie seht ihr das?
Liebe Gruesse
Tobias
Verfasst: 20. Feb 2007, 18:41
von gliwi
Hallo Tobias,
doch, ich denke bei diesen Gärten schon an Transzendenz. Nicht spezeill an den Garten Eden mit dem Erzengel davor - in dem gibt es sicher keinen Herbst mit Blätterfall - aber an jenseitige Gärten als Bild von Welten, die uns nicht zugänglich sind, aber doch manchmal "hereinwehen" in unsere beschränkte irdische Existenz. Das Ganze dann wieder fast aufgehoben durch das "als (ob)" mit Konjunktiv: es ist nicht so, es scheint nur so, in "Wirklichkeit" gibt es diese Gärten nicht... Übrigens fällt mir dazu auch "Lauriens Rosengarten" ein, ein durch die Abendsonne erzeugtes Phänomen - auch er eine Art jenseitiger Garten, den man zwar sehen, aber nicht erreichen kann...
Gruß
gliwi
Verfasst: 20. Feb 2007, 19:39
von ToMi
Hallo Gliwi
Erst mal danke fuer die schnelle Antwort.
Kann man dann das Ganze so interpretieren, dass mit dem Tod eines jeden Menschen auch der mystische Traum des Erreichens der Transzendenz ein Stueck weiter wegrueckt (wenn auch nur scheinbar)? Dann kann man auch die letzte Strophe im Bezug stehend dazu sehen, dass dieses Ziel im Tod dann doch durch Gott erreicht wird, da man sich immer noch in seiner Hand befindet und man nur scheinbar stirbt (das heisst in dieser Welt), oder?
Liebe Gruesse
Tobias
Verfasst: 21. Feb 2007, 19:32
von gliwi
Lieber Tobias,
wie kommst du darauf? Wo steht das im Text? Ich finde nichts dergleichen. Nichts vom "Traum des Erreichens der Transzendenz". Das Wesentliche für eine Interpretation ist, genau hinzusehen, was steht da, und sich zu hüten, eventuelles Vorwissen oder eine Idee, die man beim ersten Lesen hatte, nun dem Gedicht überzustülpen und so hinzubiegen, dass es "passt".
Also sehen wir mal genau hin. Die Rede ist vom Fallen - der Blätter, der Menschen, der Hand, der ganzen Welt. Und dann, wenn alles scheinbar ins Bodenlose stürzt, kommt das sanfte Auffangen. Der Sturz (und damit der Tod)bleibt nicht das letzte Wort, er bekommt geradezu ein Ziel. Und das liegt in der Transzendenz.
Das scheint mir, kurzgefasst, in dem Gedicht zu stehen.
Gruß
gliwi
Verfasst: 21. Feb 2007, 20:27
von stilz
Lieber Tobias,
nun --- natürlich denke auch ich bei diesem Gedicht an "Transzendenz".
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Allerdings denke ich nicht an "Eden" bei den "fernen Gärten". gliwi sagt ganz richtig, erstmal schauen, was dasteht:
Und da finde ich zunächst mal ein Bild, das man sich gut vorstellen kann: wenn im Herbst die Blätter vom Wind hoch aufgewirbelt werden, bevor sie schließlich langsam herunterschweben... von viel weiter oben als nur vom nächsten Baum... als stammten sie gar nicht von dieser Erde, sondern kämen direkt aus dem Himmel...
Was ich daran so "besonders" finde, ist der Gedanke, diese fallenden Blätter könnten
Welkendes aus himmlischen Gärten sein... daß also auch im Himmel ein Welken sein könnte... eine sehr "herbstliche" Vorstellung!
