Atmen, du unsichtbares Gedicht

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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lilaloufan
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von lilaloufan »

vivic hat geschrieben:Er war vielleicht …
Vielleicht.
Rilke hat geschrieben:… wenn ich wäre,
wäre ich die Mitte im Gedicht;
das Genaue, dem das ungefähre,
ungefühlte Leben widerspricht.
Lieber vivic, ich warte jetzt doch mal, wie auf Deinen Beitrag hier eingegangen werden wird.

Liebe Grüße,
l.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
stilz
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!

Beitrag von stilz »

Danke, Christoph, für den Satz
lilaloufan hat geschrieben: Ich finde beim späten Rilke ausnahmslos nur solches Rühmen, das ausgeht von gewissenhaftestem Anschaun.
Ja.
Ganz genau so sehe ich es auch.
Ich bin wirklich ganz überzeugt davon, daß Rilke in jedem seiner Gedichte etwas Bestimmtes meint.
Und was mich interessiert, ist nun nicht nur, wie Rilke das ausgedrückt hat, was er geschaut hat.
Sondern ich mache mich auch auf die Suche nach dem, was Rilke geschaut hat.
Und zwar zunächst einmal ganz unabhängig davon, ob das "wahr" ist, was Rilke gesehen hat. Das ist dann eine zweite Frage - und erst hier bin ich als Leser aufgefordert, in mich hineinzusehen und zu erforschen, was ich selbst sehen kann, wenn ich in die von Rilke gewiesene Richtung blicke. Erst hier sind mir als Leser selbstverständlich alle Möglichkeiten offen...
vivic hat geschrieben: Die Diskussion wird viel komplizierter wenn wir ALLE Gedichte Rilkes zusammen befragen: was wird da ausgedrueckt? Was hat der Dichter ueberhaupt in seinem Lebenswerk ausdruecken wollen? Solch eine Frage ueberhaupt zu unternehmen, nimmt doch an, dass der gute R sich nie wesentlich entwickelt habe. Da wuerde ich einmal das Gedicht WENDUNG ernst nehmen.
Lieber Vito - nun würde ich keineswegs behaupten, daß Rilke in jedem seiner Gedichte DASSELBE ausdrückt. Es ist wie bei den Ding-Gedichten: der Panther ist der Panther, die Blaue Hortensie ist die Blaue Hortensie - zwischen den beiden gibt es beträchtliche Unterschiede, nicht wahr? Es kommt auch im "Nicht-Dinglichen" darauf an, wohin man blickt.

Die Frage nach dem, was ALLE Gedichte Rilkes zusammen ausdrücken, wäre dann noch eine ganz andere Frage... die selbstverständlich alle WENDUNGen mit einbeziehen müßte, und die allerdings zur Voraussetzung hätte, daß man sich erstmal über ALLE, also JEDES EINZELNE seiner Gedichte klargeworden ist.


Und noch zu dem Sonett "Sieh den Himmel. ..."
vivic hat geschrieben: Dieses ist in der Rilke-Literatur oft erwaehnt als ein Hinweis, dass Rilke nicht IMMER seine Gedanken oder Konstruktionen ganz absolut nimmt. Hier laesst er ganz nett den Leser die Moeglichkeit: vielleicht gefaellt es dir, SO zu spielen, vielleicht klappt das fuer dich, aber vielleicht auch nicht, man muss sich nicht an irgend einer Interpretation festhalten.
Also - ich kenne kaum Sekundärliteratur zu Rilke, aber ich muß schon sagen: das wundert mich seeeeeehr, daß gerade dieses Gedicht als Beleg dafür genommen wird, Rilke lasse dem Leser offen, wie er es "interpretieren" will.
Ich sehe nicht, daß Rilke hier "ganz nett" :wink: dem Leser Möglichkeiten offenläßt.
Sondern ich sehe auch hier, gerade hier, eine präzise Schilderung dessen, was Rilke sieht.

Wie wir aus dem berühmten Brief an Kappus wissen, geht es Rilke nicht in erster Linie um Antworten, sondern darum, die Fragen zu leben.
Das sehe ich als den Grund dafür, daß es Fragen gibt in seinen Gedichten.
Sie beziehen sich auf die Fragen, die Rilke lebt - und nicht auf die Antwortmöglichkeiten, die er dem Leser offenlassen will.

Herzlichen Gruß!
Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
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lilaloufan
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von lilaloufan »

Ja, vielen Dank @stilz, dass Du diese Ansicht so klar darstellst:
stilz hat geschrieben:Ich bin wirklich ganz überzeugt davon, daß Rilke in jedem seiner Gedichte etwas Bestimmtes meint.
Und was mich interessiert, ist nun nicht nur, wie Rilke das ausgedrückt hat, was er geschaut hat.
Sondern ich mache mich auch auf die Suche nach dem, was Rilke geschaut hat.
Und zwar zunächst einmal ganz unabhängig davon, ob das "wahr" ist, was Rilke gesehen hat. Das ist dann eine zweite Frage - und erst hier bin ich als Leser aufgefordert, in mich hineinzusehen und zu erforschen, was ich selbst sehen kann, wenn ich in die von Rilke gewiesene Richtung blicke. Erst hier sind mir als Leser selbstverständlich alle Möglichkeiten offen...
Ganz genau so sehe ich das auch an.
Aber einem Satz will ich, so wie ich Dich zunächst verstehe und wie ich es bislang ansehe, widersprechen:
stilz hat geschrieben:Die Frage nach dem, was ALLE Gedichte Rilkes zusammen ausdrücken, wäre dann noch eine ganz andere Frage... die selbstverständlich alle WENDUNGen mit einbeziehen müßte, und die allerdings zur Voraussetzung hätte, daß man sich erstmal über ALLE, also JEDES EINZELNE seiner Gedichte klargeworden ist.
Vielleicht hast Du ein bisschen überzogen: „Alle“ – „JEDES EINZELNE“

Ich habe freilich nicht den „ganzen“ Goethe verstanden, wenn ich in »Dichtung und Wahrheit« den Jugendstreich lese, wie der kleine Wolfgang die irdenen Gefäße aus dem Fenster warf:
  • „Es war eben Topfmarkt gewesen, und man hatte nicht allein die Küche für die nächste Zeit mit solchen Waren versorgt, sondern auch uns Kindern dergleichen Geschirr im kleinen zu spielender Beschäftigung eingekauft. An einem schönen Nachmittag, da alles ruhig im Hause war, trieb ich im Geräms mit meinen Schüsseln und Töpfen mein Wesen, und da weiter nichts dabei herauskommen wollte, warf ich ein Geschirr auf die Straße und freute mich, daß es so lustig zerbrach. Die von Ochsenstein, welche sahen, wie ich mich daran ergetzte, daß ich so gar fröhlich in die Händchen patschte, riefen: »Noch mehr!« Ich säumte nicht, sogleich einen Topf, und auf immer fortwährendes Rufen: »Noch mehr!« nach und nach sämtliche Schüsselchen, Tiegelchen, Kännchen gegen das Pflaster zu schleudern. Meine Nachbarn fuhren fort, ihren Beifall zu bezeigen, und ich war höchlich froh, ihnen Vergnügen zu machen. Mein Vorrat aber war aufgezehrt, und sie riefen immer: »Noch mehr!« Ich eilte daher stracks in die Küche und holte die irdenen Teller, welche nun freilich im Zerbrechen noch ein lustigeres Schauspiel gaben; und so lief ich hin und wider, brachte einen Teller nach dem andern, wie ich sie auf dem Topfbrett der Reihe nach erreichen konnte, und weil sich jene gar nicht zufrieden gaben, so stürzte ich alles, was ich von Geschirr erschleppen konnte, in gleiches Verderben. Nur später erschien jemand, zu hindern und zu wehren. Das Unglück war geschehen, und man hatte für so viel zerbrochene Töpferware wenigstens eine lustige Geschichte, an der sich besonders die schalkischen Urheber bis an ihr Lebensende ergetzten.“
Wahrscheinlich hab’ ich ihn auch dann noch nicht als Goethe-Individualität verstanden, wenn ich sein gesamtes Werk gelesen hab’:

Die Forderung stünde da, auch seine Biographie noch zu kennen und zu deuten, die Krankheitsepochen in seinem Lebensgang, die Reise-Eindrücke, die Begegnungen mit Weimarer Geistesgrößen, die Liebschaften und was nicht alles.

Wie aber, wenn es gelänge, im Sinne von PARS PRO TOTO im Detail das Ganze zu sehen?

