Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort
Verfasst: 19. Mär 2003, 00:00
Rainer Maria Rilke
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.
(Quelle: Rainer Maria Rilke: Gedichte. Verlag Philipp Reclam jun. 1997)
Einige Gedanken zu diesem Gedicht:
Das ist eines meiner absoluten Lieblingsgedichte des Dichters.
Eine Deutung ist immer eine von Millionen von Möglichkeiten und der Inhalt dieses Gedichtes mahnt ja bereits: versuche es nicht, schweige lieber, anstatt den Zauber der "Dinge" zu zerstören, in dem du den Mund aufmachst, indem du versuchst die passenden Worte zu finden für das Unaussprechbare. So bin ich, bevor ich beginne, also bereits gescheitert.
Dennoch ist es eine Erkenntnis, die dem Gedicht zugrunde liegt: in Wahrheit ist ein guter Dichter, ein begnadeter Poet kein Wortjongleur, kein Akrobat im Reimen, sondern ein guter Beobachter, der in die Welt blickt und sie anders und immer neu schaut, sich von ihr erfüllen läßt und an ihr leidet, anstatt mit den Meinungen und Begriffen, die Vernunft und Erziehung dem Menschen aufprägen, sie zu ordnen und zu entzaubern. Eben jemand, der die Dinge singen hört. Rimbaud hat das einmal so formuliert: "Ich sage, daß man Seher sein, sich zum Seher machen muß. Der Dichter macht sich zum Seher durch eine dauernde, umfassende und planvolle Verwirrung aller Sinne." Darum geht es: am Anfang steht, wie auch bei aller Philosophie, das Staunen. Aber der Dichter geht weiter: er sucht nach Versenkung, nach Identifikation, nach einer Wahrheit, die er erlangt, indem er selbst zum Behältnis wird, ein Behältnis, das seine Sinne, seine Empfindungen und Gefühle anfüllen. Der Philosoph dagegen sucht nach Behältern (Begriffen und Systemen), in die er die Welt abfüllen und unterteilen kann. Darin unterscheiden sie sich. Der Dichter ist am Anfang sprachlos, er steht vor der unermeßlichen, eigentlich unlösbaren Aufgabe, die Fülle, die unerträgliche Schönheit in Worte zu fassen. Der Dichter muß, wie Rimbaud sagt, "seine Erfindungen fühlbar, greifbar, hörbar machen; wenn das, was er von dort unten heraufbringt, Form hat, gibt er die Form, wenn nicht, gibt er das Formlose. Eine Sprache finden; diese Sprache wird von Seele zu Seele gehen und alles zusammenfassen, Düfte, Töne, Farben, den Gedanken, der sich dem Gedanken anhaftet und ihn nach sich zieht." Das ist die Metaphysik des Dichters: er kämpft mit der Sprache, weil sie nicht ausreicht, seine Entdeckungen zu transportieren und er träumt von einer Sprache, die es nicht geben kann: eine Sprache in der sich alle Empfindungen ausdrücken und authentisch übertragen lassen. Doch manchmal gelingt ihm das Unmögliche und er überwindet die Barrieren zwischen Ich und Du, zwischen Dir und Mir, und das Unsagbare wird unmittelbar und der Eine fühlt, was der andere fühlt. Das ist das Wunder der Dichtung.
Die Realität der Sprache ist aber sehr viel profaner und ernüchternder:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Diese Zeilen sind lustig, aber haben einen bitteren Nachgeschmack. Irgendwann haben wir aufgehört die Welt mit den Augen eines Kindes zu betrachten und zu entdecken. Es sind Allgemeinbegriffe übrig geblieben, die jene Welt die wir erleben reduzieren und vereinfachen: da heißen Dinge Hund und Haus. Aber Hund ist nicht gleich Hund ist nicht gleich Hund. Die Welt besteht aus Einzeldingen, aber dem trägt die Sprache nicht Rechnung. Die Welt verändert sich und in Wahrheit ähnelt keine Empfindung einer anderen, aber unsere Begriffe bleiben angesichts dessen "starr und stumm". Was die Deutung der zweiten Strophe angeht, bin ich noch etwas ratlos: ich denke hier geht es weniger um die Sprache, sondern um die Erkenntnis und die Wissenschaft. Unsere Fähigkeit zu erkennen unterscheidet uns von anderen Lebewesen und macht uns gottgleich. Wir erforschen die Vergangenheit und sagen die Zukunft voraus. Die Kontinente sind entdeckt, die Berge bezwungen und vermessen. In der letzten Strophe dann die Warnung, die Klage des Dichters, über diese Grausamkeit der Vernunft, über diese Schattenseiten von Erkenntnis und Sprache. Vielleicht geht es auch um den Verlust der Inspiration, die der Dichter in einer derartigen Umgebung erfährt. Ihm, der Dinge singen hört, ist nichts selbstverständlich: ihm ist alles neu und seltsam. Er hat noch ein Auge für die Metamorphosen, von denen die Natur erfüllt ist.
Die letzte Strophe wiegt schwer: jeder Vers schließt mit einem Punkt und das Reimschema ist ein anderes [AABB] als in den Strophen zuvor [CDDC]. (Hatte der Dichter vielleicht zu Beginn ein Sonett beabsichtigt?) Dadurch gewinnt die letzte Strophe an Kraft, an Bedeutung und Eindringlichkeit. In ihr ist nichts mehr von dem lakonischen, spöttischen Ton der ersten beiden Strophen zu hören: sie hat plötzlich einen ernsten Tenor, ja sie ist geradezu dramatisch. Ein Schauer bleibt nach dem Lesen zurück. Als eine Besonderheit beachte man auch, daß jeder Vers mit einer männlichen Kadenz endet, sprich: betont.
gelbsucht 
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.