Normalerweise erblicke ich im herbstlichen Laubfall ein fast tröstliches Im-Einklang-Sein mit den Naturgesetzen... der Baum "weiß" darum, daß es Winter wird, und darum "beschließt" er sozusagen, die Blätter loszulassen, indem er zunächst die Nahrungsversorgung unterbindet, eine Grenze zieht zwischen Ast und Blatt... und das Blatt ergibt sich drein, schmückt sich in leuchtenden Farben für sein letztes Fest und übergibt sich schließlich der Schwerkraft... und so kann der Baum seine Kräfte in sich zurückziehen und sammeln für ein erneutes Austreiben im nächsten Frühjahr... das alles hat für mich, im Ganzen gesehen, etwas Frohes, Friedliches und damit auch sehr Tröstliches...
Aber bei Rilke steht nichts davon. Sondern da gibt es dabei eine
verneinende Gebärde. Und ich frage mich: was ist es, das "verneint" werden soll?
Bedeutet es einfach, daß die Blätter nicht fallen wollen? Daß sie sich damit den Naturgesetzen widersetzen wollen?
Oder soll es vielleicht sogar darauf hinweisen, daß das Fallen an und für sich eine "verneinende Gebärde" ist?
Dann würde das auch gelten für das Fallen, das in uns allen ist...
Und das verbindet sich in mir mit dem Gedanken an das "Welkende" in den "Himmeln": sogar die Vorstellung, daß es im Himmel "paradiesisch" zugehen muß, wird ins Wanken gebracht und muß vielleicht "fallen"...
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält
Für mich heißt das: ganz egal, was geschehen mag, auch wenn alles "fällt", wenn sogar die Hoffnung vergehen sollte, daß es irgendwo "dort oben" ein Paradies gibt, das niemals welken kann: es ist Einer da, der alles Fallen schließlich behutsam auffangen wird...
Dieser Eine, der unendlich Sanfte: er ist das einzige, das nicht fällt.
ToMi hat geschrieben:Kann man dann das Ganze so interpretieren, dass mit dem Tod eines jeden Menschen auch der mystische Traum des Erreichens der Transzendenz ein Stueck weiter wegrueckt (wenn auch nur scheinbar)?
fragst Du, Tobias. Ich weiß nicht, was Du unter dem "mystischen Traum des Erreichens der Transzendenz" verstehst. Für mich rückt seine Verwirklichung
näher mit dem Tod eines Menschen, denn dann kann er seine "fallenden" Anteile zurücklassen und, leicht geworden, emporsteigen...
Ich denke im Zusammenhang mit Fallen und Emporsteigen auch an
Abend
Der Abend wechselt langsam die Gewänder,
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;
du schaust: und von dir scheiden sich die Länder,
ein himmelfahrendes und eins, das fällt;
und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt -
und lassen dir (unsäglich zu entwirrn)
dein Leben bang und riesenhaft und reifend,
so daß es, bald begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.
ToMi hat geschrieben:Dann kann man auch die letzte Strophe im Bezug stehend dazu sehen, dass dieses Ziel im Tod dann doch durch Gott erreicht wird, da man sich immer noch in seiner Hand befindet und man nur scheinbar stirbt (das heisst in dieser Welt), oder?
Ganz genau so, würde ich sagen.
Lieben Gruß
Ingrid
P.S.: Über
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
möchte ich noch ein bißchen nachdenken. Was heißen diese Zeilen für Euch?
Verfasst: 22. Feb 2007, 00:17
von gliwi
Hallo Ingrid,
ich hatte schon gehofft, dass du mit hier einsteigst!
Zu deiner Frage: es ist ja wohl so, dass dieser kleine bewohnte Planet durch die beständige Ausdehnung des Alls irgendwohin treibt und dass seine Bewohner womöglich völlig alleine im All sind. Diesen Gedanken finde ich total deprimierend. Und da kommt nun Rilke und sagt. Wir treiben nicht ziellos durchs All, und wir sind nicht alleine. Einer, wie auch immer er/sie beschaffen sein mag, umfängt uns, empfängt uns, dessen bin ich gewiss. Selbst wenn man diese Gewissheit nicht teilt, hat diejenige Rilkes etwas Tröstliches. Villeicht umfängt uns ja doch einer? Ein kleines peut-être, wie ein anderer kluger Mann einmal gesagt hat.
