"Weibe" ??

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

Moderatoren: Thilo, stilz

Sina
Beiträge: 2
Registriert: 28. Mär 2006, 14:53

"Weibe" ??

Beitrag von Sina »

Ihr Lieben, mal wieder was für Spürnasen: Ich suche ein Gedicht, das Rilke 1898 geschrieben und Richard Dehmel gewidmet haben soll. Es beginnt mit der Zeile "Und reden sie dir jetzt von Schande". Laut Leppmann (Leppmann, Wolfgang. Rilke. Leben & Werk. VMA-Verlag. Wiesbaden 1981 und 1996) geht es in diesem Gedicht um das "Weibe". Villeicht kann sich jemand meiner armen Nerven erbarmen, die Google auf dem Gewissen hat, und mir mit ein paar Infos den Tag versüßen...
gliwi
Beiträge: 941
Registriert: 11. Nov 2002, 23:33
Wohnort: Ba-Wü

Beitrag von gliwi »

uiuiuiui, da hat er aber schwer in die Kitschkiste gegriffen, unser guter Rainer! Fast sträuben sich mir die Finger, das abzutippen. :roll:

Und reden sie dir jetzt von Schande,
da Schmerz und Sorge dich durchirrt, -
oh, lächle, Weib! Du stehst am Rande
des Wunders, das dich weihen wird.

Fühlst du in dir das scheue Schwellen,
und Leib und Seele wird dir weit -
oh, bete, Weib! Das sind die Wellen
der Ewigkeit.

Na, das wird ihr ja toll was genützt haben, das Beten. Da war Goethe mit seinem Gretchen irgendwie schon weiter. Würde mich sehr interessieren, ob sie, dieses Gedicht lesend, tatsächlich gelächelt hat oder ob sie sich aufgeregt hat über so viel männliche Ignoranz. :twisted:
Gruß
gliwi
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
.Sabine.
Beiträge: 114
Registriert: 7. Sep 2005, 22:32
Wohnort: Kaiserslautern

Beitrag von .Sabine. »

Hallo Christiane,

wieso hat Rilke dieses Gedicht Richard Dehmel gewidmet , das verstehe ich nun überhaupt nicht . Was hat Richard Dehmel damit zu tun, mit Rilkes Mutter ???
Kannst Du uns - trotz der "Schönheit" dieses Gedichts :P - darüber auch noch aufklären ?! Bitte, bitte :roll: !!!

Sabine :lol:
"Ich lerne sehen.... " (Rainer Maria Rilke)
gliwi
Beiträge: 941
Registriert: 11. Nov 2002, 23:33
Wohnort: Ba-Wü

Beitrag von gliwi »

Ja, liebe Sabine, woher soll ich das wissen? Und wie kommst du auf Rilkes Mutter? Wenn ich bei google nach Richard Dehmel suche, wird mir folgende Auskunft zuteil: " Im Mai 1899 heiratet er Paula Oppenheimer, die er schon 1886 kennenlernt und mit der er drei Kinder hat." Aber da kennt er schon Ida zukünftige Dehmel, für die er Paula sitzenlassen wird. Also schließe ich jetzt mal, das Gedicht bezieht sich auf die lange vor dieser Heirat mit dem ersten Kind schwangere Paula, der es als Rabinner-Tochter auch nicht an der Wiege gesungen wurde, dass sie mal ein "gefallenes Mädchen" sein würde. Aber Genaues weiß ich überhaupt nicht.
Danke für das Zutrauen!
gliwi
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
Sina
Beiträge: 2
Registriert: 28. Mär 2006, 14:53

Beitrag von Sina »

Liebe gliwi, nur eins also noch: Wie heißt denn dieses tolle Gedicht? Dank dir für die schnelle Antwort vorhin..
e.u.
Beiträge: 320
Registriert: 5. Jun 2003, 10:29

Beitrag von e.u. »

Hallo,
um 1900 war Richard Dehmel als "der Erotiker" unter den modernen deutschen Literatuen berühmt und skandalisiert. Vermutlich ist das der Grund für Rilkes Gedanken vom "Weibe".
Wenn man Dehmels damals wohl bekanntestes Gedicht 'Venus Consolatrix' (bei gutenberg.de vorhanden) nachliest, erscheint Rilkes Hommage an diesen Dichter nicht mehr ganz unverständlich. Übrigens hat sich Rilke in den 20er Jahren noch einmal ausführlich über Rilke geäußert (in einem Brief an die Gräfin Sizzo).
Ältere Literaturgeschichten feiern (meist etwas durch Metaphern verschleiert) gerade diese hymnische Art von Dehmels 'Frauen'-Lyrik, neuere Darstellungen lassen ihn fast zur Fußnote schrumpfen.
Aber ein Nachlesen ist nicht so uninteressant - das meinte wohl auch Rilke.
e.u.
gliwi
Beiträge: 941
Registriert: 11. Nov 2002, 23:33
Wohnort: Ba-Wü

Beitrag von gliwi »

