Lieber Vito,
danke für Deine Bemerkungen zu John Donne, nun begreife ich viel besser, was Du meinst; ich wußte bisher kaum etwas über John Donne und hatte keine Ahnung von seiner „Höllenfurcht“ - und ich muß auch sagen, ich lese in seinem Sonett, das Du hereingestellt hast, eigentlich nicht das, was ich mir unter „Höllenfurcht“ vorstelle.
Ich werde darüber nachdenken.
Es interessiert mich wirklich, was dahinterstecken mag, daß man ein Gedicht
liebt, obwohl man das, was
inhaltlich darin zum Ausdruck kommt, im Grunde
ablehnt. Ich kenne das von mir selber, glaube ich, nicht - jedenfalls hab ich bisher noch niemals darüber nachgedacht (und es wäre mir wohl aufgefallen).
Aber zuerst nochmal zu Rilke:
lilaloufan hat geschrieben:
Nun suche ich das, was Dir, Vito, wie eine philosophische Behauptung aussieht.
Also - ich denke, es ist wohl vor allem die letzte Strophe des Gedichtes, die wie eine „philosophische Behauptung“ aussieht:
- Als die, die wir sind, als die Treibenden,
gelten wir doch bei bleibenden
Kräften als göttlicher Brauch.
Wird hier nicht postuliert, erstens, daß es „bleibende Kräfte“
gibt, zweitens, daß bei ebendiesen „bleibenden Kräften“
wir als „göttlicher Brauch“ gelten, und zwar offenbar gerade weil wir nicht die „Bleibenden“ sind, sondern die „Treibenden“?
Lieber Vito, Du fragst, ob man diese „philosophische Behauptung“
ernst nehmen müsse.
Nun also - ich kann natürlich nicht sagen, was jemand „muß“; aber ich versuche für mich eine Antwort auf diese Frage.
Rilke malt hier ein sehr interessantes und ungewöhnliches Bild: die „bleibenden Kräfte“ - ich verstehe sie als ein „Göttlich-Geistiges“, und ich denke dabei an den „Engel“ (von dem Rilke ja auch in anderen Gedichten spricht), und auch an die anderen „himmlischen Heerscharen“, die sogenannten
„Hierarchien“ .
Wenn man von der Existenz solcher „göttlich-geistiger Wesen“ ausgehen will, dann ist es noch nichts Ungewöhnliches, sich diese geistigen Hierarchien als „bleibend“ vorzustellen im Vergleich zu uns Vergänglichen, „Schwindenden“ (wie Rilke an anderer Stelle sagt). Und es ist mir auch unmittelbar einsichtig, wieso wir hier auf Erden als „Treibende“ beschrieben werden im Vergleich zu der als „in sich ruhend“ vorgestellten Schar der „himmlischen Wesen“. Das ist ein Bild, an das heute natürlich niemand
glauben muß, das uns aber wohl in unserer „westlichen Kulturgemeinschaft“ (deren Teil Rilke ist) relativ
vertraut ist, gleich ob wir mit oder ohne „Glaubensbekenntnis“ aufgewachsen und sozialisiert sind.
Das Ungewöhnliche in Rilkes Bild ist nun das, was ich versuchsweise die „Inversion des Göttlichen“ nennen möchte.
Rilke wechselt sozusagen den Standpunkt und betrachtet den gesamten Kosmos nicht nur als vergänglicher, „treibender“, „schwindender“
Mensch, sondern auch durch die „Augen“ des
Engels.
Und da kehrt sich etwas um: Vom Engel aus gesehen, sagt Rilke, sind
wir, gerade wir „Treibenden“ hier auf Erden, der „göttliche Brauch“.
Eine ähnliche „Umkehrung“ findet sich auch in der Gebärde am Ende der siebenten Elegie, nach der Du, Vito, schon früher einmal
gefragt hast.
Ich kann nun nicht sagen, ob diese Imagination Rilkes eine „philosophische Behauptung“ ist. Ich würde mir jedenfalls sehr schwer damit tun, ihre „Richtigkeit“ zu „beweisen.
Aber ich fühle: das ist ein wirklich
erhabenes Bild, das in mir ersteht, wenn ich versuche, mich in Rilkes Worte „einzuleben“.
Ja. Ich entscheide mich dafür, sie
ernst zu nehmen - was für mich nicht dasselbe ist, wie sie als
unumstößliche Wahrheit anzusehen.
Und ich bemerke: schon wenn ich diesen Gedanken für
möglich halte, verändert sich etwas für mich. Alles, was ich künftig denke, spreche, tu, hat
möglicherweise nicht nur eine rein irdisch-persönliche Bedeutung, sondern gleichzeitig auch eine „kosmische“... und ich fühle daher so etwas wie eine „gesteigerte Verantwortung“...
Und - auch das spielt für mich
als Leser eine Rolle, wenn ich auch nicht behaupten will, daß es für Rilke
als Dichter eine gespielt haben muß: einmal ganz unabhängig davon, ob das, was Rilke hier „behauptet“, nun „wahr“ ist oder nicht: wenn ich mir unsere derzeitige Welt so anschaue - ist es nicht gerade „gesteigertes Verantwortungsgefühl“, das an allen Ecken und Enden zu fehlen scheint?
Herzlichen Gruß!
Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)