Hallo Sebastian,
ich will eine Antwort versuchen:
R.M. Rilkes (philosophisches) Lebensthema war eigentlich - wenn ich es richtig verstehe - die Welt in ihrem Zusammenhang zu erfassen, eine Ganzheitlichkeit zu finden, er nannte es auch Weltinnenraum. Modern könnte man dazu auch Ökologie sagen . Alles in der Welt steht im Zusammenhang miteinander und bedingt sich gegenseitig. Er steht damit auch in einer philosophischen Tradition . Der Künstler hat die Aufgabe, die Welt, die Materie - wobei ich dazu auch die Natur und die Weltabläufe zähle - zu erfassen und zu gestalten, sichtbar zu machen .
Rilke konzipierte den "Malte" als Synthese kurzer gedichtartiger Texte - ähnlich Baudelaires "Petites poemes en prose". Wichtig ist dabei die Thematik des "Sehen-Lernens", des "Sehens" als Erkennen, Wahrnehmen und das - unwillkürliche - "Sich-Erinnern". (Achte einmal im "Malte" auf das Wort "Sehen"!) Dabei ist das Sehen-Lernen weniger von einer objektiven Wirklichkeit , den Dingen, dem Ding gerecht zu werden bestimmt, sondern eher von der existentiellen Notwendigkeit eines umfassenden Daseinsverständnisses, welches die Integration aller äußeren Gegebenheiten, zeitlicher und räumlicher Dimension, mit allen seelischen-geistigen Kräften anstrebt. Dieses versteht Rilke als überindividuellen, exemplarischen Vorgang. Die Vermittlung zwischen Ich und Welt geschieht hier durch Gleichsetzung des Persönlichen mit Allgemeingültigem. Bezug in der Philosophie findet man zb bei Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. Die Begegnungen Maltes , oft ohne kausalen, chronologischen, motivischen Zusammenhang , spiegeln Maltes Inneres wieder. Sie treten so auf, wie sie von Malte momentartig wahrgenommen werden. Rilke schreibt dazu am 10.11.1925 an den polnischen Übersetzer Witold Hulewicz: "Im "Malte" kann nicht davon die Rede sein, die vielfältigen Evokationen zu präzisieren und zu verselbstständigen. Der Leser kommuniziere nicht mit ihrer geschichtlichen oder imaginären Realität sondern durch sie, mit Maltes Erlebnis: der sich ja nur mit ihnen einläßt , wie man, auf der Straße , einen Vorübergehenden, wie man einen Nachbarn etwa auf sich wirken läßt. Die Verbindung beruht in dem Umstande, daß die gerade Heraufbeschworenen dieselbe Schwingungszahl der Lebensintensität aufweisen, die eben in Maltes Wesen vibriert...so verlangt es auch den jungen M. L. Brigge das fortwährend ins Unsichtbare sich zurückziehende Leben über Erscheinungen und Bilder sich faßlich zu machen; er findet diese bald in den eigenen Kindheits-Erinnerungen, bald in seiner Pariser Umgebung, bald in den Reminiszenzen seiner Belesenheit. Und es hat alles das, wo es auch erfahren sein mag , dieselbe Wertigkeit für ihn, dieselbe Dauer und Gegenwart.... " (nach: Breuninger, S. 193f.)
Im Sehen - Erkennen - Sagen wird der Zusammenhang deutlich des Subjekts, des Individuums im Weltzusammenhang, dabei aber im Sehen von Dingen, die ihm scheinbar zufällig begegnen . Das Gewicht liegt bei Dingen , die einfach von sich aus Da sind und damit in-sich Wirklich/Wahrhaftig sind. Die Dinge dringen in ihn ein, ohne dass Malte bestimmen könnte, was und wie es in ihn eindringt. Dadurch entsteht auch die besondere Prosa des Romans in der Unverbundenheit, Doppelpunkte... Ich denke dabei auch an andere Großstadtromane wie A. Döblin: Berlin Alexanderplatz oder auch J.Joyce: Ulysees... Malte ist (nur) Durchgang für alles von ihm Wahrgenommene. Er hat keine Heimat . "Ich lerne sehen. Ich weiss nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht dorthin. Ich weiss nicht, was dort geschieht." (R.M. Rilke: "Malte", nach: Breuninger, S. 199).
Beispiele für das Gesagte sind im "Malte" zb in der Episode mit dem blinden Blumenkohlverkäufer, den Bildern der abgelegten Gesichter, des Tod, Kleid, der offenen Hausmauer, dem Sterbenden in der Cremerie sowie dem Erlebnis mit dem Epileptiker.
Malte stellt in den grossen Fragen die Weltgeschichte in Frage und meint, da er dieses als Einziger erkannt habe, die Weltgeschichte zu korrigieren und neu leisten zu müssen. Dieser entgleitende Wirklichkeitsbezug war aber Symptom dieser ganzen Epoche, also eine historische Tatsache, was sich auch in der Philosophie dieser Zeit widerspiegelt (Nietzsche u.a.).
Zum Schluss noch ein Literaturtipp: in Renate Breuningers Buch: Wirklichkeit in der Dichtung Rilkes, Frankfurt a. Main, 1991 findet sich ein grosses Kapitel dazu in Bezug auch auf den "Malte". Darauf beziehen sich auch die Angaben meiner Zitate oben.
Es wäre schön, wenn sich auch andere hier im Forum noch zu dieser Frage äußern würden. Vielleicht können wir eines der genannten Beispiele auch noch etwas genauer ansehen gemeinsam im Gedanken-Austausch?
Und: Sebastian, ich bin noch ziemlich neu in der Beschäftigung mit R.M. Rilke. Es gibt sicher auch die "Experten" hier im Forum ...
Viele Grüße und alles Gute fürs Abi,
Barbara