Liebe Sabine,
es hat keinen Titel, sonst hätte ich ihn drübergeschrieben - trotz Fingersträubens. Es steht einfach so, mit fettgedrucktem Und, in meiner Insel-Ausgabe unter dem Obertitel ADVENT.
Lieber e.u., weißt du was darüber, ob es tatsächlich der Paula gilt? Denn ich vermute das ja nur.
Gruß
gliwi
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
e.u.
Beiträge: 320
Registriert: 5. Jun 2003, 10:29

Beitrag von e.u. »

Hallo gliwi,
das müsste der Richard Dehmel-Spezialist im Forum wissen. Ich weiß nur, dass Paula Dehmel nicht die einzige Frau war....
1996 brachte er die Sammlung 'Weib und Welt' heraus, danach 'verwandlugnen der Venus'. Damals war er (noch) mit Paula Dehmel verheiratet (die wunderbare Kinderbücher gemacht hat).
Aber das biographische ist bei Dehmel eigentlich no.
Doch für 1900 und Hamburg waren die Gedichte doch ziemlich riskant, nicht wahr?
Gruß von e.u.
Paula
Beiträge: 239
Registriert: 29. Feb 2004, 11:01

Beitrag von Paula »

Hallo,

bin zwar kein Dehmel-Experte, habe aber gerade in Stefan Schanks Buch - "Kindheitserfahrungen im Werk Rainer Maria Rilkes", St. Ingbert, 1995 -gelesen und er bezieht das Gedicht u.a. eindeutig auf Rilkes Verhältnis zu seiner Mutter.

Paula :lol:
gliwi
Beiträge: 941
Registriert: 11. Nov 2002, 23:33
Wohnort: Ba-Wü

Beitrag von gliwi »

Ja da kann ich mich jetzt nur noch Sabine anschließen und sagen: jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Wo ist der Zusammenhang zwischen Richard Dehmel und Rilkes Mutter? Rilkes Mutter hat doch wohl kein "Kind der Schande" erwartet, sondern war mit Rilkes Vater ordentlich verheiratet? Im Gegensatz zu Paula Dehmel, die wohl erst nach der Geburt ihrer drei Kinder von Dehmel geheiratet und dann bald wieder verlassen wurde. Das war schon eine bürgerliche "Schande", aber wo wäre die Schande bei Rilkes? Und wie kommt dann Dehmel überhaupt ins Spiel? Rätsel über Rätsel. :?: :?:
Gruß
gliwi
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
helle
Beiträge: 351
Registriert: 6. Mai 2005, 11:08
Wohnort: Norddeutsche Tiefebene

Beitrag von helle »

Die biographischen Bezüge – hat das was mit Rilkes Mutter oder Paula Dehmel zu tun – finde ich unerheblich. Ich habe mich schon bei anderen Rilketexten so geäußert und mich damit zwar nicht sehr beliebt gemacht, bleibe aber dabei. Entweder es ist ein Gedicht für die Öffentlichkeit, dann muß man es erst mal so verstehen, wie es dasteht, ohne Einfluß des ausgesparten biographischen Hintergrunds, oder es ist ein privates Gedicht, dann hätte der Autor es dazuschreiben müssen oder nicht veröffentlichen sollen. Ist es privat auf jemanden bezogen, der oder die nicht genannt wird, und man kann es eigentlich ohne diesen Hinweis nicht verstehen, der Autor hat's aber trotzdem veröffentlicht, dann ist es m.E. Dilettantismus.

Deshalb ist das "dir" und "du" "dich" erst mal das "Weib", und zielt auf etwas allgemeines. Auf was allerdings, da bin ich nicht so ganz sicher, vermutlich auf Schwangerschaft oder Gebären (auf die Entjungferung?). Die Rede von der Schande berührt doch wohl in jedem Fall das Beischlafen ohne die gesellschaftliche Konvention der Ehe, der gegenüber Rilke sozusagen die Natur, das Recht der Natur geltend macht. Etwas schwiemelig finde ich, daß diese natürliche oder kreatürliche Parteinahme im vorletzten Vers dann doch wieder durch Gebet und Frömmigkeit abgepolstert wird, obwohl Rilkes Frömmigkeit nicht christlich und institutionalisiert (schweres Wort) ist, aber das ist nun wieder ein weites Feld.

helle

übrigens heißt es "aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit", Kant wird sich was dabei gedacht haben.
stilz
Beiträge: 1243
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Beitrag von stilz »

Jetzt möchte ich mich auch noch dazu melden... vielleicht, um die Verwirrung komplett zu machen?

Ich stimme Dir, helle, zu, zunächst geht es um das Gedicht, wie wir es zu lesen kriegen, und nicht darum, aus welchen Gründen oder für wen es geschrieben wurde.
Auch ich hielte es für dilettantisch, ein Gedicht zu veröffentlichen, das nicht allein für sich stehen kann (und soll!).
Natürlich gibt es viele solcher "dilettantischen" Veröffentlichungen, die alle auch ihre Berechtigung haben mögen, sei es für das Verständnis einer bestimmten Zeit oder Situation, oder auch ganz einfach, weil der Autor damit etwas "loswerden" kann, sozusagen zu seiner Therapie.
Nichts davon scheint mir aber Rilkes Absicht gewesen zu sein, wenn es um seine Werke geht.
Wir sollten daher seine als Kunstwerke veröffentlichten Texte fein säuberlich trennen von allem, was er zB in seinen Briefen geschrieben hat (selbst wenn viele seiner Briefe sehr kunstvoll sein mögen).