Der Herausgeber der Kürschnerschen Ausgabe von Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften geht 1918 daran, anhand Goethes »Märchen von der grünen Schlange und der Lilie« „Goethes Geistesart” nachzuspüren, und es will gelingen! Ohne Reduktion, und zugleich ohne fiktive Zutat.

Wäre “PARS PRO TOTO“ nicht auch Rilke gegenüber eine statthafte Haltung, um Rilke zu „verstehen“ als jenes „Durchgängige in der Erscheinung“ sowohl seines Lebens wie seines Werks?

Neinnein, ich meine nicht ein willkürliches „Herauspicken“ womöglich irgendeines ihm selbst zweifelhaften Frühwerks - oder gar des eigenen „Lieblingsgedichts“!

PARS PRO TOTO heißt für mich etwas anderes; es heißt Phänomenologie zu betreiben im hingebungsvollsten Sinne: im Leben und im Werk die Spur desselben zu schauen, die Verlaufsgestalt.

Anhand von Baumbildern hatte ich das verbildlichen wollen:
Hier: <Link_1> habe ich einen solchen Baum vor mir. Ist es nun das grüne Frühlingskleid, das mir sagt, wer dieser Baum ist, welche Aussage ihm abzuspüren ist über seine Wesensart? Oder das sommerliche Blühen? Die Laubfärbung in der Zeit der Saatreife? Das entblätterte, unverhüllte Winterbild? Was charakterisiert diesen Baum als unverwechselbar? Was geht hindurch durch das Wandel-, das WENDUNGS-Geschehen im Jahreslauf? Da gibt es doch ein Durchgängiges in der Erscheinung – bei diesem Baum auch für den botanischen Laien sofort erkennbar, wenn er ihn vergleichen soll mit folgender Baumreihe aus Veronas Giardino Giusti, in der Goethe die Zypressen bewundert hat: <Link_2>

Was ist solches Durchgängige in der Erscheinung der Rilke-Gedichte {als Gesamt-Werk!}?

Das ist weder etwa die Frage, was wollte Rilke in einer Art Manier in allen seinen Gedichten sagen?
Noch legt eine solche Frage nahe, man müsse ausnahmslos jede Gedichtzeile kennengelernt und gar analysiert haben.

Aber das, liebe Ingrid, willst Du ja auch überhaupt nicht be-haupten.
Eigentlich will ich nur sagen: Man könnte Dich so missverstehen.

Für diejenigen, die zu dem hier Vorgebrachten noch ein paar Sätze lesen wollen aus der Feder des oben erwähnten Goethe-Herausgebers, füge ich die als Anhang bei. Da handelt es sich um Erläuterungen zu dem hier aufgegriffenen Begriff des „Durchgängigen“ – auch wenn dieser Terminus in dem Text gar nicht vorkommt.

Liebe Grüße,
l.



――――――――――――
„Wer nun aber die organischen Formen für wandelbar ansieht, an den tritt die Aufgabe heran: die zu einer Zeit tatsächlich bestehenden zu erklären, das heißt die Ursachen anzugeben, warum sich unter den von ihm vorausgesetzten Verhältnissen doch bestimmte Formen entwickeln und ferner jene: den Zusammenhang dieser bestehenden Formen untereinander darzulegen.

Dies war Goethe vollständig klar, und wir ersehen aus den hinterlassenen Papieren, daß er bei der beabsichtigten Weiterführung seiner morphologischen Arbeiten daran dachte, seine Anschauungen nach dieser Richtung hin auszugestalten. So enthält ein Schema zu einer «Physiologie der Pflanzen» folgendes:

«Die Metamorphose der Pflanzen, der Grund einer Physiologie derselben. Sie zeigt uns die Gesetze, wonach die Pflanzen gebildet werden.

Sie macht uns auf ein doppeltes Gesetz aufmerksam:
  • 1. Auf das Gesetz der innern Natur, wodurch die Pflanzen konstituiert werden.
    2. Auf das Gesetz der äußern Umstände, wodurch die Pflanzen modifiziert werden.


Die botanische Wissenschaft macht uns die mannigfaltige Bildung der Pflanze und ihrer Teile bekannt, und von der andern Seite sucht sie die Gesetze dieser Bildung auf.

Wenn nun die Bemühungen, die große Menge der Pflanzen in ein System zu ordnen, nur dann den höchsten Grad des Beifalls verdienen, wenn sie notwendig sind, die unveränderlichsten Teile von den mehr oder weniger zufälligen und veränderlichen abzusondern und dadurch die nächste Verwandtschaft der verschiedenen Geschlechter immer mehr und mehr ins Licht setzen: so sind die Bemühungen gewiß auch lobenswert, welche das Gesetz zu erkennen trachten, wonach jene Bildungen hervorgebracht werden; und wenn es gleich scheint, daß die menschliche Natur weder die unendliche Mannigfaltigkeit der Organisation fassen, noch das Gesetz, wonach sie wirkt, deutlich begreifen kann, so ist's doch schön, alle Kräfte aufzubieten und von beiden Seiten, sowohl durch Erfahrung als durch Nachdenken, dieses Feld zu erweitern.»

Jede bestimmte Pflanzen- und Tierform ist nach Goethes Auffassungsweise also aus zwei Faktoren zu erklären: aus dem Gesetz der innern Natur und aus dem Gesetz der Umstände. Da nun aber diese Umstände an einem bestimmten Orte und in einer bestimmten Zeit eben gegebene sind, die sich innerhalb gewisser Grenzen nicht verändern, so ist es auch erklärlich, daß die organischen Formen innerhalb dieser Grenzen konstante bleiben. Denn diejenigen Formen, die unter jenen Umständen möglich sind, finden eben in den einmal entstandenen Wesen ihren Ausdruck. Neue Formen können nur durch eine Veränderung dieser Umstände bewirkt werden. Dann aber haben diese neuen Umstände nicht allein sich dem Gesetze des Inneren der organischen Natur zu fügen, sondern auch mit den schon entstandenen Formen zu rechnen, denen sie gegenübertreten. Denn was in der Natur einmal entstanden ist, erweist sich fortan in dem Tatsachenzusammenhange als mitwirkende Ursache. Daraus ergibt sich aber, daß den einmal entstandenen Formen eine gewisse Kraft, sich zu erhalten, innewohnen wird.

(…)

Die angeführte Stelle [aus einem Vortrag Goethes über Wachsthum und Fortpflanzung l.] ist aber noch in anderer Beziehung bemerkenswert. Goethe spricht darinnen von einem «organischen Ganzen», aus dem sich die einzelnen Individuen absondern und ablösen. Dieses zu verstehen, nennt er die «höchste Ansicht organischer Einheit».

Damit ist die Summe alles organischen Lebens als einheitliche Totalität bezeichnet, und alle Einzelwesen sind dann nur als Glieder dieser Einheit zu bezeichnen. Wir haben es somit mit einer durchgängigen Verwandtschaft aller Lebewesen im wahrsten Sinne des Wortes zu tun. Und zwar mit einer tatsächlichen Verwandtschaft, nicht einer bloß ideellen. Die «organische Ganzheit» ist eine einheitliche, die in sich die Kraft hat, ihresgleichen in immerwährender äußerer Veränderung hervorzubringen; die Mannigfaltigkeit der Formen entsteht, indem sie diese Hervorbringungsfähigkeit nicht nur über Individuen, sondern auch über Gattungen und Arten hinaus fortsetzt.

Es ist nur im genauen Sinne der Goetheschen Ausführungen, wenn man sagt: die Kraft, durch welche die verschiedenen Pflanzenfamilien entstehen, ist genau dieselbe wie jene, durch welche ein Stengelblatt sich in ein Blumenblatt verwandelt. Und zwar ist diese Kraft durchaus als reale Einheit und das Hervorgehen der einen Art aus der andern durchaus im realen Sinne vorzustellen. Die organischen Arten und Gattungen sind auf eine wahrhafte Deszendenz unter fortwährender Veränderung der Formen zurückzuführen. Goethes Anschauung ist eine Deszendenztheorie mit einer tiefen theoretischen Grundlage.

