... durchs Porzellan des Abends (achte Duineser Elegie)

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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Anna B.
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... durchs Porzellan des Abends (achte Duineser Elegie)

Beitrag von Anna B. »

Hallo,

gerade lese ich die "Achte Duineser Elegie" und frage mich, was wohl folgendes bedeuten könnte :

"...Und wie bestürzt ist eins, das fliegen muß
und stammt aus einem Schooß. Wie vor sich selbst
erschreckt, durchzuckts die Luft, wie wenn ein Sprung
durch eine Tasse geht. So reißt die Spur
der Fledermaus durchs Porzellan des Abends...."


Es scheinen mehrere Bilder ineinander zu sein, aber wofür stehen sie ?
Was bedeutet dieser Vergleich ? Hatte Rilke einen konkreten Anhaltspunkt für diese Bilder ? Was fällt Euch dazu ein ? Gibt es weitere Ideen und Anregungen zu dieser Textstelle ?

Ich würde mich sehr freuen, wenn Ihr mir weiterhelfen könntet !

Liebe Grüße von Anna :lol:
stilz
Beiträge: 1226
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Beitrag von stilz »

Hallo,

dieses Bild erklärt sich für mich aus dem Vorangehenden:


Und doch ist in dem wachsam warmen Tier
Gewicht und Sorge einer großen Schwermut.
Denn ihm auch haftet immer an, was uns
oft überwältigt, - die Erinnerung,
als sei schon einmal das, wonach man drängt,
näher gewesen, treuer und sein Anschluß
unendlich zärtlich. Hier ist alles Abstand,
und dort wars Atem. Nach der ersten Heimat
ist ihm die zweite zwitterig und windig.
O Seligkeit der kleinen Kreatur,
die immer bleibt im Schooße, der sie austrug;
o Glück der Mücke, die noch innen hüpft,
selbst wenn sie Hochzeit hat: denn Schooß ist Alles.
Und sieh die halbe Sicherheit des Vogels,
der beinah beides weiß aus seinem Ursprung,
als wär er eine Seele der Etrusker,
aus einem Toten, den ein Raum empfing,
doch mit der ruhenden Figur als Deckel.
Und wie bestürzt ist eins, das fliegen muß
und stammt aus einem Schooß. Wie vor sich selbst
erschreckt, durchzuckts die Luft, wie wenn ein Sprung
durch eine Tasse geht. So reißt die Spur
der Fledermaus durchs Porzellan des Abends.



Das (Säuge-)Tier, ebenso wie der Mensch, hat vor dem Beginn des Lebens eine Zeit hinter sich, da es/er beschützt war, „unendlich zärtlich“ umgeben, geborgen… eben die Zeit im Mutterleib.
Rilke scheint mir zu sagen, daß eine Sehnsucht nach dieser frühen Geborgenheit einen niemals ganz verläßt, das ist die „große Schwermut“, die dem Tier immer noch anhaftet, und das läßt es – ebenso wie uns! - in seiner „zweiten Heimat“, nämlich hier draußen in der Welt, wo „alles Abstand ist“, irgendwie fremd sein, unsicher, hier ist es „zwitterig und windig“…
Insekten hingegen haben keine Zeit im Schoß hinter sich, sie sind von Anfang an hier draußen, alles hier ist ihnen von Beginn an vertraut --- und daher ist es für sie ein Leichtes, zu vertrauen, so sehr, daß sie ohne Schwierigkeiten fliegen können…
Ebenso die Vögel – Rilke spricht von ihrer „halben Sicherheit“ und daß der Vogel „beinah beides weiß aus seinem Ursprung“ --- für mich heißt das: der Vogel kommt aus dem Ei in diese Welt, dieses Ei bietet zwar auch einen gewissen Schutz, eine Geborgenheit… aber eben nicht ganz so wie der Mutterleib, daher ist der Unterschied zwischen „drinnen“ und „draußen“ für ihn nicht so groß wie für uns, er kann sich schnell in die neue Umgebung eingewöhnen, und auch der Vogel hat keine Schwierigkeiten, zu fliegen…

Tja, und dann kommt Rilke zu den Säugetieren, die aus einem Schoß stammen und dennoch fliegen, „bestürzt“, „vor sich selbst erschreckt“, die Luft „durchzuckend“… und es ist doch auch oft so, an milden Abenden, die wie „Porzellan“ sind – plötzlich erschrickt man vor einer Fledermaus, die irgendwie unheimlich, wenn nicht gar unnatürlich daherzukommen scheint…


Liebe Grüße!

stilz
stilz
Beiträge: 1226
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Beitrag von stilz »

P.S.:

noch ein kleiner Nachtrag zu

als wär er eine Seele der Etrusker,
aus einem Toten, den ein Raum empfing,
doch mit der ruhenden Figur als Deckel.


Die Etrusker glaubten, daß nach dem Tode ein "kleines Ich" weiterlebt (daher auch die kostbaren Grabbeigaben); dieses "kleine Ich" könnte Rilke im Sinn gehabt haben, es kommt schließlich "aus einem Toten, den ein Raum (= Sarg) empfing"... eine ähnliche Situation wie ein Küken, das in einem Ei ist?

Nochmal liebe Grüße,

stilz
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