Hallo Rebekka,
leider hab' ich gerade so überhaupt gar keine Zeit, auf Dein Posting von vorhin einzugehen, aber zu Deiner ursprünglichen Frage hab' ich noch etwas hier:
Adrianna Hlukhovych hat in ihrer 2007 bei Königshausen und Neumann erschienenen Diss [ISBN 3-8260.3658.1] über Rilkes „Poetik des Blinden“ {Titel: «Wie ein dunkler Sprung durch eine helle Tasse»} interessante Aspekte herausgearbeitet. Ich zitiere hier einige Sätze:
«Dem Gedicht „Der Blinde“ messe ich in der Reihe der Blindheits-Gedichte, insbesondere für die Pariser Periode, eine besondere Bedeutung bei, weil es sowohl die bereits in früheren Gedichten aufgedeckte phonozentrische Wende markiert, und somit auf die Interaktion der Sinnesbereiche eingeht, als auch die Valenz der Blindheit innerhalb des Sehens entdeckt und ausdrücklich artikuliert.
Das Gedicht setzt mit der imperativischen Aufforderung zum Sehen ein. Was sich dem Blick des Lesenden eröffnet, ist der Blinde, der in seinem Gang die Stadt ‚unterbricht’. Durch die Konkretisierung der Szenerie im Untertitel gewinnen sowohl der Blinde als auch die Stadt an Präsenz. Die Stadt existiert nicht für den Blinden, sie ist nicht „auf seiner dunklen Stelle“; sie ist aber (wie der Blinde selbst) dem Sehenden und dem Leser sichtbar.
Indem er die Stadt gehend ‚unterbricht’, zeichnet, zieht der Blinde eine Linie, hinterlässt eine Spur, angesichts derer sich die Konturen der Stadt ausmalen. Der Blinde bewegt sich, geht, blendet vorübergehend die Stellen der Stadt aus, ersetzt sie durch seine ‚dunkle’ Kontur, die ihrerseits ebenfalls schwindet, unsichtbar wird, um den ausgesparten Raum der sichtbaren Stadt hervortreten zu lassen. (…)
Erst vor dem Hintergrund des ‚Blinden’, Dunklen, wird die Stadt sichtbar. Der Lesende wird erst durch das Ziehen der dunklen, ‚blinden’ Spur, zum Sehenden gemacht. Erst die „dunkle Stelle“, die ich als poetische Umschreibung des blinden Flecks verstehe, macht die Stadt sichtbar. Dasselbe Wechselspiel des Lichten und Dunklen vollzieht der Vergleich mit dem „dunklen Sprung“ auf einer hellen Tasse: Der „‚dunkle Sprung’ [hebt] durch das Hinterlassen von dunklen Spuren die Helligkeit des Porzellanstücks hervor.“ (
zit. Rochelle, T.: „Das Gesicht der Dinge“, 1999) Die Aufforderung zum Sehen im ersten Vers begreife ich somit als nachdrückliche Forderung, den Anteil des Blinden an der Sichtbarwerdung zu erkennen und das Unsichtbare als Komponente und Voraussetzung der Sichtbarkeit anzuerkennen.
Eine andere Art der Sichtbarwerdung - durch die ‚Blendung’ - vollzieht das Gedicht durch die Inszenierung des Blinden als Spiegel:
- […] Wie auf einem Blatt
ist auf ihm der Widerschein der Dinge
aufgemalt; er nimmt ihn nicht hinein.
Der Topos der blinden widerspiegelnden Augen hat bereits in „Die Erblindende“ Eingang gefunden. Nun überträgt Rilke ihn synekdochisch auf die ganze Gestalt des Blinden. Der Blinde macht die Stadt und die „Dinge“ für den Sehenden und den Lesenden sichtbar, indem er sie widerspiegelt. Auf ihm, wie auf einem aufgemalten Blatt, findet der Sehende den „Widerschein der Dinge“ vor. Der Blinde bildet die ‚dunkle’ Schicht (Stelle) {
An dieser Stelle rekurriere ich auf die Herstellung des Glasspiegels durch Auftragen einer undurchsichtigen Schicht.}, die die Widerspiegelung bzw. die Sichtbarkeit der „Dinge“ ermöglicht; er bringt den ‚Widerschein’ zustande; „er bildet den Spiegel, in dem die ihm äußeren Dinge sich sehen lassen.“ (
ibid.)
(…)
Der Vers 7 markiert den Wendepunkt im Gedicht, der den Perspektivwechsel auslöst. Er lässt sich anhand des veränderten Gebrauchs der Sinnesmetaphorik (…) nachweisen. Während der erste Teil (Verse 1 – 6) durch die Sichtbarkeit der Bilder („Stadt“, „Stelle“, „Blatt“, „Dinge“) und die visuelle Bildlichkeit („dunkler Sprung“, „helle / Tasse“, „Widerschein“, „aufgemalt“) aus der Perspektive des Sehenden / des Lesenden ‚spricht’, weist der zweite Teil (Verse 7 – 14) durch vorwiegend taktile („Fühlen“, „rührt sich“, „Hand“) akustische Metaphorik („Wellen“) oder durch die Negierung der auditiven Metaphorik („Stille“), die parallel zur Blindheit eingesetzt wird, eindeutig auf das Blinde hin.
Der Umschlag erfolgt zunächst unter dem Vorwand des Taktilen, worauf das „Fühlen“ und die „Hand“ (s.
Pasewalck) des Blinden hinweisen. Die zu erwartende ‚Berührung’ kommt jedoch nicht zustande; höchstens ist es eine ‚subtile Taktilität’. Sie scheint ins Akustische überzugehen: Die ‚hingegebene’ Hand des Blinden bewegt sich im Takt der „kleinen Wellen“. Auch die „Stille“ weist auf die Wende zum Akustischen und zu Rilkescher ‚Schwingung’ hin. In Bezug auf die vordergründige Abwendung vom Visuellen und die Zuwendung zum Akustischen kann man von der Überführung des Kunstwerks aus dem Medium des Visuellen in das des Auditiven, bzw. vom geschriebenen zum gesprochenen Gedicht, ausgehen.»
Was A. Hlukhovych hier vor allem zu entgehen scheint, ist die Erweiterung des dem Kunstwerk als „Medium“ dienenden Sinneskreises in den letzten Versen. Denn Rilke beobachtet und beschreibt hier die Gestik so, wie der plastische Künstler (Rodin) und auch der Bühnenkünstler sie beobachten und sich vergegenwärtigen muss:
- und dann scheint er wartend wen zu wählen:
hingegeben hebt er seine Hand,
festlich fast, wie um sich zu vermählen.
Wen zu wählen?
Ein Hinweis noch, Rebekka: „eine Stille“ ist ja Akkusativ - nach „einfangen“, das zunächst ja Räumliches („die Welt“) zum Objekt hat, dann wird der räumliche Bezug ins Zeitliche hinein relativiert („die Welt in kleinen Wellen“), dann tritt eine wirkliche Stille ein durch den Strophenwechsel, und hierauf ist die unräumliche „Stille“ ein zweites Objekt, das sogleich ins Räumlich-Dynamische hinein verwandelt wird („einen Widerstand“). Eine grandiose Übereinstimmung von Stilmittel und Inhalt!
Gruß,
l.
Und ich wünsch' Dir, dass Dir noch wer antwortet auf Deinen Beitrag vorhin.