Man darf nun aber keineswegs denken, daß die folgenden Entwickelungsformen in den früheren schon angedeutet liegen. Denn, was sich durch alle Formen hindurchzieht, ist eben die ideelle organische Gesetzlichkeit, bei der von jenen Formen gar nicht gesprochen werden kann. Gerade weil das Wesen des Organischen mit der Art, wie es in Formen auftritt, nichts zu tun hat, kann es sich in denselben realisieren, ohne sie aus sich heraus zu wickeln. Die organische Wesenheit bildet die Form nicht aus sich heraus, sondern sich in dieselbe hinein. Deswegen kann diesen Formen keinerlei Präexistenz, auch nicht der Anlage nach, zukommen. Goethe war deshalb ein Gegner jener Einschachtelungslehre, welche annahm, daß die ganze Mannigfaltigkeit des Organischen schon im Keime, aber verborgen, enthalten sei.

«Dieses Viele in Einem sukzessiv und als eine Einschachtelung zu denken, ist eine unvollkommene und der Einbildungskraft wie dem Verstand nicht gemäße Vorstellung, aber eine Entwickelung im höhern Sinne müssen wir zugeben: das Viele im Einzelnen, am Einzelnen; und setzt uns (so) nicht mehr in Verlegenheit.»

Entwickelung besteht eben darinnen, daß sich eine Einheit fortbildet und daß die Formen, die sie dabei annimmt, als etwas ganz Neues an ihr auftreten. Dies rührt daher, weil diese Formen nicht dem einheitlichen Entwickelungsprinzipe angehören, sondern dem Mittel, dessen sich dasselbe bedient, um sich zu manifestieren. Die Entwickelungsformen müssen alle ideell aus der Einheit erklärbar sein, wenn sie auch nicht reell aus derselben hervorgehen.
[Hervorh. l.]
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vivic
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von vivic »

Stilz, Lilaloufan, alles sehr interessant, vielleicht, wie Stilz schreiben wuerde, sogar seeeehr! Ich habe besonders die Baueme genossen, Lilaloufan, und das Material ueber Goethe. Bin gerade beschaeftigt meine sehr bescheidenen Kenntnisse der Klassiker zu ergaenzen, habe endlich Wilhelm Meisters Lehrjahre gelesen. Sonst kenne ich bei Goethe nur manche Gedichte, Werther, Wahlverwandtschaften und Faust I. Was sind sonst seine wichtigsten Buecher? Etwa Gespraeche mit Eckermann? Oder die Dramen??

In unserer Diskussion sind wir ja weit vom Atmen... Gedicht gewandert, und ich werde sehr leicht verwirrt in den metaphysischen Hochgebirge. Ich lese Rilke's Zeilen ueber Bestimmtheit und Genauigkeit als ein Ausdruck eines Ideals, nach dem er immer strebte, und dieser Ausdruck ist selber ein Gedicht, wie Lilaloufan es uns zitierte. Ob er das Ideal in jedem einzelnen Gedicht erreicht hat? Wuerde er das selber sagen? Bescheiden war er ja nicht gerade, hatte es auch nicht noetig, aber er hat doch seine fruehen Werke kritisiert, hatte manches Vorbehalt auch fuer viele Seiten des Stundenbuchs, und als er Buch der Bilder und Neue Gedichte zur gleichen Zeit zusammenstellte, hat er manchmal die weniger "genauen" Gedichte ins Bilderbuch gesetzt. So ist es in meiner Erinnerung, kann nichts genau zitieren. Aber das ist ja alles nebenbei.

Das Wichtige bei uns hier ist doch, wie nuetzlich ist der Begriff der Genauigkeit oder Bestimmtheit wenn wir ehrlich versuchen, ein raetselhafte Gedicht zu verstehen? Und da habe ich Zweifel. Dieses sind ja selber Metapher, Gleichnisse, oder "Figuren." Der Wetterbericht kann ziemlich genau eintreffen, oder ein Anzug kann mir genau passen. Ich kann an einen "ganz bestimmten" Hund denken, nicht an einen allgemeinen Hund, sondern an der Lulu, der man den Schwanz gekuerzt hat. Aber fuer was suche ich denn, wenn ich in dem Atmen... Gedicht fuer etwas "genaues" oder "ganz bestimmtes" suche das irgendwie hinter dem Gedicht steckt? Koennten da nicht etwa zwei oder drei "Bedeutungen" sein? Steckt da wirklich ein einzelnes "Ding" dahinter, das Rilke innerlich "angeschaut" hat? Das sind wiederum Metaphern; oder Metaphysik. Stilz mag sich wohl freuen, diesen Figuren zu glauben. Das genuegt, wenn es ihr wirklich hilft, das Gedicht zu erleuchten. Mir hilft es in diesem Falle mehr, die Beziehungen zu anderen Gedichte zu eroertern, um eine Uebersicht zu bekommen, was eigentlich Atmen, und Baueme, in Rilke's Leben und Werk konnotierten. Und siehe, da sind wir ans ganze Werk angelangt...

R ist bei Weitem der groesste Dichter den ich kenne. Aber er war ein Mensch, und hatte auch seine Schwaechen. Mein Widerstand gegen dein Absolutismus, Stilz ("jedes Gedicht etwas ganz bestimmtes", usw) stammt davon, das ich es nicht fuer gut finde, sein Werk als einen heiligen Text zu lesen, wo man nichts kritisieren kann, und zu dem nur die heilig eingeweihten eingeladen sind. So werde ich mich zusammenraffen und es tapfer und laut sagen: das Atmen... Gedicht ist NICHT eines seiner besten Gedichte, obwohl ich es sehr gern atme und laut lese. Der ploetzliche Baum in den letzten Zeilen ist verwirrend fuer sehr viele ernste Leser. Es waere besser gewesen, beim Atmen zu bleiben; DANN waere das Gedicht eine Einheit, und wirklich etwas Bestimmtes.

Na. I hope this presumption will not get me excommunicated, or scorned as a "Literaturkonsument"!!!

Smiles to all of you.

Vito
Zuletzt geändert von vivic am 23. Nov 2011, 20:04, insgesamt 1-mal geändert.
Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert Stellen ist es noch Ursprung.
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lilaloufan
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von lilaloufan »

Keine Sorge Vito, nicht Hohn noch Verdammnis haben wir hier zur Hand :), sondern freies Geistesleben im offensten Sinne: Konkurrenz der Ideen! – Und zu Deinem von mir verlockten Exkurs zu Goethe:
vivic hat geschrieben:Was sind sonst seine wichtigsten Buecher?
kann ich nur Goethe selber befragen, und er empfand seine Farbenlehre als sein wichtigstes Werk!

Ob nun dieses oder jenes Rilke-Gedicht einen „ersten Preis“ gewinnt ist mir so schnurzegal wie die Schlager-Hitparade (so hießen damals die "Charts") der 60-er Jahre, Hans-Joachim Kulenkampffs Quiz-Show und die Winner-List des Vorort-Kegelvereins, und wenn überhaupt Bücher verboten werden sollten, dann solche, auf deren Deckeln steht: "Best of…"

Ganz sicher ist die Frage nach dem aesthetischen Superlativ, nach dem Sich-Selbst-Übertreffen des Kulturschaffenden, die unangemessenste Frage überhaupt: Die Frage nach künstlerischer, dichterischer Meisterschaft ist eine ganz andere; sie wird sich aller Skalierung sperren.

Ich habe den Eindruck, wenn Du stilz des Absolutismus zeihst, hast Du noch nicht ganz das verstanden, was hier mit „Be-stimmt-heit“ eigentlich gemeint ist. Es ist kein "Konzept" übrigens, sondern eine Erfahrung:

Also ein „bestimmter“ Hund ist durchaus nicht Nachbars "Lulu, der man den Schwanz gekuerzt hat".

Freilich hat Rilke im Jardin du Luxembourg einen „bestimmten“ Panther betrachtet, beobachtet, sich in ihn versenkt gewissermaßen. Aber mit dem „bestimmten“ Panther meine ich nicht den damals gesehenen, der heute längst Kadaver ist. Stilz spricht an entscheidenden Stellen nicht von „Sehen“ im Sinne von Angucken, wenn das auch sicher die erste Voraussetzung ist. Sie spricht von etwas anderem (stilz, irre ich mich?):

Hier:
stilz hat geschrieben:Und was mich interessiert, ist nun nicht nur, wie Rilke das ausgedrückt hat, was er geschaut hat.
Sondern ich mache mich auch auf die Suche nach dem, was Rilke geschaut hat.
Das Wesentliche mag für die Augen unsichtbar sein; das hat uns Antoine de Saint-Exupéry an mehr als nur den allzuoft zitierten Stellen bestätigt. Das „Bestimmte“, auch in „Atmen…“ besteht aus solcherart Unsichtbaren, das hingegen durchaus nicht un-erfahrbar sein muss. Und schon gar nicht ein Beliebiges je sein wird.

