Dieses Gedicht ist tatsächlich nicht ganz einfach zu verstehen (danke,
valumen, daß Du es wieder hervorgeholt hast!).
Bevor ich aber meine Gedanken dazu aufschreibe, möchte ich es erst einmal in der Gestalt hereinstellen, wie es in meinem Rilke-Band („Die Gedichte“, Insel) abgedruckt ist:
Jetzt wär es Zeit, daß Götter träten aus
bewohnten Dingen…
Und daß sie jede Wand in meinem Haus
umschlügen. Neue Seite. Nur der Wind,
den solches Blatt im Wenden würfe, reichte hin,
Die Luft, wie eine Scholle, umzuschaufeln:
ein neues Atemfeld. Oh Götter, Götter!
Ihr Oftgekommnen, Schläfer in den Dingen,
die heiter aufstehn, die sich an den Brunnen,
die wir vermuten, Hals und Antlitz waschen
und die ihr Ausgeruhtsein leicht hinzutun
zu dem, was voll scheint, unserm vollen Leben.
Noch einmal sei es euer Morgen, Götter.
Wir wiederholen. Ihr allein seid Ursprung.
Die Welt steht auf mit euch, und Anfang glänzt
An allen Bruchstelln unseres Mißlingens…
Das Gedicht steht auf S 834 f, im Abschnitt „Die Gedichte 1922 bis 1926“, und ich möchte auch noch die Gedichte und Bruchstücke hereinstellen, die sich unmittelbar davor und unmittelbar danach finden:
Unaufhaltsam, ich will die Bahn vollenden,
mich schreckt es, wenn mich ein Sterbliches hält.
Einmal hielt mich ein Schoß.
Ihm sich entringen, war tödlich:
ich rang mich ins Leben. Aber sind Arme so tief,
sind sie so fruchtbar, um ihnen
durch die beginnliche Not
neuer Geburt zu entgehn?
Schon etwas von dem Abschied schwebt und drängt,
schon flecken gelbe Blätter die Fontäne
wo Polyphem Verliebten überhängt;
der Himmel, stumm und irgendwie gekränkt,
leistet Verzicht auf die zu leichte Träne.
Lazar, da er aufstand, Lazar hatte / …
Bronzene Glocke, von eisernem Klöppel geschlagen,
hatte sein Herz einen unüberwindlichen Klang
Dann folgt eben
Es wäre Zeit, daß Götter träten aus…
und unmittelbar danach steht Rilkes Grabspruch;
Rose, oh reiner Widerspruch, Lust,
niemandes Schlaf zu sein unter soviel
Lidern.
Es ist sonst nicht meine Art, „biographisch“ zu interpretieren. In diesem Fall möchte ich da doch eine Ausnahme machen
(da auch solche Bruchstücke wie "Lazar" abgedruckt sind, handelt es sich wohl nicht um von Rilke autorisierte, sondern um posthume Veröffentlichungen?).
Mir erscheint der biographische Zusammenhang jedenfalls bedeutungsvoll, schon für die erste Zeile:
Jetzt wär es Zeit, ...
denn das deutet auf eine ganz bestimmte Zeit hin, auf ein Geschehen, das "jetzt" zu
erwarten wäre...
Man kann das natürlich auch im „Menschheitszusammenhang“ zu sehen versuchen.
Ich sehe es im Moment vor allem in Bezug auf Rilkes eigenes Leben, das an einem „
wendenden Punkt“ angelangt ist.
Rilke ist krank. Todkrank.
Auch die Passage
Und daß sie jede Wand in meinem Haus
umschlügen. Neue Seite.
läßt mich darauf schließen, daß in diesem Fall Rilkes eigenes umittelbares Erleben gemeint ist.
Was er ersehnt, ist ein „
neues Atemfeld“ – es wird für ihn immer mühsamer. die Luft, die ihn umgibt, zu atmen, sie müßte „
umgeschaufelt“ werden wie ein Acker.
Dazu brauchte es gewaltigen „
Wind“ --- einen Wind, wie er entstehen könnte, wenn die in den Dingen gefangenen Götter herausträten. – Dabei denke ich an die kabbalistische Vorstellung vom „Exil“ Gottes, der sich zurückgezogen hat, und daher ist auch der Mensch nun im „Exil“, im Raum ohne Gott; die „göttlichen Funken“ sind in den Dingen gefangen und harren der Erlösung…
„
Ihr Oftgekommnen“, schreibt Rilke.
Das berührt mich sehr --- ich denke dabei an seine „Ding-Gedichte“, seinen persönlichen Beitrag zur „Erlösung der in den Dingen gefangenen Götter“ – er konnte es wohl immer wieder erleben, wie diese Götter in begnadeten Momenten heiter aufstanden und ihr "
Ausgeruhtsein" zum Leben dazutaten, zu einem Leben, das doch auch davor schon „ganz“ zu sein schien, und erfüllt, ein „
volles Leben“ eben…
Nun scheint es, daß Rilke an einem Punkt seines Lebens angelangt ist, an dem ihm sehr bewußt wird, daß
ohne diese Götter sein Leben nicht „voll“ sein kann. Und er bittet:
Noch einmal sei es euer Morgen, Götter.
In den letzten Zeilen scheint sich das Bild, daß der Mensch, der Dichter, die Aufgabe hat, die Götter zu „erlösen“, umzukehren: die
Götter sind es nun, die Rilke bittet, aktiv zu werden.
Daraus spricht für mich eine Demut, die mich erinnert an
Vater. In Deine Hände befehle ich meinen Geist.
Aber diese Demut ist nicht hoffnungslos-resignativ, eben nicht mut-los
(ich gerate in Entzücken darüber, wie der „Mut“ drinsteckt in diesem Wort: „Demut“ --- kleiner Exkurs, den Ihr mir Sprachbe-geisterter verzeihen werdet
), denn zum Schluß wird die scheinbare Dunkelheit erhellt durch einen Glanz:
...und Anfang glänzt
an allen Bruchstelln unseres Mißlingens …
Ist das nicht wunderbar?
Mißlingen bedeutet gleichzeitig auch Anfangen, immer wieder den Mut zu haben, es zu versuchen… hier kehren meine Gedanken zurück zu dem viele Jahre zuvor in die Welt hinausgesandten „Stunden-Buch“:
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ja – diese Gedanken sind herrlich und tröstlich und Grund genug, das Leben zu preisen, das Leben, diese „
wunderliche Zeit“, von der Rilke einst schrieb:
Von allen großgewagten Existenzen,
kann eine glühender und kühner sein?
Lieben Gruß
stilz
P.S.: Die Vertonung kenne ich übrigens auch nicht.
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)