Lieber vivic,
wie schön, daß Du den Faden dort wieder aufnimmst, wo ich ihn - viel zu lang! - liegengelassen habe.
vivic hat geschrieben:Ist denn ein Gedicht ein Ausdruck von etwas anderem, das irgendwie dahinter oder darunter versteckt ist, und dass man entraetseln muss? Eine Frage ist ja ein Zeichen dass dir etwas fehlt: eine Antwort, eben. Aber wie saehe denn so eine Antwort aus? Hast du schon eine probiert? Und warum verheimlichst du sie?
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Einerseits hast Du natürlich ganz recht: dem „Atmen“-Sonett
fehlt natürlich gar nichts.
Andererseits aber fehlt im sogar
alles - solange es nämlich nicht auf einen
Leser trifft, der es neu erschafft, indem er es
laut (Laut) werden läßt.
Schon wenn wir uns darauf beschränken, das Gedicht nur im Geiste zu lesen, im Stillen, ohne die Worte wirklich auszusprechen,
fehlt ihm etwas...
vivic hat geschrieben:Meine Antwort: es drueckt sich selber aus. Reiner Ausdruck. Gesang. Wortgesang, Gedankengesang, Gefuehlsgesang.
Stimmts? Oder hab ich recht?
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Das hat mein Vater auch immer gesagt...
Ja.
Aber andererseits gibt es nunmal einen großen Unterschied zwischen einem Gedicht und dem Gesang eines Vogels oder einer Beethovensonate: das Gedicht bedient sich der
Sprache. Und die Worte darin drücken etwas aus, das das „Material“ der Laute übersteigt.
Ebenso übrigens wie das Bild des Stuhls von Van Gogh: es spielt eine Rolle, daß es ein
Stuhl ist und nicht eine abstrakte Form ohne eigene Bedeutung.
Das Gedicht ist also
mehr als die Laute, die es bilden - ebenso wie das Bild
mehr ist als das Material, aus dem es besteht (Leinwand, Farben...).
Insofern drückt ein Gedicht nicht nur „es selbst“ aus - sondern es ist auch
Ausdruck von etwas.
Und zwar - dabei bleibe ich - von etwas
Bestimmten. Jedenfalls im Fall von Rilke (
»... das Kunst-Ding muß noch bestimmter sein; von allem Zufall fortgenommen, jeder Unklarheit entrückt...«).
Sowohl Worte als auch Dinge, die wir auch im Alltag gebrauchen, haben
Konnotationen, die im Gedicht bzw im Bild eine Rolle spielen.
Diese Konnotationen verändern sich natürlich im Laufe der Zeit - das können wir am Wort „Weltraum“ erleben, und das hat ja in diesem Gespräch hier bereits eine Rolle gespielt.
Ich stimme, wie schon gesagt,
lilaloufan zu, der
weiter oben geschrieben hat:
lilaloufan hat geschrieben:Kleine Anmerkung – ich bin ziemlich sicher, dass Begriffe wie «Weltraum» und «Welten-Raum» zu Rilkes Zeit noch nicht die Bedeutung eines astronautisch erforschten "space" hatten; auch „κόσμος“ (Kosmos) war ja zu dieser Zeit durchaus nicht ein mit „UNIVERSUM“ gleichgesetzter Begriff.
Deshalb wage ich die folgende Übersetzung des ersten Quartetts - wohl wissend, daß sich damit ebenfalls Assoziationen hineindrängen, die aus dem
heutigen Begriff „outer space“ stammen:
- Breathing, invisible poem!
Outer space, continually, purely
exchanged for my own being. Counterbalance,
wherein I, rhythmically, take place.
Und zu Deiner letzten Frage:
vivic hat geschrieben: Im Grunde genommen glaube ich dass es gar nicht sehr viel verschiedenes wahres zu sagen gibt ueber dieses geheimnisvolle Leben. Sehr viele der besten Gedichte sagen immer wieder die ganz einfachsten Wahrheiten...
Nun - einerseits ja. Andererseits aber finde ich, daß es gerade im „Atmen“-Sonett eben
nicht um eine dieser „billigen“ (nicht etwa: „schlechteren“!) Weisheiten geht, die Du dann aufzählst.
Insofern mag das:
vivic hat geschrieben:Aber W I E der Dichter diese wenigen, immer wiederkehrenden, unendlichen Themen behandelt, die Form, die Melodie, die Sprachmusik, darauf kommt es an. Die "Bedeutungen" kennen wir schon laengst.
zwar häufig Geltung haben - aber wenn wir ausschließlich auf das
W I E blicken wollten, würden wir meiner Ansicht nach gerade Rilke
nicht gerecht.
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Hier gebe ich Dir wieder recht:
vivic hat geschrieben:ein Gedicht ist eine Tat, eine Stroemung der Liebe. Die kann man garnicht „zerlegen.“
Es geht mir auch wirklich nicht um ein „Zerlegen“. Wie schon Goethe so treffend sagte:
Mephisto hat geschrieben:Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist heraus zu treiben,
Dann hat er die Teile in seiner Hand,
Fehlt, leider! nur das geistige Band.
Worum es mir geht, das hat
gliwi einst sehr schön auf den Punkt gebracht - klarer kann man’s wohl nicht sagen (und ich freue mich, bei dieser Gelegenheit noch einmal an sie zu erinnern):
gliwi hat geschrieben:
dazu zwei Zitate, eines von Emil Staiger, dem großen Interpreten: "Begreifen, was uns ergreift." Und eines von Goethe. "Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen."
Herzlichen Gruß,
Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)