Allein deswegen steht da nicht „Atem, das…“, sondern „Atmen, du…“. Exakte Intuition!

Und in diesem Sinne meint „Baum“ den Baum. Nicht Kants Baum „an sich“, sondern das Geschaute.

Neinnein, Vito, das ist nicht Metaphorik noch Metaphysik, das ist Dichtung. „Heiligen Text“ will ich's nicht genannt haben – aber in verehrender Stimmung werde ich vielleicht tatsächlich mehr aufnehmen (wollen) als in kritisch-distanzierter.

Und doch weiß ich mich überhaupt nicht zu brüsten, ich sei weniger Konsument als sonst irgendwer. Vielleicht kommen wir erst in einem späteren Sein dahin, Rilkes Werk wirklich wertzuschätzen. Aber jeder Versuch, es heute zu verstehen, jeder solche ist doch eine gute Vorbereitung dahin.

Deshalb freue ich mich so über die Schwierigkeit, mich mit Dir ganz zu verständigen. Wär's leicht, wär'n wir womöglich schon fertig.

Liebe Grüße,
Christoph
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von stilz »

Ihr Lieben - meine Internet-Verbindung versagt seit gestern Abend, und ich habe inzwischen eine laaaaaange Erwiderung auf lilaloufans vorletzten Beitrag hier geschrieben, die poste ich jetzt mal (auch wenn wir uns damit nochmal weit vom Atmen-Gedicht entfernen...)
lilaloufan hat geschrieben:Wäre “PARS PRO TOTO“ nicht auch Rilke gegenüber eine statthafte Haltung, um Rilke zu „verstehen“ als jenes „Durchgängige in der Erscheinung“ sowohl seines Lebens wie seines Werks?
Lieber lilaloufan,

also - das wäre mir nun tatsächlich ein unbehaglicher Gedanke, wenn eine solche Haltung allgemein als „statthaft“ anerkannt werden sollte.

Deine Bilder von der Eiche und der Zypresse sind eindrucksvoll, und auch dem, was Goethe über Pflanze und Tier sagt, möchte ich keinesfalls widersprechen.
Allerdings sehe ich zwei bedeutsame Unterschiede, wenn es um das Erkennen des „Durchgängigen“ bei einem bestimmten Menschen gehen soll:

Erstens: das Erkennen einer Eiche als Eiche bzw eines Wolfs als Wolf, trotz der Verschiedenheit einzelner Bäume bzw Tiere, trotz Laubfall oder Winterfell - das stützt sich ja nicht nur auf das in einem gegebenen Augenblick am einzelnen Baum bzw Tier Wahrnehmbare, sondern auch auf die bisherigen Erfahrungen mit anderen Exemplaren derselben Gattung.
Und ich finde es tatsächlich nicht „statthaft“, zu versuchen, aufgrund der Erfahrungen mit anderen Exemplaren der Gattung „Mensch“ im „pars pro toto“-Verfahren auf das „Durchgängige“ eines bestimmten individuellen Menschen zu schließen... (und sagt nicht sogar jener Herausgeber ;-) an anderer Stelle, jeder Mensch wäre gewissermaßen „eine Gattung für sich“?)

Und zweitens ist es meiner Ansicht nach beim Menschen einfach nicht genug, die beiden Faktoren „innere Natur“ und „äußere Umstände“ als einzige „Bildungsgesetze“ anzusehen: wollte man das tun, bliebe kein Raum mehr für Freiheit --- und gerade die Freiheit, auch gegen die bisherige „innere Natur“ zu handeln, macht meiner Überzeugung nach den wesentlichen Unterschied aus zwischen Mensch und Tier.
Der Mensch ist imstande, „Wendungen“ zu machen, die ganz neu sind und niemandem, auch ihm selbst nicht, vorhersehbar. Er tut es natürlich nicht immer, viele Menschen verhalten sich im Gegenteil sehr vorhersehbar - dennoch: der Mensch ist prinzipiell dazu imstande, mit Recht von sich zu sagen: Siehe, ich mache alles neu.

Natürlich begreife ich dennoch, trotz aller Unbehaglichkeiten, was Du meinst. Und ich bin auch ganz überzeugt davon, daß es in jedem Menschenschicksal ein „Durchgängiges“ gibt, das sich prinzipiell erkennen läßt.
Aber kommt es nicht sehr darauf an, wer es ist, der sich um die Erkenntnis dieses „Durchgängigen“ bemüht?: ist es der jeweilige Mensch selber, der in einem besinnlichen Augenblick Rückschau hält auf sein bisheriges Leben? Oder ist es der „starke, stille, an den Rand gestellte Leuchter“, der, von dem Rilke sagt „Die tiefen Himmel stehn ihm voll Gestalten, und jede kann ihm rufen: komm, erkenn –.“?
In diesen Fällen mag ein pars pro toto genügen.

Wenn aber ein anderer Mensch sich diese Frage stellt, wird sie ihm meiner Ansicht nach Frage bleiben müssen.
Das heißt nicht, daß es nicht möglich wäre, einzelne Bruchstücke, auf die man stößt, einer bestimmter Individualität richtig zuzuordnen. Friedrich Torberg („Die Erben der Tante Jolesch“, S98f) erzählt von seiner Verblüffung, als Alfred Adler das Kunststück gelang, jeden einzelnen der zehn seiner Sektretärin spontan diktierten Texte schon nach flüchtigem Überfliegen dem jeweiligen Urheber richtig zuzuordnen (sogar obwohl einige dieser Urheber sich nach Kräften bemühten, Adler zu täuschen - dazu meinte er nur: „Man erkennt einen Menschen an seiner Lüge genau so gut wie an seiner Wahrheit.“) - und auch ich erlebe es ja beispielsweise hier im Forum, daß ich den Urheber eines postings erkenne (manchmal sogar dann, wenn er unter einem anderen nickname oder überhaupt in einem ganz anderen Forum auftaucht :wink: )...
Ich denke auch daran, daß Karl Kraus im Gedicht "Winterliche Stanzen" Rilke erkannt hat, am Wort "leisten"...
Selbstverständlich ist so etwas sogar sehr leicht möglich.
Aber die Frage danach, was genau nun das „Durchgängige“ in einem „Gesamtwerk“ ist, ist schon noch eine andere, finde ich.
Und jemand, der sich ernsthaft die Frage nach dem „Durchgängigen in der Erscheinung der Rilke-Gedichte {als Gesamt-Werk!}" vorlegt, wird meiner Ansicht nach um das Bemühen nicht herumkommen, ALLE Gedichte so genau wie möglich zu begreifen.

Wenn ich nicht mehr, gleich, wie gründlich ich mich bisher schon mit Rilke beschäftigt haben mag, auch in Zukunft prinzipiell ergebnisoffen auf jedes einzelne Gedicht zugehen wollte, bereit, mich jederzeit auch überraschen lassen, weil Rilke ANDERS ist, als ich bisher gedacht habe --- dann würde ich etwas falsch machen. Da bin ich mir ganz sicher.

Wenn es also jemals eine pars-pro-toto-Beurteilung Rilkes bzw seines Gesamtwerkes geben sollte, dann müßte sie erstens schon wirklich seeeeeeehr gut begründet sein, um mich zu überzeugen, und zweitens würde ich sie, trotz ihrer möglichen Überzeugungskraft, dennoch an jedem Wort, das ich bei Rilke selber lese, erneut überprüfen wollen. Denn ich möchte mich wirklich sehr hüten davor, einem Rilke-Gedicht ein „Durchgängiges“, das ich erkannt zu haben glaube, überzustülpen, und dadurch möglicherweise gerade das in diesem Gedicht zu versäumen, das ANDERS ist, als ich es erwartet habe.

Also, wie gesagt: der Gedanke, eine pars-pro-toto-Beurteilung könnte als „statthaft“ angesehen werden, ist mir wirklich sehr unbehaglich.
Gar nicht so sehr deshalb, weil ich es für ganz unmöglich halte, dabei zu wirklichkeitsgemäßen Ergebnissen zu kommen.
Aber halt, weil ich meine, etwas „Durchgängiges“ zu erkennen überall dort, wo irgendetwas sich einmal als „statthaft“ etabliert hat :wink: : wie schnell bilden sich da „Regeln“ heraus, die man sich „anzuwenden“ gewöhnt - und wie schnell (je mehr „Erfolge“ zu verzeichnen sind, desto schneller!) wachsen dann solche „Regeln“ zu einer „Struktur“ heran, die die ursprüngliche Frage (nämlich die danach, was Rilke geschaut hat) so sehr überwuchert, daß es immer schwieriger wird, sie zu erkennen...

