Ihr Lieben - meine Internet-Verbindung versagt seit gestern Abend, und ich habe inzwischen eine laaaaaange Erwiderung auf lilaloufans vorletzten Beitrag hier geschrieben, die poste ich jetzt mal (auch wenn wir uns damit nochmal weit vom Atmen-Gedicht entfernen...)
lilaloufan hat geschrieben:Wäre “PARS PRO TOTO“ nicht auch Rilke gegenüber eine statthafte Haltung, um Rilke zu „verstehen“ als jenes „Durchgängige in der Erscheinung“ sowohl seines Lebens wie seines Werks?
Lieber lilaloufan,
also -
das wäre mir nun tatsächlich ein unbehaglicher Gedanke, wenn eine solche Haltung allgemein als „statthaft“ anerkannt werden sollte.
Deine Bilder von der Eiche und der Zypresse sind eindrucksvoll, und auch dem, was Goethe über Pflanze und Tier sagt, möchte ich keinesfalls widersprechen.
Allerdings sehe ich zwei bedeutsame Unterschiede, wenn es um das Erkennen des „Durchgängigen“ bei einem bestimmten
Menschen gehen soll:
Erstens: das Erkennen einer Eiche als Eiche bzw eines Wolfs als Wolf, trotz der Verschiedenheit einzelner Bäume bzw Tiere, trotz Laubfall oder Winterfell - das stützt sich ja nicht nur auf das in einem gegebenen Augenblick am einzelnen Baum bzw Tier Wahrnehmbare, sondern auch auf die bisherigen Erfahrungen mit
anderen Exemplaren derselben Gattung.
Und ich finde es tatsächlich nicht „statthaft“, zu versuchen, aufgrund der Erfahrungen mit
anderen Exemplaren der Gattung „Mensch“ im „
pars pro toto“-Verfahren auf das „Durchgängige“
eines bestimmten individuellen Menschen zu schließen... (und sagt nicht sogar jener Herausgeber
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an anderer Stelle, jeder Mensch wäre gewissermaßen „eine Gattung für sich“?)
Und zweitens ist es meiner Ansicht nach beim Menschen einfach nicht genug, die beiden Faktoren „innere Natur“ und „äußere Umstände“ als
einzige „Bildungsgesetze“ anzusehen: wollte man das tun, bliebe kein Raum mehr für
Freiheit --- und gerade die Freiheit, auch
gegen die bisherige „innere Natur“ zu handeln, macht meiner Überzeugung nach den wesentlichen Unterschied aus zwischen Mensch und Tier.
Der Mensch ist imstande, „Wendungen“ zu machen, die
ganz neu sind und niemandem, auch ihm selbst nicht, vorhersehbar. Er
tut es natürlich nicht immer, viele Menschen verhalten sich im Gegenteil sehr vorhersehbar - dennoch: der Mensch ist prinzipiell dazu imstande, mit Recht von sich zu sagen:
Siehe, ich mache alles neu.
Natürlich begreife ich dennoch, trotz aller Unbehaglichkeiten, was Du meinst. Und ich bin auch ganz überzeugt davon, daß es in jedem Menschenschicksal ein „Durchgängiges“
gibt, das sich
prinzipiell erkennen läßt.
Aber kommt es nicht sehr darauf an,
wer es ist, der sich um die Erkenntnis dieses „Durchgängigen“ bemüht?: ist es der jeweilige Mensch
selber, der in einem besinnlichen Augenblick Rückschau hält auf sein bisheriges Leben? Oder ist es der „
starke, stille, an den Rand gestellte Leuchter“, der, von dem Rilke sagt „
Die tiefen Himmel stehn ihm voll Gestalten, und jede kann ihm rufen: komm, erkenn –.“?
In
diesen Fällen mag ein
pars pro toto genügen.
Wenn aber ein
anderer Mensch sich diese Frage stellt, wird sie ihm meiner Ansicht nach
Frage bleiben müssen.
Das heißt nicht, daß es nicht möglich wäre, einzelne Bruchstücke, auf die man stößt, einer bestimmter Individualität richtig zuzuordnen. Friedrich Torberg („Die Erben der Tante Jolesch“, S98f) erzählt von seiner Verblüffung, als Alfred Adler das Kunststück gelang, jeden einzelnen der zehn seiner Sektretärin spontan diktierten Texte schon nach flüchtigem Überfliegen dem jeweiligen Urheber richtig zuzuordnen (sogar obwohl einige dieser Urheber sich nach Kräften bemühten, Adler zu täuschen - dazu meinte er nur:
„Man erkennt einen Menschen an seiner Lüge genau so gut wie an seiner Wahrheit.“) - und auch ich erlebe es ja beispielsweise hier im Forum, daß ich den Urheber eines postings erkenne (manchmal sogar dann, wenn er unter einem anderen nickname oder überhaupt in einem ganz anderen Forum auftaucht
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)...
Ich denke auch daran, daß Karl Kraus im Gedicht "Winterliche Stanzen" Rilke erkannt hat, am Wort "leisten"...
Selbstverständlich ist so etwas sogar sehr leicht möglich.
Aber die Frage danach, was genau nun das „Durchgängige“ in einem „Gesamtwerk“ ist, ist schon noch eine andere, finde ich.
Und jemand, der sich ernsthaft die Frage nach dem „Durchgängigen in der Erscheinung der Rilke-Gedichte
{als Gesamt-Werk!}" vorlegt, wird meiner Ansicht nach um das Bemühen nicht herumkommen, ALLE Gedichte so genau wie möglich zu begreifen.
