Hallo Rotwinny,
nun auch noch ein paar Bemerkungen von mir:
Du sprichst vom „lyrischen Ich“ und vom „lyrischen Du“ --- so kommen diese Begriffe ja eigentlich nicht vor in dem Gedicht.
„Wir wollen“, schreibt Rilke, und nur ein einziges Mal, zu Beginn des Gedichtes.
Für mich ist das fast wie „Vorhang auf!“ im Theater. Wir, wir Menschen, der Dichter gemeinsam mit seinen Lesern, wollen dem nachspüren, was es bedeuten kann, in einer Mondnacht am Gitter eines städtischen Parks zu stehen.
Und wir wollen
„die Traurigkeit zu großer Stadt vergessen“.
Für mich ist das nicht „irgendeine“ Traurigkeit. Sondern es geht sehr konkret darum, daß die Stadt
„zu groß“ ist, sie faßt zu viele Menschen zusammen, allerdings zu einem nur
scheinbar Zusammengehörigen. Denn auch wenn sie Tür an Tür wohnen mögen, so sind sie einander doch nicht wirklich Nachbarn, wie man sie in Dörfern oder auch noch kleineren Städten findet, Nachbarn, die einander kennen, sich miteinander austauschen, einander mit Milch oder Zucker aushelfen oder auch mit größeren Diensten, wenn’s mal nötig sein sollte, Nachbarn, die eine Rolle spielen füreinander, wie es zB in den „Geschichten vom lieben Gott“ anklingt
(„Und sollte auch jemand anderer Meinung sein, die Autorität meines Nachbars ist mir maßgebend.“) oder auch, wenn auch weniger „schön“

, in der siebenten Elegie
(„Nur, wir vergessen so leicht, was der lachende Nachbar/uns nicht bestätigt oder beneidet.“) .
Zu große Städte kennen, wenn überhaupt, eine ganz andere Art von Nachbarschaft. In der
49. Aufzeichnung des „Malte“ kann man darüber nachlesen…
Von solcher Traurigkeit mag Ernst Krenek gesprochen haben in seinen „Gesängen des späten Jahres“, da heißt es:
„Rings um uns wachsen Mauern, täglich, stündlich, riesig. Am hellen Tage sind sie unsichtbar. Aber im Traum fühlen wir ihr Wachsen, Stein um Stein legt sich auf unsre Brust, …“
Wir können versuchen, das alles zu vergessen. Dazu müssen wir uns
„an das Gitter pressen“, eben weil wir in einer Stadt sind, in der es üblich ist, die Parks und Gärten am Abend abzusperren, und sogar auch die Springbrunnen abzudrehen.
Und wir müssen uns wirklich an das Gitter
pressen, denn erst dann sehen wir die Stäbe nicht mehr, die zwischen uns und dem nachts verbotenen Garten sind, erst dann können wir tief eintauchen in diese andere Wirklichkeit, die Wirklichkeit der Natur, die sich, wenn man sie in Ruhe läßt, nicht kümmert um irgendwelche Mauern, die Menschen zwischen sich wachsen lassen… hier gibt es noch „Nachbarschaft“,
„der Mond ist zu den Wiesen unterwegs“, und die Wege sind
„eines Ziels“...
Ein ganz eigenartiges Bild ist das der
„Figuren“, die sich
„leise aufzurichten“ scheinen. Und die
„lichten Gestalten an dem Eingang der Alleen“ sind nicht nur
„stiller“, sondern auch
„steinerner“ als am Tage…
Ich frage mich, ob das vielleicht zu bedeuten hat, daß sich die Statuen von der sie umgebenden Natur, den Bäumen, Teichen und Blumen, in stärkerem Maße unterscheiden als von den Menschengestalten in
„lichten Kleidern, Sommerhüten“, die sie tagsüber umgeben… ?
Über all dem Kritischen, das über eine solche „zu große“ Stadt gesagt werden kann, wollen wir allerdings nicht vergessen: dieser Park, mit seinen steinernen Statuen, den künstlichen Teichen und Springbrunnen - er ist gerade aus einer solchen Stadt gewachsen,
ohne sie gäbe es ihn nicht.
Ich denke an die erste Elegie
„Aber wir, die so große
Geheimnisse brauchen, denen aus Trauer so oft
seliger Fortschritt entspringt - ...“ und noch an ein anderes Zitat, das mir leider im Moment nicht einfällt (ich bin nichtmal sicher, ob es von Rilke ist), wo es darum geht, daß gerade dort, wo es Trauriges, Schweres, Schreckliches gibt, auch das "Helfende" wächst...
Soweit meine Gedanken zu diesem Gedicht.
Lieben Gruß,
stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)