Liebe Arja,Arja hat geschrieben:Ich wundere mich, auf welche Weise "verzeihen" Verwandtschaft mit Verzicht hat.
die etymologische Verwandtschaft (auf die ja Grimm hinweist) wird für mich am deutlichsten am (heute allerdings wenig gebräuchlichen) Verbum zeihen (Bedeutung 2)): jemanden eines Verbrechens zeihen, gleichbedeutend mit anklagen oder bezichtigen.
Das Präfix "ver" drückt im Deutschen oft eine Negation aus (:-) nicht immer: manchmal auch eine Verstärkung, wie in verstärken oder verneinen) --- dementsprechend bedeutet dann verzeihen, verzicht(ig)en: das nicht-Anklagen, also das Verzichten auf die Anklage.
Danke für Dein Nachfragen!
Der Gedanke: Gott verzichtet auf die Anklage könnte meiner Ansicht nach gut zu dieser Rilke-Zeile passen (und träfe sich vielleicht auch mit Deiner Sichtweise, lilaloufan - nicht wahr?), etwa so:
Gott verzichtet darauf, den sündigen Menschen anzuklagen und zu bestrafen. Ein Mensch kann in seinem Erdenleben jeglicher von außen kommenden Bestrafung für seine Sünden entgehen (und wie oft geschieht das auch tatsächlich so --- immer wieder spült das Leben offensichtlich "sündige" Menschen in allerhöchste Macht-Positionen...).
Anklage und Bestrafung bleiben also dem Menschen selber überlassen, seinem eigenen Gewissen.
Wenn das eigene Gewissen den Menschen anklagt und eine Bestrafung fordert, dann kann er Reue zeigen und, als freiwillig auf sich genommene "Strafe", versuchen, die Sache wieder gut zu machen (so gut das eben möglich ist). Das ist vielleicht nicht angenehm, man muß sich selbst überwinden, es kann auch peinlich sein... aber es ist noch kein Grund für ein Zittern vor Schreckensbildern, wie Hieronymus Bosch sie malt und Rilke sie in diesem Gedicht schildert.
Wenn aber ein Mensch die Stimme seines Gewissens nicht hört oder jedenfalls nicht beachtet, dann verzichtet dieser Mensch sowohl auf Selbstanklage als auch auf Bestrafung.
Und Rilke scheint mir nun anzudeuten, daß in einem solchen Fall die verdrängte Stimme des Gewissens auf andere Weise "weiterarbeitet" --- indem sie einen gnadenlosen Glauben an ein Jüngstes Gericht erzeugt, in dem Gott den sündigen Menschen nach seinem Tod in fürchterlicher Weise richten und strafen wird.
Und Rilke geht noch einen Schritt weiter: auch nach dem Tod des sündigen Menschen verzichtet Gott auf Anklage und Bestrafung.
Aber das bewirkt nicht etwa ein Frohlocken des Menschen, daß er nun "davongekommen" ist und in ewiger Seligkeit leben könnte, ohne sich weiter um die "Sünden" in seiner Vergangenheit zu kümmern. Sondern:
auch die dich niemals kannten, werden schrein
und deine Größe wie ein Recht begehren:
wie Brot und Wein.
[…]
Wenige Minuten
nach ihrem Morgen bricht ihr Abend ein.
Sie werden ernst und lassen sich allein
und sind bereit, im Sturme aufzusteigen,
wenn sich auf deiner Liebe heitrem Wein
die dunklen Tropfen deines Zornes zeigen,
um deinem Urteil nah zu sein.
Und da beginnt es, nach dem großen Schrein:
das übergroße fürchterliche Schweigen.
[…]
Sie warten lange. Ihre Schultern schwanken
unter dem Drucke wie ein dunkles Meer,
sie sitzen, wie versunken in Gedanken,
und sind doch leer.
Und so fürchterlich ist diese Leere, daß sogar der Allschauende Angst davor bekommen könnte, diesen Tag zu tragen,
der länger ist als aller Tage Längen - - -
Hier könnte sich eine Beziehung ergeben zu lilaloufans Celan-Zitat...
Was meint ihr dazu?
Herzlichen Gruß,
stilz