Wenn ich nicht mehr, gleich, wie gründlich ich mich bisher schon mit Rilke beschäftigt haben mag, auch in Zukunft prinzipiell ergebnisoffen auf jedes einzelne Gedicht zugehen wollte, bereit, mich jederzeit auch überraschen lassen, weil Rilke ANDERS ist, als ich bisher gedacht habe --- dann würde ich etwas falsch machen. Da bin ich mir ganz sicher.
Wenn es also jemals eine
pars-pro-toto-Beurteilung Rilkes bzw seines Gesamtwerkes geben sollte, dann müßte sie erstens schon wirklich seeeeeeehr gut begründet sein, um mich zu überzeugen, und zweitens würde ich sie, trotz ihrer möglichen Überzeugungskraft, dennoch an jedem Wort, das ich bei Rilke selber lese, erneut überprüfen wollen. Denn ich möchte mich wirklich sehr hüten davor, einem Rilke-Gedicht ein „Durchgängiges“, das ich erkannt zu haben glaube, überzustülpen, und dadurch möglicherweise gerade
das in diesem Gedicht zu versäumen, das ANDERS ist, als ich es erwartet habe.
Also, wie gesagt: der Gedanke, eine
pars-pro-toto-Beurteilung könnte als „statthaft“ angesehen werden, ist mir wirklich sehr unbehaglich.
Gar nicht so sehr deshalb, weil ich es für ganz unmöglich halte, dabei zu wirklichkeitsgemäßen Ergebnissen zu kommen.
Aber halt, weil ich meine, etwas „Durchgängiges“ zu erkennen überall dort, wo
irgendetwas sich einmal als „statthaft“ etabliert hat
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: wie schnell bilden sich da „Regeln“ heraus, die man sich „anzuwenden“ gewöhnt - und wie schnell (je mehr „Erfolge“ zu verzeichnen sind, desto schneller!) wachsen dann solche „Regeln“ zu einer „Struktur“ heran, die die ursprüngliche Frage (nämlich die danach,
was Rilke geschaut hat) so sehr überwuchert, daß es immer schwieriger wird, sie zu erkennen...
Ich halte es also hier mit Joseph Roth, der (hab ich heut im Radio gehört) folgenden Ratschlag für Zeitungsleser gab:
Vertrauen Sie nur den Fragezeichen.
---
Und nun noch:
lilaloufan hat geschrieben:Das Wesentliche mag für die Augen unsichtbar sein; das hat uns Antoine de Saint-Exupéry an mehr als nur den allzuoft zitierten Stellen bestätigt. Das „Bestimmte“, auch in „Atmen…“ besteht aus solcherart Unsichtbaren, das hingegen durchaus nicht un-erfahrbar sein muss. Und schon gar nicht ein Beliebiges je sein wird.
Danke. Ja, gerade
so meinte ich es.
Und:
vivic hat geschrieben:Mein Widerstand gegen dein Absolutismus, Stilz ("jedes Gedicht etwas ganz bestimmtes", usw) stammt davon, das ich es nicht fuer gut finde, sein Werk als einen heiligen Text zu lesen, wo man nichts kritisieren kann, und zu dem nur die heilig eingeweihten eingeladen sind.
Oh - lieber Vito, das liegt mir wirklich seeehr
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fern, Rilkes Gedichte als "heilige Texte" zu lesen, an denen man nichts kritisieren darf!
Nein - so hab ich's nicht gemeint.
"Etwas Bestimmtes" zu sagen - das ist ja auch gar nicht immer
besser, als "etwas Unbestimmtes" zu sagen.
Ich habe halt bisher die Erfahrung gemacht, daß die Versuchung sehr groß ist, etwas, das man nicht sofort ganz klar und deutlich verstehen kann, als "unbestimmt" zu bezeichnen, statt weiter danach zu fragen, was gemeint sein könnte.
Ebenso groß ist diese Versuchung übrigens auch in der Musik - wenn ich eine Stelle zu singen habe, die sich mir nicht sofort erschließt, wäre es einfach, zu denken, "Na, also hier hätte der Komponist wirklich anders komponieren sollen, dann wäre es klarer". Allerdings habe ich es oft erlebt, daß gerade diese zunächst unverständliche, sogar auch unangenehme Stelle zur "Schlüsselstelle" avanciert, wenn ich
nicht aufgebe, sondern beharrlich weiterfrage: "Wie müßte die Welt sein, damit das, was hier zu lesen ist, vollkommen klar und einfach ist?" oder sogar: "Wie müßte
ich sein, damit das, was hier steht, spontan als einzig Mögliches aus mir heraussprudelt?"
Wie gesagt: das bedeutet noch nicht, daß es in der wirklichen, von mir selbst im "real life" erlebbaren Welt "wahr" ist, was hier steht.
Das wäre dann erst die
nächste Frage - bei deren Beantwortung es sehr hinderlich wäre, wenn ich Rilke einen "Heiligenschein" aufsetzen wollte.
Und zum Schluß:
vivic hat geschrieben:Stilz mag sich wohl freuen, diesen Figuren zu glauben. Das genuegt, wenn es ihr wirklich hilft, das Gedicht zu erleuchten. Mir hilft es in diesem Falle mehr, die Beziehungen zu anderen Gedichte zu eroertern, um eine Uebersicht zu bekommen, was eigentlich Atmen, und Baueme, in Rilke's Leben und Werk konnotierten. Und siehe, da sind wir ans ganze Werk angelangt...
Ganz und gar einverstanden.
Ich will ja doch gar nicht einer Figur glauben, um mich daran zu erfreuen; es ist mir sehr viel wichtiger, auch weiterhin
Fragen zu stellen... und selbstverständlich auch andere Gedichte dazu zu befragen...
So - nun ist es wohl wirklich genug für heute.
Internet, einstweilen wieder ade...
Herzlichen Gruß,
Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)