Ich halte es also hier mit Joseph Roth, der (hab ich heut im Radio gehört) folgenden Ratschlag für Zeitungsleser gab:
Vertrauen Sie nur den Fragezeichen.


---

Und nun noch:
lilaloufan hat geschrieben:Das Wesentliche mag für die Augen unsichtbar sein; das hat uns Antoine de Saint-Exupéry an mehr als nur den allzuoft zitierten Stellen bestätigt. Das „Bestimmte“, auch in „Atmen…“ besteht aus solcherart Unsichtbaren, das hingegen durchaus nicht un-erfahrbar sein muss. Und schon gar nicht ein Beliebiges je sein wird.
Danke. Ja, gerade so meinte ich es.

Und:
vivic hat geschrieben:Mein Widerstand gegen dein Absolutismus, Stilz ("jedes Gedicht etwas ganz bestimmtes", usw) stammt davon, das ich es nicht fuer gut finde, sein Werk als einen heiligen Text zu lesen, wo man nichts kritisieren kann, und zu dem nur die heilig eingeweihten eingeladen sind.
Oh - lieber Vito, das liegt mir wirklich seeehr :wink: fern, Rilkes Gedichte als "heilige Texte" zu lesen, an denen man nichts kritisieren darf!
Nein - so hab ich's nicht gemeint.
"Etwas Bestimmtes" zu sagen - das ist ja auch gar nicht immer besser, als "etwas Unbestimmtes" zu sagen.
Ich habe halt bisher die Erfahrung gemacht, daß die Versuchung sehr groß ist, etwas, das man nicht sofort ganz klar und deutlich verstehen kann, als "unbestimmt" zu bezeichnen, statt weiter danach zu fragen, was gemeint sein könnte.
Ebenso groß ist diese Versuchung übrigens auch in der Musik - wenn ich eine Stelle zu singen habe, die sich mir nicht sofort erschließt, wäre es einfach, zu denken, "Na, also hier hätte der Komponist wirklich anders komponieren sollen, dann wäre es klarer". Allerdings habe ich es oft erlebt, daß gerade diese zunächst unverständliche, sogar auch unangenehme Stelle zur "Schlüsselstelle" avanciert, wenn ich nicht aufgebe, sondern beharrlich weiterfrage: "Wie müßte die Welt sein, damit das, was hier zu lesen ist, vollkommen klar und einfach ist?" oder sogar: "Wie müßte ich sein, damit das, was hier steht, spontan als einzig Mögliches aus mir heraussprudelt?"

Wie gesagt: das bedeutet noch nicht, daß es in der wirklichen, von mir selbst im "real life" erlebbaren Welt "wahr" ist, was hier steht. Das wäre dann erst die nächste Frage - bei deren Beantwortung es sehr hinderlich wäre, wenn ich Rilke einen "Heiligenschein" aufsetzen wollte.

Und zum Schluß:
vivic hat geschrieben:Stilz mag sich wohl freuen, diesen Figuren zu glauben. Das genuegt, wenn es ihr wirklich hilft, das Gedicht zu erleuchten. Mir hilft es in diesem Falle mehr, die Beziehungen zu anderen Gedichte zu eroertern, um eine Uebersicht zu bekommen, was eigentlich Atmen, und Baueme, in Rilke's Leben und Werk konnotierten. Und siehe, da sind wir ans ganze Werk angelangt...
Ganz und gar einverstanden.
Ich will ja doch gar nicht einer Figur glauben, um mich daran zu erfreuen; es ist mir sehr viel wichtiger, auch weiterhin Fragen zu stellen... und selbstverständlich auch andere Gedichte dazu zu befragen...


So - nun ist es wohl wirklich genug für heute.
Internet, einstweilen wieder ade...

Herzlichen Gruß,
Ingrid
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helle
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von helle »

Was Du, vivic, über das Lachen sagst, stimmt sicher nicht – warum sollte Rilke es hassen, es gibt viele Äußerungen von Freund(inn)en und Bekannten, die das Gegenteil bezeugen. Klar hat er nicht an Stammtischen und auf Herrenabenden gesessen und sich auf die Schenkel geschlagen.

Ich möchte aber der Tendenz Deiner Beiträge zustimmen, entscheiden kann das Forum diese komplexe Frage ja nicht. Ein Gedicht, als Form verstanden, ist ja keine Idee, kein platonischer Körper, es gibt so wenig zwei gleiche Sonette wie zwei gleiche Blätter oder Fingerkuppen. Celan spricht einmal von »Hüllen«, in denen sich unterschiedliche Gestalten festwachsen, und an anderer Stelle von der gleichzeitigen »Bedeutungsjagd« und »Bedeutungsflucht«, die im Gedicht stattfindet, die Bewegung ist eins, synchron. Sie wird nicht nur durch formale Elemente von Rhythmus, Metrum, Reim, Klang pp. erzeugt, sondern auch durch die Unentscheidbarkeit von Phänomenen, ob es der Weltatem, das Sternbild oder der Gang des Panthers ist – wir wollen sie gern im Sinn von Urteilen oder Überzeugungen haben, aber Gedichte eben nicht. In diesem Sinn ist viel Spielcharakter und Ambiguität in ihnen. Gegen Eindeutiges und Bestimmtes ist nichts zu sagen, wenn man Schuhe kauft oder sich den Scheitel kämmt, aber in Gedichten heißt Genauigkeit nicht, ihren Inhalt auf eine Achse zu bringen, das ist unsere Zurichtung, wir machen Paraphrasen dieser Inhalte, also gebrauchen andere (in der Regel mehr) Worte als der Text, unsere Worte, und die sind in der Regel nicht genauer als die der Texte, sondern nur uns näher, häuslicher, vertrauter, warum auch immer, aus Angst vor der Unbegreifbarkeit und – es ist ja Kleist-Jahr – gebrechlichen Einrichtung der Welt.

Gruß, h.
vivic
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von vivic »

Vielen Dank, Helle, wir scheinen in einer aehnlichen Richtung zu wandern.

Aber vom ollen Goethe: Grau, teuerer Freund, ist alle Theorie, und gruen des Lebens goldner Baum. Stimmts?

Und da haben wir den Baum wieder, der mich in diesem Atmen Gedicht so verbluefft da er unvorbereitet auftaucht in den letzten Zeilen. Und hier im Stundenbuch war er schon:

Wer du auch seist: am Abend tritt hinaus
aus deiner Stube, drin du alles weißt;
als letztes vor der Ferne liegt dein Haus:
wer du auch seist.
Mit deinen Augen, welche müde kaum
von der verbrauchten Schwelle sich befrein,
hebst du ganz langsam einen schwarzen Baum
und stellst ihn vor den Himmel: schlank, allein.
Und hast die Welt gemacht. Und sie ist groß
und wie ein Wort, das noch im Schweigen reift.
Und wie dein Wille ihren Sinn begreift,
lassen sie deine Augen zärtlich los...

Hier also ist das Anschaun nicht ein Scan einer auesseren Wirklichkeit, sondern ein Schaffen, wie der Dichter schafft. Also bin ich immer noch nicht weiter bei meiner Anfangsfrage in unserer Diskussion: ist das Atmen in diesem Gedicht ein Metapher fuer Dichten, fuer die Arbeit des Dichters? Und so frage ich das noch einmal, denn ich glaube nicht dass wir so schnell uns einigen koennen ueber eine allgemeine Theorie der Interpretation. Es gibt mir ja immer Spass, vielleicht zuviel Spass, in luftigen Philosophien zu spielen, aber das Gedicht ist doch das Wichtigste.

Wenn meine Deutung stimmt, muessten wir aber auch verstehen, warum die Rinde "einmal" glatt war und jetzt nicht mehr, und warum gerade RUNDUNG und BLATT, statt, zB, Wurzeln und Stamm.

