Liebe Anika,
also, zuerst hier nochmal der Text:
Einmal nahm ich zwischen meine Hände
dein Gesicht. Der Mond fiel darauf ein.
Unbegreiflichster der Gegenstände
unter überfließendem Gewein.
Wie ein williges, das still besteht,
beinah war es wie ein Ding zu halten.
Und doch war kein Wesen in der kalten
Nacht, das mir unendlicher entgeht.
O da strömen wir zu diesen Stellen,
drängen in die kleine Oberfläche
alle Wellen unsres Herzens,
Lust und Schwäche,
und wem halten wir sie schließlich hin?
Ach dem Fremden, der uns mißverstanden,
ach dem andern, den wir niemals fanden,
denen Knechten, die uns banden,
Frühlingswinden, die damit entschwanden,
und der Stille, der Verliererin.
Du bittest um eine „Übersetzung“ der letzten beiden Strophen, insbesondere fragst Du:
„Zu welchen Stellen wird hingeströmt?“ und „Welche Verliererin ist gemeint?“
Offenbar habe ich mich
hier nicht klar genug ausgedrückt: diese »Stellen«, zu denen wir (will heißen: unser „Inneres“) »hinströmen« --- das sind für mich eben unsere
Gesichter. Diese kleinen Teile unserer Hautoberfläche, die – vermittels unseres Gesichts-ausdrucks – »alle Wellen unsres Herzens« sichtbar machen (wenn wir nicht gerade ein pokerface aufsetzen)...
Und wir »halten es hin«, unser Gesicht: nackt und schutzlos (jedenfalls wenn wir nicht verschleiert sind) geben wir es den Blicken anderer preis, denen des »Fremden, der uns mißverstanden« und auch denen des anderen Menschen, der uns vielleicht hätte nah sein können, den wir aber dennoch »niemals fanden«; den Blicken all der Menschen, die uns in irgendeiner Weise Fesseln angelegt haben im Leben, »die uns banden«... und nicht nur
Menschen halten wir unser Gesicht hin, mit dem Ausdruck unserer innersten Lust und all unserer Schwäche. Auch dem »Frühlingswind« halten wir es hin – und er »entschwindet«: was mag er mitnehmen von der Berührung mit unserem Gesicht?
Und schließlich halten wir unser Gesicht auch der »Stille« hin. Sie ist es, die im letzten Satz als »Verliererin« bezeichnet ist.
Was mag Rilke damit meinen?
Ich empfinde es so: unser Gesichtsausdruck scheint nach einem Gegenüber zu verlangen, einem anderen Gesicht, in dem wir uns gewissermaßen „spiegeln“ können, sodaß es eine Art „Echo“ gibt (selbst wenn es oft ein
verzerrtes „Spiegelbild“, ein
entstelltes „Echo“ sein mag) …
Die Stille aber gibt kein solches Echo. In ihr scheint sich alles, was wir in diese kleine Stelle unserer Hautoberfläche hineingetragen haben, zu
verlieren...
Dieses Gedicht stammt aus dem Jahr 1913.
Ich denke auch an das Gedicht
Die Stille aus dem einige Jahre davor entstandenen „Buch der Bilder“. Hier heißt es noch (Hervorhebung von mir):
- ...
Der Abdruck meiner kleinsten Bewegung
bleibt in der seidenen Stille sichtbar;
unvernichtbar drückt die geringste Erregung
in den gespannten Vorhang der Ferne sich ein.
...
Und ich frage mich: was mag für Rilke der Unterschied sein zwischen dieser »geringsten Erregung«, die »unvernichtbar« bleibt, und demjenigen, das die Stille
verliert?
Ich hoffe, diese Zeilen können Dir ein wenig weiterhelfen.
Herzlichen Gruß,
stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)