Lieben Gruß
Christiane
Verfasst: 22. Feb 2007, 13:41
von stilz
Liebe Christiane,
Vielleicht umfängt uns ja doch einer? Ein kleines peut-être, wie ein anderer kluger Mann einmal gesagt hat.
Nun --- leider muß ich hier mal wieder meinen Mangel an Bildung gestehen

, bitte, sag mir doch auch noch,
welcher kluge Mann das gewesen ist!
Was ich so schön finde: gerade für Rilke, der so genau ist mit der Sprache, und der sich das "sachliche Sagen" zum Prinzip gemacht hat: gerade für ihn ist es eben
kein peut-être, sondern ein
wirkliches Sein (dabei denke ich an Nikolaus von Cues und seinen Begriff vom "Possest"...)
Denn bei dem Gedanken an das "Welken" der "Himmel" nimmt er den
coniunctivus irrealis, in den letzten beiden Zeilen des Gedichtes aber schenkt er uns die Gewißheit des
Indikativs. Und es gibt kein Fragezeichen.
Mir fällt dazu auch noch der Anfang des "Buches von der Pilgerschaft" ein:
Dich wundert nicht des Sturmes Wucht, -
du hast ihn wachsen sehn; -
die Bäume flüchten. Ihre Flucht
schafft schreitende Alleen.
Da weißt du, der vor dem sie fliehn
ist der, zu dem du gehst,
und deine Sinne singen ihn,
wenn du am Fenster stehst.
Des Sommers Wochen standen still,
es stieg der Bäume Blut;
jetzt fühlst du, daß es fallen will
in den der Alles tut.
Du glaubtest schon erkannt die Kraft,
als du die Frucht erfaßt,
jetzt wird sie wieder rätselhaft,
und du bist wieder Gast.
---
Dennoch: gerade wegen der sprachlichen Genauigkeit Rilkes bin ich noch immer nicht ganz zufrieden mit meinem Verständnis von
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Ich habe viele Fragen und Gedanken dazu...
Wie ist der Zusammenhang mit:
Einsamkeit
Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.
Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig von einander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:
dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen...
???
Danke, Tobias, für Deine Frage!
Ganz lieben Gruß
Ingrid
Verfasst: 22. Feb 2007, 23:10
von gliwi
Fußnote: Ich meine, es war Ernst Bloch. Würde ja auch passen zum "Prinzip Hoffnung".
Verfasst: 27. Feb 2007, 21:40
von helle
Der Gedanke, der zu Beginn dieses Themas geäußert, aber nicht weiter verfolgt wurde: "dass man das »weit« zeitlich auffassen koennte, und die fernen Gaerten des Himmels als die Kindheit ansehen koennte" läßt mich irgendwie nicht los. Ich finde das ebenso unbeweisbar wie schön. Beweisen ist bei der Interpretation von Gedichten meistens sowieso das falsche Wort, aber man kann seine Deutung natürlich versuchen plausibel zu machen. Wobei ToMi die Plausibilität seiner Deutung ja selbst in Zweifel zieht.
Tatsächlich ist das Adjektiv "weit" zunächst und zumeist eine räumliche Bestimmung, obwohl auch im Alltag immer wieder räumliche für zeitliche Begriffe (und umgekehrt) gebraucht werden, z.B. meint man meistens ein Geschehen in der Vergangenheit, wenn man "weit zurückliegend" sagt, auch wenn es von der Strecke her gedacht sein mag, und für so was gäb's viele Beispiele.