Vivic
Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert Stellen ist es noch Ursprung.
vivic
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von vivic »

Freunde, hier noch ein Gedicht welches uns hier angeht:

Aus dieser Wolke, siehe: die den Stern
so wild verdeckt, der eben war — (und mir),
aus diesem Bergland drüben, das jetzt Nacht,
Nachtwinde hat für eine Zeit — (und mir),
aus diesem Fluß im Talgrund, der den Schein
zerrißner Himmels-Lichtung fängt — (und mir);
aus mir und alledem ein einzig Ding
zu machen, Herr: aus mir und dem Gefühl,
mit dem die Herde, eingekehrt im Pferch,
das große dunkle Nichtmehrsein der Welt
ausatmend hinnimmt —, mir und jedem Licht
im Finstersein der vielen Häuser, Herr:
ein Ding zu machen; aus den Fremden, denn
nicht Einen kenn ich, Herr, und mir und mir
ein Ding zu machen; aus den Schlafenden,
den fremden alten Männern im Hospiz,
die wichtig in den Betten husten, aus
schlaftrunknen Kindern an so fremder Brust,
aus vielen Ungenaun und immer mir,
aus nichts als mir und dem, was ich nicht kenn,
das Ding zu machen, Herr Herr Herr, das Ding,
das welthaft-irdisch wie ein Meteor
in seiner Schwere nur die Summe Flugs
zusammennimmt: nichts wiegend als die Ankunft.

Es ist der erste Teil der Spanischen Trilogie, und fehlt, leider, in eurer Sammlung der Gedichte. Wuerde wahrscheinlich in meiner Liste der Greatest Hits gehoeren, Lilaloufan, wenn ich eine solche haette.
Ich wohnte in 2005 fuer einen Monat in Ronda, wo es bei mir mit Rilke wirklich begonnen hat. Das Staedtlein hat Rilke Hotels und sogar ein Rilke Taxi Service. Das ist Verehrung!!

Aber ist das nicht ein grossartiges Beispiel des kuenstlerlischen Atmens? Stilz kann hier ihre geliebte "Genauigkeit" finden, und das geschaute DING, Lilaloufan aber auch das "Durchgaengliche" bei Rilke. Es wird mir immer wichtiger , das GANZE Werk zu kennen.

Gruesse an euch alle. Wir haben hier Dankbarkeitstag (Thanksgiving). Ich bin dankbar dass ich euch gefunden habe und hier mit euch mitmachen darf.

vivic
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stilz
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von stilz »

Wie schön, helle, daß auch Du „eingestiegen“ bist - ich hatte Deine Sichtweise schon vermißt, gerade bei diesem Thema! :wink:

Ich stimme Dir ja im Grunde zu - und dennoch:

Wenn ich ein Gedicht wie den „Panther“ hernehme, so gibt es ja nicht nur das Gedicht selbst, sondern es gibt auch ein zugehöriges „Ding“, in diesem Fall den realen (und ganz und gar bestimmten) Panther, der schon vor diesem Gedicht da war. Rilkes Blick fällt auf dieses „Ding“ - und dem verpflichtet, was er da schaut (mit allen Konnotationen, die möglicherweise nicht im „Ding“, sondern in Rilke selber liegen), macht er das Gedicht.
vivic, helle - würdet Ihr mir so weit zustimmen?

Und nun behaupte ich: auch für Gedichte wie die Duineser Elegien oder die Sonette an Orpheus gibt es jeweils ein solches zugehöriges, bestimmtes „Ding“. Etwas, das existiert hat, bevor das Gedicht da war. Freilich ist es nicht mit den gewöhnlichen Sinnen wahrnehmbar. Und dennoch ist es da. Und es ist auch nicht bloß ein einziges „Ding“: auch das Erleben jenseits der sinnlichen Erfahrung, wie Rilke sagt: zwischen den Sinnen, ist vielfältig gegliedert...

Und diese imateriellen, nicht mit den Sinnen erfahrbaren „Dinge“ sind es, wonach ich mich auf die Suche machen möchte.

Selbstverständlich ist das fertige Gedicht dann etwas anderes als das ihm zugehörige „Ding“; man könnte es vielleicht ähnlich sehen wie die „erste Ableitung“ in der Mathematik: sie ist nicht dasselbe wie die Grundfunktion, und dennoch kann man aus ihr auf diese Grundfunktion schließen... aber eben nur, weil auch diese erste Ableitung bestimmt ist.

Ich sage nicht, daß es für jedes Gedicht ein solches zugehöriges bestimmtes „Ding“ geben muß.
Aber gerade bei Rilke, auch in den Sonetten an Orpheus, meine ich, sind solche „Dinge“ da.
Im dritten Sonett des ersten Teils finde ich das thematisiert - oder wie sonst versteht Ihr die von mir hervorgehobene Zeile?:
  • Das ists nicht, Jüngling, daß Du liebst, wenn auch
    die Stimme dann den Mund dir aufstößt, –

    lerne vergessen, daß du aufsangst. Das verrinnt.
    In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch.
Dazu scheint mir auch zu passen, was Rilke an seinen Verleger Kippenberg schreibt, am 23. Februar 1922, das Manuskript der „Sonette an Orpheus“ liegt diesem Brief bei - auch wenn es sich hier nicht direkt um die Sonette handelt, sondern um die Elegien, genauer: um Verse, die im Zusammenhang mit den Elegien entstanden waren, und die Rilke in einem zweiten Teil, »Fragmentarisches« überschrieben, gemeinsam mit den eigentlichen Elegien drucken lassen wollte:
Rainer Maria Rilke hat geschrieben:Hier wäre nun diesmal, unter jenem Abschnitt des »Fragmentarischen«, zum Theil solches, das, gewissermaßen schon vor der Entstehung, infolge unvermeidlicher Erschütterungen des ganzen Daseins, zerbrochen war und nur in Stücken herausgestellt werden konnte, – anderes, das zwar heil zustande kam, aber dann unterbrochen blieb: es würden in beiden Fällen nur solche Arbeiten vor meinem Urtheil bestehen, die auch in ihren Bruchflächen noch Ausdruck sind, Gestaltung, Ding ...

Wenn wir - als „reproduzierende“ Künstler - ein Gedicht laut lesen oder ein Lied singen, dann atmen wir zunächst ein, um dann, im Ausatmen, das zuvor Eingeatmete zu den entsprechenden Klängen zu formen.
Ein Künstler, der ein Gedicht nicht abliest, sondern ganz neu schafft - sollte der nicht auch vorher einatmen?

Früher sprach man davon, daß jemand sich „von der Muse küssen“ läßt - in diesen Augenblicken erlebt der Künstler eine Verbindung zu dem, wofür Orpheus steht (der Sohn der Muse Kalliope). Meinem Verständnis nach geht es dabei um Inspiration.
In diesem Begriff meine ich auch die Antwort auf Deine Fragen zu finden, vivic:
vivic hat geschrieben:Also bin ich immer noch nicht weiter bei meiner Anfangsfrage in unserer Diskussion: ist das Atmen in diesem Gedicht ein Metapher fuer Dichten, fuer die Arbeit des Dichters?
...
Wenn meine Deutung stimmt, muessten wir aber auch verstehen, warum die Rinde "einmal" glatt war und jetzt nicht mehr, und warum gerade RUNDUNG und BLATT, statt, zB, Wurzeln und Stamm.
Inspiration - Einatmung.
Das ist der eine Teil des Atmens.
Der andere Teil, das Ausatmen, geschieht jedenfalls dann, wenn ein Gedicht Laut wird: wird nicht in diesem Augenblick die Luft zu „Rinde, Rundung und Blatt meiner Worte“?
Und könnte man nicht sagen: die Wurzeln, ohne die die Blätter nicht sein könnten, sie liegen zunächst nicht in der Ex-, sondern in der Inspiration?

Aber Atmen ist natürlich ein kontinuierlicher Prozeß: was ich in meiner Ausatmung, zu Worten geformt, dem „Weltraum“ zurückgebe, das wird schließlich selbst wieder zur Inspiration - so arbeite ich mit an der Gestaltung des „Weltinnenraums“, der durch alle Wesen geht...


Orpheus war ein Sänger. Es geht also wohl um Dichtung als Gesang.