Was in dem Gedicht betrachtet wird, ist die Situation, in der das "Weib" sich befindet. Und das ist zwar eine besondere, aber doch auch sehr allgemeingültige.
Es geht um "Schande" --- meiner Meinung ist damit nicht der Beischlaf gemeint, sondern das, was dabei herauskommt, nämlich: ein Kind zu haben ohne Ehe.

Und zuerst sehen wir, was die anderen reden - die "Schande" -, und dann, wie es im "Weibe" drin aussieht - "Schmerz und Sorge"... na, das sind ja alles sehr verständliche Dinge, und viele "Weiber" kommen in einer solchen Situation wohl gar nicht dazu, etwas anderes zu sehen.

Rilke aber schildert auch noch, was sonst noch da ist: nämlich das Wunder des Lebens, die Tatsache, daß da vertrauensvoll in "scheuem Schwellen" ein Kind im Weibe heranwächst... und es mag zwar für heutige Ohren etwas schwülstig klingen, dennoch kann ich es nachvollziehen, daß einem bei diesen Gedanken "ewig"oder "geweiht" zumute wird, und daß deshalb das Beten, natürlich unabhängig von einer institutionalisierten Religion oder Konfession, nicht mehr gar so fern ist...

Und anders als in den "Ding-Gedichten" bezieht Rilke hier eindeutig Position: er schildert nicht nur, was ist, sondern fordert das "Weib" geradezu auf, über die "Schande" hinauszublicken und das "Wunder" zu erkennen...


Das wäre erstmal das Gedicht, wenn ich es isoliert von biographischen Bezügen betrachte.
Aber ich finde, es sollte auch nicht irgendwie verboten sein, sich um die Hintergründe der Entstehung zu kümmern... vielleicht so ähnlich, wie man sich ja auch Dokumentationen ansieht über "The Making of...".

Und dazu möchte ich sagen: gerade weil es in diesem Gedicht um das Allgemeingültige dieser Situation geht, scheint mir der Bezug zu Rilkes Mutter bzw seinem Verhältnis zu ihr sehr verständlich: denn die Rolle, die Rilke selbst erlebt haben kann, das ist nunmal nur die des "scheuen Schwellens" im Mutterleib.


Liebe Grüße und frohe Ostern!

stilz
gliwi
Beiträge: 941
Registriert: 11. Nov 2002, 23:33
Wohnort: Ba-Wü

Beitrag von gliwi »

Also streiten wir mal. Beispiel: "Ich ging im Walde so für mich hin" von Goehte.
Kann es für sich alleine stehen? Ja, sicher , aber da wirkt es wie ein Kinderlied. So habe ich es als Kind auch aufgefasst. Aber seine richtige Bedeutung kriegt es doch erst, wenn man den biographischen Bezug kennt. Goehte wollte den zu Lebzeiten vielleicht nicht allen so deutlich unter die Nase reiben, sie haben ihm ja seine Entscheidung für das "Mädchen aus dem Volke" übel genug genommen.
Auf das Rilke-Gedicht sind wir ja erst durch die Frage nach einem eventuellen biographischen Bezug gekommen. Wenn eine solche Frage gestellt wird, ist es legitim, der nachzugehen. Das heiß nicht, dass bei jedem Gedicht zur Interpretation erst mal die Biographie hermuss.
Danke für den Fehlerhinweis :oops: , in meiner sonstigen Post habe ich es richtig stehen.
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
helle
Beiträge: 351
Registriert: 6. Mai 2005, 11:08
Wohnort: Norddeutsche Tiefebene

Beitrag von helle »

Es leuchtet mir ein, daß die Wendung vom "scheuen Schwellen" (das konnte auch nur RIlke einfallen) ein Hinweis auf die Schwangerschaft ist, vielen Dank. Ich will auch nicht weiter in dies sicher bescheidene Gedicht und seine biographischen Implikationen eindringen.

In einer Hinsicht bin anderer Auffassung als stliz, Rilkes Briefe sind doch oft als Kunstwerk stilisiert und klingen häufig wie eingraviert, wie Juweliersarbeit. Was schielt dieser Kerl auf Publikum und Nachwelt, ich will nicht den Mond anbellen, aber das finde ich grauenvoll.

Und damit wünscht schöne Ostertage auch
helle
gliwi
Beiträge: 941
Registriert: 11. Nov 2002, 23:33
Wohnort: Ba-Wü

Beitrag von gliwi »

Na, Helle, bist wohl nicht in Streitlust? Oder erst wieder nach Ostern? Jetzt erst mal "Vom Eise befreit..."! Allerdings passt das Wetter nicht dazu. Also trotzdem frohe Ostern allerseits. :D
Gruß
gliwi
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
Antworten