Um die anrührende Deutung von ToMi zu stützen, könnte man sagen, daß es mit der Logik im strengen Sinn in Rilkes "Herbst"-Gedicht sowieso nicht weit her ist. Da ist zwar sowas wie ein Weltgesetz des Fallens, dem der "Eine", Haltende entgegensteht, aber das ganze ist weder physikalisch noch biologisch noch theologisch ernsthaft begründbar, die Zeile "als welkten in den Himmeln ferne Gärten" steht auch nicht von ungefähr im Konjunktiv. Wieso ist die Erde "schwer" und "fällt in die Einsamkeit"? Das alles sind metaphorische Setzungen, die kein Äquivalent in der Wirklichkeit haben, sondern sich Wirklichkeit gewissermaßen selbst erzeugen, poetische Behauptungen.
Wenn man die fernen Gärten des Himmels als Kindheit versteht, müßte man die Blätter auch als Person oder Teil der Person verstehen. Es gibt ja auch Kirchenfenster, Rosetten, deren Blätter als erlöste Seelen gedeutet sind. Ich kriege es nicht richtig zusammen, aber das heißt ja nichts, vielleicht gelingt es anderen Forumsteilnehmern ja besser.
helle
Verfasst: 27. Feb 2007, 21:55
von gliwi
Hallo,
dazu passt m.E. auch wieder das berühmte Schlusswort Blochs aus dem "Prinzip Hoffnung": "...etwas, was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat." Aus dieser idealen Heimat könnten die Blätter fallen,,,
Gruß
gliwi
Verfasst: 27. Feb 2007, 22:55
von stilz
Ich danke Dir, gliwi, für's Aufmerksammachen auf Ernst Bloch! Das ist wunderschön.
Und nun noch eine Assoziation:
Es ist zwar nicht von Rilke, aber immerhin kannten die beiden einander... und es ist mir gleich eingefallen, als ich von Deiner, helle, Sehnsucht las, die "fernen Gärten in den Himmeln" als "Reich der Kindheit" zu deuten.
Ich beschäftige mich beruflich gerade mit den "Gesängen des späten Jahres" von Ernst Krenek, nach eigenen Texten.
Die letzten drei Lieder:
Vor dem Tod
Immer leiser verrinnst du, geliebtes Leben,
immer tiefer verzitterst in die unergründliche Höhle des Schlafs,
in den Abgrund gleichgültiger Natur,
und weißt den Schmerz nicht mehr, den du uns zufügst.
Nur ein Traumgetön abgetaner Höh'n ist dir unser Ruf,
denn immer schwächere Antwort
kommt aus dem Schattental deines Schlafs.
Schon ist geheimnisvoll anders die vielfach zermürbte Hülle,
verwandelndes Licht vernebelt die einsame Kerze,
ängstlicher tickt auf dem Tisch der wachende Wecker,
trauriger tropft durch die weinende Wand Musik ferne gespielten Klaviers.
Weiß und schnell fliegt durch hohe Wolken der kalte Mond,
bitteres Zeichen hinfliehender Erdenzeit und sehr ferner Gnade des anderen Reichs.
Der Augenblick
(Klavier solo, 5 Seiten lang, hier nur die Tempi:
Adagio... piu mosso... assai allegro... molto agitato... adagio dolce maestoso, molto tranquillo, dolcissimo senza espressione... )
attacca:
Der Genuß des Unendlichen
Einmal, einmal, in vielen hunderttausend Tagen oder Jahren,
werde ich vielleicht an Orte gelangen, die mein Auge nie gesehn.
Dort werden die Bilder der Kindheit aufgehoben sein zu lichterem Wesen,
aufbewahrt in unzerstörbarer Wirklichkeit.
In unverweslichem Glanz werden Wunschgebilde um mich stehn,
und unenttäuscht darf ich dem geliebten Schein trau'n.
Hoch auf Adlersflügeln zwischen schwingenden Glocken
fahr' ich durch den Raum des Unverwelklichen,
und dem ewig schweigenden Geiste unverlierbar anverbunden,
malt die gold'ne Phantasie ihre Gestalten an des Himmels bunte Scheiben
unerschöpflich, unermüdlich, hell und schuldlos wie kühles Glas
schwer von Fülle wie die hohen Sommer vor der Sünde,
unendlich, unendlich, unendlich.