:D Mir fällt ein, was ein Tenorkollege seinen Gesangschülern zu sagen pflegt: „Ganz gleich, was Du auch singst, und wenn es die trübseligste, schmerzlichste, verzweifeltste Arie ist: es sollte immer mitklingen, wie schön das ist...“ (und er fügt meist hinzu - aber das gehört nicht hierher, oder etwa doch? ;-) : „und wie gut du es kannst...“)

Zu Gesang als etwas, was nie nur furchtbar ist, sondern immer auch etwas Schönes, Tröstliches an sich hat - dazu paßt ein Zitat aus dem nächsten Brief Rilkes an Kippenberg, 13. März, gegen Abend:
Rainer Maria Rilke hat geschrieben:Der Ihrem Briefe mitgegebene, bei der Insel eingelangte Brief erwies sich als erfreuende, ja ergreifende Beigabe; ein junger Mensch, der sich seit drei Jahren dagegen wehrte, ihn zu schreiben, schrieb ihn nun endlich doch, neunzehnjährig. Und datierte ihn mit dem gleichen Tage, an dem, von hier, meine Anzeige der vollendeten Elegieen an Sie abging (dem 12. Februar)! Und es berührt mich, als hätte er schon diese, die Duineser Elegien gemeint, wenn er von sich und einigen ihm nahen Gleichaltrigen versichert:
»unaufhörlich wachsen wir bei der Arbeit, Ihre Furchtbarkeiten durch Ihre Tröstlichkeiten zu überstehen.« Er konnte nicht ahnen, wie sehr ich gerade dieser Aufnehmung unwillkürlich entgegenkomme, indem jenes »Furchtbare« und dieses »Tröstliche« in meiner reiferen Leistung immer näher zusammenrücken, ja in mehr als einer Elegie mögen beide schon Eins geworden sein, ein Einziges: das Wesentliche.
Das Wesentliche... da fällt mir eine Stelle aus dem Aufsatz „Wirklichkeit und Kunstwerk“ von Antoine de Saint-Exupéry ein, da heißt es:
Antoine de Saint-Exupéry hat geschrieben:… Was überträgt man überhaupt, wenn man seinen Gedanken Ausdruck verleiht? Was ist das Wesentliche? Dieses Wesentliche scheint mir von dem verwendeten Rohstoff ebenso verschieden, wie sich das Schiff einer Kathedrale von dem Haufen Steine unterscheidet, aus dem es hervorging. Es kommt einzig darauf an, die Beziehungen der äußern oder innern Welt zu erfassen, herauszustellen und zu übermitteln. Die „Struktur“, wie die Physiker sagen würden.

Ein Kunstwerk gleicht einer Falle: welche Beute hat es eingefangen? Die Beute ist von andrer Wesenheit als die Falle. Man denke nur an den Erbauer von Kathedralen: er hat sich der Steine bedient und daraus das Schweigen gestaltet.
Das wahre Buch ist wie ein Netz, bei dem die Wörter die Maschen bilden. Auf die Natur der Maschen des Netzes kommt es wenig an. Von Bedeutung ist nur die lebende Beute, die der Fischer vom Grunde der Meere heraufgeholt hat, das quecksilbrige Aufblitzen, das man zwischen den Maschen leuchten sieht…
:D Nun - daß es nicht auch auf die Maschen des Netzes ankäme, das ist eine Auffassung, die ich nicht teile: denn das Kunstwerk wird schließlich selbst zum Ding, zum Kunst-Ding, und damit zum potentiellen „Rohstoff“ - und wie strahlend eine neue „Beute“ später aus einem neuen „Netz“ wird hervorleuchten können, das wird wohl wesentlich von den jetzigen „Maschen“ abhängen...


Herzlichen Gruß in die Runde,
stilz

P.S.: Ah, vivic, da sehe ich Dein neues posting - das kann ich allerdings erst später lesen.
Zuletzt geändert von stilz am 25. Nov 2011, 20:03, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von stilz »

Lieber vivic,
nun sage ich DANKE!!!

:-) helle hat ganz recht, unsere Worte (in der Regel mehr, vor allem, wenn es sich um stilz handelt :wink: ) sind selbstverständlich nicht genauer als die Rilkes.
Ich kannte dieses Gedicht bisher nicht.
Wunderbar!

Ja - auch ich bin froh, daß Du zu uns gefunden hast.
Happy Thanksgiving!
stilz
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lilaloufan
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von lilaloufan »

stilz hat geschrieben:
Allerdings sehe ich zwei bedeutsame Unterschiede, wenn es um das Erkennen des „Durchgängigen“ bei einem bestimmten Menschen gehen soll:

Erstens: das Erkennen einer Eiche als Eiche bzw eines Wolfs als Wolf, trotz der Verschiedenheit einzelner Bäume bzw Tiere, trotz Laubfall oder Winterfell - das stützt sich ja nicht nur auf das in einem gegebenen Augenblick am einzelnen Baum bzw Tier Wahrnehmbare, sondern auch auf die bisherigen Erfahrungen mit anderen Exemplaren derselben Gattung.
Und ich finde es tatsächlich nicht „statthaft“, zu versuchen, aufgrund der Erfahrungen mit anderen Exemplaren der Gattung „Mensch“ im „pars pro toto“-Verfahren auf das „Durchgängige“ eines bestimmten individuellen Menschen zu schließen... (und sagt nicht sogar jener Herausgeber ;-) an anderer Stelle, jeder Mensch wäre gewissermaßen „eine Gattung für sich“?)

Und zweitens ist es meiner Ansicht nach beim Menschen einfach nicht genug, die beiden Faktoren „innere Natur“ und „äußere Umstände“ als einzige „Bildungsgesetze“ anzusehen: wollte man das tun, bliebe kein Raum mehr für Freiheit --- und gerade die Freiheit, auch gegen die bisherige „innere Natur“ zu handeln, macht meiner Überzeugung nach den wesentlichen Unterschied aus zwischen Mensch und Tier.
Der Mensch ist imstande, „Wendungen“ zu machen, die ganz neu sind und niemandem, auch ihm selbst nicht, vorhersehbar. Er tut es natürlich nicht immer, viele Menschen verhalten sich im Gegenteil sehr vorhersehbar - dennoch: der Mensch ist prinzipiell dazu imstande, mit Recht von sich zu sagen: Siehe, ich mache alles neu.

Natürlich begreife ich dennoch, trotz aller Unbehaglichkeiten, was Du meinst. Und ich bin auch ganz überzeugt davon, daß es in jedem Menschenschicksal ein „Durchgängiges“ gibt, das sich prinzipiell erkennen läßt.
Aber kommt es nicht sehr darauf an, wer es ist, der sich um die Erkenntnis dieses „Durchgängigen“ bemüht?: ist es der jeweilige Mensch selber, der in einem besinnlichen Augenblick Rückschau hält auf sein bisheriges Leben? Oder ist es der „starke, stille, an den Rand gestellte Leuchter“, der, von dem Rilke sagt „Die tiefen Himmel stehn ihm voll Gestalten, und jede kann ihm rufen: komm, erkenn –.“?
In diesen Fällen mag ein pars pro toto genügen.

Wenn aber ein anderer Mensch sich diese Frage stellt, wird sie ihm meiner Ansicht nach Frage bleiben müssen.
Das heißt nicht, daß es nicht möglich wäre, einzelne Bruchstücke, auf die man stößt, einer bestimmter Individualität richtig zuzuordnen. …
Da sind wir nicht in einem Theoretischen (Methodologischen), sondern in einem Methodischen. @Vito, hab’ ich nicht betont, es gehe um Erfahrung?

Zunächst einmal möchte ich @stilz zu Deiner obigen Erwiderung etwas schreiben, dann, @Vito, zu Deiner Frage heute noch nur weniges.

I) Ja, Ingrid, volle Zustimmung: Die von Dir herausgeschälten Unterschiede sind wesentlich; die würde ich inhaltlich nie vernachlässigen: Es ging mir darum – vor dem Schritt zum Menschen, zur schicksalstragenden und -schaffenden Individualität – die methodische Frage-Art an leichter Nachvollziehbarem (Naturwesen) zu illustrieren. Und da hab’ ich unzulässig verkürzt, das sei eingestanden.

Kleine Korrektur, wo ich mich nicht ganz verstanden fühle:
ad 1.): Ich meine durchaus nicht die Erfahrungen mit anderen Exemplaren der Gattung „Mensch“. Ich meine eher so etwas wie eine Achtsamkeit („Andacht“) auf so etwas wie den menschlichen Gang, die eine oder andere Marotte, ein Scheitern in bestimmten biographischen Momenten usw. – Dass Herr Meier nicht durch seinen Vater erklärbar ist, sondern als ein Ich verwandt mit sich selbst, das ist mir sonnenklar.

und ad 2.): Dann ist es ja selbstverständlich, dass auch Dein zweiter Einwand für mich ganz und gar zu bejahen ist; das eine folgt aus dem anderen. Nur würde ich den wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht gern auf den Aspekt der Freiheit beschränkt sehen, sondern da gehört Liebefähigkeit und Erkenntnisvermögen freilich dazu, und diese Trias verankert sich am Selbstbewusstsein, auf das das Tier zugunsten der Spezialisierung seines Leibesbaus und des daran verankerten Instinkts Verzicht leistet. (Was übrigens wirklich ein „Leisten“ ist, nicht ein Defizit!)