(Quelle: Rainer Maria Rilke: Gedichte. Verlag Philipp Reclam jun. 1997)
Einige Gedanken zu diesem Gedicht:
Das ist eines meiner absoluten Lieblingsgedichte des Dichters.
Eine Deutung ist immer eine von Millionen von Möglichkeiten und der Inhalt dieses Gedichtes mahnt ja bereits: versuche es nicht, schweige lieber, anstatt den Zauber der "Dinge" zu zerstören, in dem du den Mund aufmachst, indem du versuchst die passenden Worte zu finden für das Unaussprechbare. So bin ich, bevor ich beginne, also bereits gescheitert.
Dennoch ist es eine Erkenntnis, die dem Gedicht zugrunde liegt: in Wahrheit ist ein guter Dichter, ein begnadeter Poet kein Wortjongleur, kein Akrobat im Reimen, sondern ein guter Beobachter, der in die Welt blickt und sie anders und immer neu schaut, sich von ihr erfüllen läßt und an ihr leidet, anstatt mit den Meinungen und Begriffen, die Vernunft und Erziehung dem Menschen aufprägen, sie zu ordnen und zu entzaubern. Eben jemand, der die Dinge singen hört. Rimbaud hat das einmal so formuliert: "Ich sage, daß man Seher sein, sich zum Seher machen muß. Der Dichter macht sich zum Seher durch eine dauernde, umfassende und planvolle Verwirrung aller Sinne." Darum geht es: am Anfang steht, wie auch bei aller Philosophie, das Staunen. Aber der Dichter geht weiter: er sucht nach Versenkung, nach Identifikation, nach einer Wahrheit, die er erlangt, indem er selbst zum Behältnis wird, ein Behältnis, das seine Sinne, seine Empfindungen und Gefühle anfüllen. Der Philosoph dagegen sucht nach Behältern (Begriffen und Systemen), in die er die Welt abfüllen und unterteilen kann. Darin unterscheiden sie sich. Der Dichter ist am Anfang sprachlos, er steht vor der unermeßlichen, eigentlich unlösbaren Aufgabe, die Fülle, die unerträgliche Schönheit in Worte zu fassen. Der Dichter muß, wie Rimbaud sagt, "seine Erfindungen fühlbar, greifbar, hörbar machen; wenn das, was er von dort unten heraufbringt, Form hat, gibt er die Form, wenn nicht, gibt er das Formlose. Eine Sprache finden; diese Sprache wird von Seele zu Seele gehen und alles zusammenfassen, Düfte, Töne, Farben, den Gedanken, der sich dem Gedanken anhaftet und ihn nach sich zieht." Das ist die Metaphysik des Dichters: er kämpft mit der Sprache, weil sie nicht ausreicht, seine Entdeckungen zu transportieren und er träumt von einer Sprache, die es nicht geben kann: eine Sprache in der sich alle Empfindungen ausdrücken und authentisch übertragen lassen. Doch manchmal gelingt ihm das Unmögliche und er überwindet die Barrieren zwischen Ich und Du, zwischen Dir und Mir, und das Unsagbare wird unmittelbar und der Eine fühlt, was der andere fühlt. Das ist das Wunder der Dichtung.
Die Realität der Sprache ist aber sehr viel profaner und ernüchternder:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Diese Zeilen sind lustig, aber haben einen bitteren Nachgeschmack. Irgendwann haben wir aufgehört die Welt mit den Augen eines Kindes zu betrachten und zu entdecken. Es sind Allgemeinbegriffe übrig geblieben, die jene Welt die wir erleben reduzieren und vereinfachen: da heißen Dinge Hund und Haus. Aber Hund ist nicht gleich Hund ist nicht gleich Hund. Die Welt besteht aus Einzeldingen, aber dem trägt die Sprache nicht Rechnung. Die Welt verändert sich und in Wahrheit ähnelt keine Empfindung einer anderen, aber unsere Begriffe bleiben angesichts dessen "starr und stumm". Was die Deutung der zweiten Strophe angeht, bin ich noch etwas ratlos: ich denke hier geht es weniger um die Sprache, sondern um die Erkenntnis und die Wissenschaft. Unsere Fähigkeit zu erkennen unterscheidet uns von anderen Lebewesen und macht uns gottgleich. Wir erforschen die Vergangenheit und sagen die Zukunft voraus. Die Kontinente sind entdeckt, die Berge bezwungen und vermessen. In der letzten Strophe dann die Warnung, die Klage des Dichters, über diese Grausamkeit der Vernunft, über diese Schattenseiten von Erkenntnis und Sprache. Vielleicht geht es auch um den Verlust der Inspiration, die der Dichter in einer derartigen Umgebung erfährt. Ihm, der Dinge singen hört, ist nichts selbstverständlich: ihm ist alles neu und seltsam. Er hat noch ein Auge für die Metamorphosen, von denen die Natur erfüllt ist.
Die letzte Strophe wiegt schwer: jeder Vers schließt mit einem Punkt und das Reimschema ist ein anderes [AABB] als in den Strophen zuvor [CDDC]. (Hatte der Dichter vielleicht zu Beginn ein Sonett beabsichtigt?) Dadurch gewinnt die letzte Strophe an Kraft, an Bedeutung und Eindringlichkeit. In ihr ist nichts mehr von dem lakonischen, spöttischen Ton der ersten beiden Strophen zu hören: sie hat plötzlich einen ernsten Tenor, ja sie ist geradezu dramatisch. Ein Schauer bleibt nach dem Lesen zurück. Als eine Besonderheit beachte man auch, daß jeder Vers mit einer männlichen Kadenz endet, sprich: betont.