(Unterstreichungen von stilz)
Lieben Gruß!
Ingrid
Verfasst: 28. Feb 2007, 14:05
von Andrea
Hallo zusammen,
zunächst möchte ich mich für die Gelegenheit bedanken, dass wir hier einmal einen genaueren Blick auf dieses Gedicht werfen, das ja so viele irgendwie selbstverständlich 'schön' finden, owbohl das Gedicht selbst offensichtlich alles andere als selbstverständlich ist.
Und ich halte es für keinen Zufall, dass Tobias gerade mit diesen frühen Zeilen Schwierigkeiten hatte:
"...fallen wie von weit
als welkten in den Himmeln ferne Gärten".
Ich glaube auch, ganz sicher sind die 'Himmel' hier transzendent gemeint. Um also zunächst nur am Text zu bleiben, finde ich es ganz bezeichnend (oder werde ich gerade zu trivial?), dass später wie ein Neuanfang das Gedicht sagt: "Wir alle fallen. (. . .) und sieh dir andre an: es ist in allen". Was hier also aus den Himmeln fällt, sind im Grunde wir Menschen. Denn es ist in 'alleN', und nicht in 'alleM'. Wir fallen also aus dem Himmel, wie Ingrid mit treffsicherer Intuition hinweist: "aus allen Sternen in die Einsamkeit". Wir kommen irgendwoher, aus den 'Himmeln', und fallen auf die Erde, in die Welt, und sind hier Einsame, will doch sagen: Einzelne.
Ist es nicht zunächst ein scheinbar trauries Bild, dass Rilke uns hier vorzeichnet? Alles Leben ist ein Gewelktes (sagt man so, falls nicht, pardon), und ein beständiges Fallen, eine pessimistische Weltsicht.
Bis hierhin, nur vom Text hergeholt, klingt das alls für mich sehr nach Schopenhauerianischer Willensmetaphysik: wir kommen aus dem Ur-Willen auf die Welt, als Zersplitterung des Willens, der sich hier gegen die anderen 'Willenssplitter', will sagen die anderen Lebewesen, die auch Teile des Ur-Willens in sich tragen, wenden muss.
Allerdings kommt hier ein entscheidender Zusatz, nämlich der Eine, "welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält".
Womöglich wird der Eine oder Andere meine Erklärung zu sehr gewollt und aufgedrückt finden. Was haltet ihr davon?
Verfasst: 2. Mär 2007, 21:05
von stilz
Ich habe viel darüber nachgedacht, was mit dem Begriff "schwere Erde" gemeint sein könnte:
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Du, Christiane, scheinst unter der "schweren Erde" unseren Planeten zu verstehen:
es ist ja wohl so, dass dieser kleine bewohnte Planet durch die beständige Ausdehnung des Alls irgendwohin treibt
Also wohl: unser Planet als Ganzes fällt in den Nächten in die Einsamkeit...
Bei Dir, Andrea, lese ich
Was hier also aus den Himmeln fällt, sind im Grunde wir Menschen. ... Wir fallen also aus dem Himmel, ... "aus allen Sternen in die Einsamkeit". Wir kommen irgendwoher, aus den 'Himmeln', und fallen auf die Erde, in die Welt, und sind hier Einsame, will doch sagen: Einzelne.
Also wohl: wir Menschen selber sind die "schwere Erde", die da ständig "aus allen Sternen" fällt...
Ich selber neige im Moment zu der Auffassung, daß diese "schwere Erde" zusammenhängt mit dem, was "Stein wird" in uns, im Sinne von
...dein Leben bang und riesenhaft und reifend,
so daß es, bald begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.
Es gibt vielleicht "Erde", die den Sternen "zu schwer" ist, die daher herunterfällt auf unsere Erde, die damit Teil wird von allem, was auf dieser Erde ist...
Ja. Und hier denke ich an die Neunte Elegie.
Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar
in uns erstehn? - Ist es dein Traum nicht,
einmal unsichtbar zu sein? - Erde! unsichtbar!
Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag
Das, was den Sternen "zu schwer" ist, das "fällt" auch in uns.
Aber wenn es uns gelingt, Anteile davon ins "Unsichtbare" zu "verwandeln", dann können diese leicht gewordenen Anteile zu dem werden, was Stern wird jede Nacht und steigt ...
Findet Ihr diese Heranziehung anderer Rilke-Texte zu weit hergeholt?
Lieben Gruß!
Ingrid
Verfasst: 3. Mär 2007, 15:10
von helle
Inzwischen kann ich das Herbst-Gedicht auswendig, so lang ist es ja auch nicht, und sage es mir gelegentlich auf, beim Einkaufen oder Wäscheaufhängen oder Nichtschlafenkönnen. Das Komische ist: man kann ein Gedicht noch so genau betrachten, aber selbst oder gerade beim mechanischen Repetieren sieht es doch wieder anders aus und es fallen einem neue Dinge auf. Z.B. die Zeilen, die stilz beschäftigen: "Und in den Nächten fällt die schwere Erde / aus allen Sternen in die Einsamkeit" – als geschähe dies also in der Regelmäßigkeit des Wechsels von Tag und Nacht. (Die "Erde" als Planet, das denke ich auch, nicht die Blumenerde und Ackerkrume) Am Tag fällt sie offenbar nicht, die "schwere Erde", ist sie vielleicht nicht einmal schwer. Vielleicht ist sie schwer, weil sie in die Einsamkeit fällt, vielleicht hat die Einsamkeit mit dem nächtlichen Dunkel zu tun, vielleicht ist die einsam machende Dunkelheit etwas schweres, auch schwer zu ertragendes. Lauter vielleichts: sicher scheint mir nur, daß eine Anthropomorphisierung oder auf deutsch Vermenschlichung darin steckt; es ist eben kein objektives physikalisches Geschehen, sondern durch die Empfindung des Geschehens aus Sicht des Sprechenden bestimmt. Wir deuten ein Gedicht, das die Welt deutet. Diese Subjektivität zeigt sich fast von Beginn an, schon durch das "wie" des Vergleichs in Z. 1, die Blätter fallen nicht von weit, sondern "wie" von weit, und die folgende Zeile "als welkten in den Himmeln ferne Gärten" setzt diese deutende Sichtweise fort und bekräftigt sie, und die wieder folgende Zeile mit der "verneinenden Gebärde" ebenfalls. Eine Gebärde kann man doch wohl nur zusprechen, nicht feststellen. Vielleicht kann man sich unter der verneinenden Gebärde das Phänomen vorstellen, daß Blätter kurz vorm Erreichen des Erdbodens noch einmal vom Wind aufgehoben werden (wie von Zauberhand), so als weigerten sie sich, sich endgültig von ihrer luftigen Existenz zu verabschieden und zur Schwere der Erde zu werden.
Soweit nun "meine 5 Pfennig". Die bewußte Subjektivität, die ich am "Herbst"-Gedicht unterstelle, hindert mich auch, das ganze vor einem philosophischen Hintergrund wie dem Pessimismus Schopenhauers zu verstehen, wofür es bestimmt gute Gründe geben mag, aber nicht, wenn man es von einer philosophisch so unprogrammatischen und intuitiven Gestalt wie Rilke her denkt.
Gruß
h.
Verfasst: 3. Mär 2007, 21:33
von gliwi
Gedanke zu "verneinende Gebärde": Ich sehe da immer die Könige des Oberuferer Dreikönigsspiels, die sagen: "Das von mir sei weit" und dabei mit der rechten Hand so nach schräg unten weisen. So fallen für mich die Blätter nach schräg unten, mit "verneinender Gebärde". (Dieses Spiel wird in den Waldorfschulen alljährlich aufgeführt).
Gruß
gliwi