Dass jede Biographie mehr Frage veranlasst als antwortenden Aufschluss bietet, das sehe ich wie Du. So spreche ich nicht etwa nur vom Lebensgang, sondern ebenso von der schöpferischen Hervorbringung. Und so verstehe ich „verstehende“ Interpretation immer als sich gründend auf hermeneutische Frage. Tatsächlich, das habe ich nicht deutlich genug ausgedrückt.

Und noch:
stilz hat geschrieben:Wenn ich nicht mehr, gleich, wie gründlich ich mich bisher schon mit Rilke beschäftigt haben mag, auch in Zukunft prinzipiell ergebnisoffen auf jedes einzelne Gedicht zugehen wollte, bereit, mich jederzeit auch überraschen lassen, weil Rilke ANDERS ist, als ich bisher gedacht habe --- dann würde ich etwas falsch machen.
Ja: Da bin ich mir ebenfalls ganz sicher.

II) Also: Wir haben uns überhaupt nicht von der Eingangsfrage entfernt:
vivic hat geschrieben:Koennten wir sagen dass dieses Gedicht wirklich ueber das Dichten ist? Dann ist das Einatmen die Welterfahrung des Dichters, und seine Werke das Ausatmen. Gehe ich hier in der richtigen Richtung?
vivic hat geschrieben:Ist das Atmen in diesem Gedicht ein Metapher fuer Dichten, fuer die Arbeit des Dichters?
Jetzt hat stilz doch das „Ding beim Namen genannt“, wie man hier sagt. Nicht Respiration hat Rilke betrachtet (»zweierlei Gnaden«) – – – lasst uns im weiteren Gesprächsverlauf AUCH über Inspiration | Exspiration reden.

Da spreche ich gerne mit. Ich warte erst mal, ob Du @vivic mit stilz’ Beitrag etwas anfangen willst.

(Auch ich suche hier nicht Zustimmung, aber auch nicht snubbing.)

l.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von vivic »

Freunde, nur etwas Kurzes heute, ich lese eure Beitrage fleissig und muss sie mehrere Male lesen, um ueberhaupt etwas dazu sagen zu koennen. Ich bin eben an einer anderen Sprache gewoehnt, und da meine ich nicht English oder Deutsch, ich meine Begriffs-sprache. Bei Rilke, und auch bei euch manchmal, finde ich Ideen die mir einfach noch etwas fremd sind. Wenn Rilke, ZB, schreibt dass wir zu stark die Lebendigen von den Toten unterscheiden, dann muss ich einfach schweigen. Ich kann da noch nicht mitmachen, moechte aber auch nicht irgend eine spirituelle Empfindung beleidigen. Und so geht es auch wenn du, Stilz, von "Dingen" schreibst welche nicht "mit den gewoehnlichen Sinnen wahrnehmbar" sind. Da werde ich ein wenig unsicher; aber ich lehne es nicht ab. Nur weiter!

Perhaps I am still locked into my narrow little academic box. Perhaps I am ready to get out.

St. Exupery, mit seiner Falle, das lese ich als Gedicht und gefaellt mir sehr gut.

Liebe Gruesse an alle.

Vivic
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von lilaloufan »

Antoine de Saint-Exupéry hat geschrieben:Ein Kunstwerk gleicht einer Falle: welche Beute hat es eingefangen? Die Beute ist von andrer Wesenheit als die Falle. Man denke nur an den Erbauer von Kathedralen: er hat sich der Steine bedient und daraus das Schweigen gestaltet.
Das wahre Buch ist wie ein Netz, bei dem die Wörter die Maschen bilden. Auf die Natur der Maschen des Netzes kommt es wenig an. Von Bedeutung ist nur die lebende Beute, die der Fischer vom Grunde der Meere heraufgeholt hat, das quecksilbrige Aufblitzen, das man zwischen den Maschen leuchten sieht…
Lieber Vivic,
bevor ein Fischer (nein: nicht der Schleppnetzfischer) hinausfährt, weiß er um die Gewohnheiten des Schwarms. Der Laie würde zu irgendeiner Zeit ausfahren und in irgendeine Meeresregion, denn für ihn wäre jeder Seehorizont gleich glatt und gerade. Der Fischer aber, der bricht um die richtige Zeit auf, denn er weiß genau, an welcher Stelle der Schwarm aufsteigt zum Netz. Und er fischt zu Recht, denn er ernährt einen Umkreis mit seinem Fang. Und er lässt den Laich in Ruhe, denn aus dieser Ruhe her wird das kommen, was noch seine Enkel in den Hafen einfahren werden in fünfzig Jahren. – Woher nimmt der Fischer seine eig'ne Stille, woher seine Weisheit über das Leben des Schwarms? Er hat doch, wenn er sein Boot besteigt, nicht einen einzigen der Fische gesehen, und doch leben Schwarm und Kahn einander entgegen, bis Instinkt auf der einen, Idee auf der anderen Seite sich begegnen und dem Schwarm Dezimierung und damit Entspannung der sozialen Nahrungskonkurrenz und des Alimentationsdrucks sowie dem Fischer Erträgnis und damit wirtschaftlicher Erfolg und in seiner Binnenkultur Prestigesteigerung beschieden sind.
Da sagen wir hier: Der Fischer hat einen «Riecher» für die richtige Fangstrategie, aber wir meinen nicht seine Nase. Eher so etwas wie einen «siebten Sinn», wie auch immer man die Sinne zählen mag.
Nochmal: Der ganze Vorgang geschieht, bevor der Fischer auch nur einen einzigen Fisch sieht. Jetzt mag man sagen, ja nun, er hat die Erfahrung, hat gelernt, sammelt die Erinnerung all seiner schweigsamen Vorväter – auch derer, die aus dem Sturm nicht wiederkehrten. Aber wie tastet er die ab?
Der Raubfisch – er ist auf dieselbe Beute aus, verhältnismäßig nicht einmal bescheidener – wird um dieselbe Zeit in dieselbe Meeresregion gezogen, aber ist er genauso „klug“? Sein Blick geht hin zu den blitzenden, in den Wellen zitternden Leibern, und dorthin streckt sich seit Beginn der Artenevolution sein Maul.
Aber der Fischer, der blickt, um seine „Erfahrung“ abzutasten, nach innen. Und sobald er sich dessen gewahr wird, beginnt eine übersinnliche Erfahrung zur Bewusstwerdung zu drängen: Wer das einmal wirklichkeitsgemäß angeschaut hat, kann keine auf „gewöhnliche Sinne“ beschränkte Psychologie mehr betreiben und wird an eine solche keine Erkenntnis-Erwartung mehr haben.

Bei Erich Fried habe ich heute (auf der – leider vergeblichen – Suche nach der Quelle dieser Bemerkung <Link>) das gefunden:
Ein Hund der stirbt und der weiß dass er stirbt wie ein Hund und der sagen kann dass er weiß dass er stirbt wie ein Hund ist ein Mensch.

Zum ausgiebigen Wandern war's mir heute zu kalt; ersatzweise wandere ich hier ein wenig im Forum herum; verzeih' den Exkurs! :)

lilaloufan
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von stilz »

vivic hat geschrieben:Und so geht es auch wenn du, Stilz, von "Dingen" schreibst welche nicht "mit den gewoehnlichen Sinnen wahrnehmbar" sind. Da werde ich ein wenig unsicher; aber ich lehne es nicht ab.
Lieber vivic,

:D ich versuche es etwas kürzer als lilaloufan :wink: :
Mit "Dingen", die mit den gewöhnlichen Sinnen, also Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten, nicht wahrnehmbar sind, meine ich nicht etwa etwas Unheimliches, Gespenstisches...
Es beginnt schon bei relativ einfachen "Dingen", die wohl jeder von uns erkennen kann; und Rilke hat eben auch über solche nicht sinnlich wahrnehmbaren "Dinge" Gedichte gemacht.

Nicht erst in den Elegien oder den Sonetten an Orpheus - schon viel früher, und viel "alltäglicher":
Mädchenmelancholie.
Wahnsinn.
Kindheit.
Könnte man das nicht als "Dinge" bezeichnen, die zwar erkennbar, wahr-nehmbar sind, aber eben nicht mit den gewöhnlichen Sinnen?

Herzlichen Gruß,
Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
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