Lieber Tobias,
nun --- natürlich denke auch ich bei diesem Gedicht an "Transzendenz".
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Allerdings denke ich nicht an "Eden" bei den "fernen Gärten". gliwi sagt ganz richtig, erstmal schauen, was dasteht:
Und da finde ich zunächst mal ein Bild, das man sich gut vorstellen kann: wenn im Herbst die Blätter vom Wind hoch aufgewirbelt werden, bevor sie schließlich langsam herunterschweben... von viel weiter oben als nur vom nächsten Baum... als stammten sie gar nicht von dieser Erde, sondern kämen direkt aus dem Himmel...
Was ich daran so "besonders" finde, ist der Gedanke, diese fallenden Blätter könnten
Welkendes aus himmlischen Gärten sein... daß also auch im Himmel ein Welken sein könnte... eine sehr "herbstliche" Vorstellung!
Normalerweise erblicke ich im herbstlichen Laubfall ein fast tröstliches Im-Einklang-Sein mit den Naturgesetzen... der Baum "weiß" darum, daß es Winter wird, und darum "beschließt" er sozusagen, die Blätter loszulassen, indem er zunächst die Nahrungsversorgung unterbindet, eine Grenze zieht zwischen Ast und Blatt... und das Blatt ergibt sich drein, schmückt sich in leuchtenden Farben für sein letztes Fest und übergibt sich schließlich der Schwerkraft... und so kann der Baum seine Kräfte in sich zurückziehen und sammeln für ein erneutes Austreiben im nächsten Frühjahr... das alles hat für mich, im Ganzen gesehen, etwas Frohes, Friedliches und damit auch sehr Tröstliches...
Aber bei Rilke steht nichts davon. Sondern da gibt es dabei eine
verneinende Gebärde. Und ich frage mich: was ist es, das "verneint" werden soll?
Bedeutet es einfach, daß die Blätter nicht fallen wollen? Daß sie sich damit den Naturgesetzen widersetzen wollen?
Oder soll es vielleicht sogar darauf hinweisen, daß das Fallen an und für sich eine "verneinende Gebärde" ist?
Dann würde das auch gelten für das Fallen, das in uns allen ist...
Und das verbindet sich in mir mit dem Gedanken an das "Welkende" in den "Himmeln": sogar die Vorstellung, daß es im Himmel "paradiesisch" zugehen muß, wird ins Wanken gebracht und muß vielleicht "fallen"...
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält
Für mich heißt das: ganz egal, was geschehen mag, auch wenn alles "fällt", wenn sogar die Hoffnung vergehen sollte, daß es irgendwo "dort oben" ein Paradies gibt, das niemals welken kann: es ist Einer da, der alles Fallen schließlich behutsam auffangen wird...
Dieser Eine, der unendlich Sanfte: er ist das einzige, das nicht fällt.
ToMi hat geschrieben:Kann man dann das Ganze so interpretieren, dass mit dem Tod eines jeden Menschen auch der mystische Traum des Erreichens der Transzendenz ein Stueck weiter wegrueckt (wenn auch nur scheinbar)?
fragst Du, Tobias. Ich weiß nicht, was Du unter dem "mystischen Traum des Erreichens der Transzendenz" verstehst. Für mich rückt seine Verwirklichung
näher mit dem Tod eines Menschen, denn dann kann er seine "fallenden" Anteile zurücklassen und, leicht geworden, emporsteigen...
Ich denke im Zusammenhang mit Fallen und Emporsteigen auch an
Abend
Der Abend wechselt langsam die Gewänder,
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;
du schaust: und von dir scheiden sich die Länder,
ein himmelfahrendes und eins, das fällt;
und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt -
und lassen dir (unsäglich zu entwirrn)
dein Leben bang und riesenhaft und reifend,
so daß es, bald begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.
ToMi hat geschrieben:Dann kann man auch die letzte Strophe im Bezug stehend dazu sehen, dass dieses Ziel im Tod dann doch durch Gott erreicht wird, da man sich immer noch in seiner Hand befindet und man nur scheinbar stirbt (das heisst in dieser Welt), oder?
Ganz genau so, würde ich sagen.
Lieben Gruß
Ingrid
P.S.: Über
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
möchte ich noch ein bißchen nachdenken. Was heißen diese Zeilen für Euch?
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)