Vielen Dank,
Faun und
vivic, für diese schöne Frage und die erste Antwort!
Auch von mir ein paar Gedanken - ich habe zunächst mehr
Fragen als Antworten:
Es sind offenbar zwei mächtige „Wesen“, von denen hier die Rede ist: sie nehmen „alle in die Hand“, in einer Weise, die bestimmt, was mit diesen „allen“ weiter geschieht:
Dem „Einen“ der
ersten Strophe rinnen sie wie Sand durch die Finger. Unter dem Griff des „Einen“ der
zweiten Strophe brechen sie wie schlechte Klingen.
@
vivic: Du sprichst von den Gegensätzen „gut - böse“ oder „schön - häßlich“ (und ich kann gut nachvollziehen, was Du sagst!) - - - aber ich frage mich, ob diese Kategorien hier wirklich anwendbar sind.
Freilich gebraucht Rilke in der zweiten Strophe das Wort „böse“. Aber es ist ein „Böses“,
das andere sprechen...
Bei den Zeilen:
- Er ist kein Fremder, denn er wohnt im Blut,
das unser Leben ist und rauscht und ruht.
denke ich an den „Fluß-Gott des Bluts“.
Rilke sagt hier (1904) zwar,
- Ich kann nicht glauben, daß er Unrecht tut;
und hört nur
andere „Böses von ihm sprechen“, aber einige Jahre später, in der
dritten Elegie (1912) wird er selbst zweimal „wehe“ rufen angesichts eines durchaus nicht „Fremden“, der im Blut wohnt...
Und ich frage mich nun:
Ist der „Eine“ der ersten Strophe im Gegensatz dazu „gut“?
Ist es „gut“, nur die schönsten der Königinnen auszuwählen (was geschieht mit den weniger schönen?)?
Ist es „gut“, sie in weißen Marmor zu hauen, damit sie dann, ebenso wie die aus dem gleichen Stein gebildeten Könige, „still liegen in des Mantels Melodie“?
Das Kriterium „gut - böse“ scheint mir hier nicht ganz zu passen.
Versuchen wir es mit „schön - häßlich“:
In der ersten Strophe ist tatsächlich viel von „Schönheit“ die Rede - die schönsten Königinnen werden erwählt und in edlen weißen Marmor gehauen, und sicher sind auch die Statuen der Könige „schön“, die dieser „Eine“ zu ihren Frauen legt...
Wenn es sich hier wirklich um einen solchen Gegensatz handeln sollte, dann müßte konsequenterweise die zweite Strophe sich um „Häßliches“ drehen. Und freilich ist es nicht gerade „schön“, wenn „schlechte Klingen brechen“...
Aber wie ist es mit dem »Blut, das unser Leben ist und rauscht und ruht«? Kann das wirklich „häßlich“ sein?
Wie so oft, wenn ich mir nicht im klaren bin, wie ein Gedicht „deuten“ wäre, blicke ich auf die Gedichte, die Rilke ihm als „Nachbarn“ zur Seite stellt.
Die „Strophen“ stehen im „Buch der Bilder“ - sie beschließen des ersten Buches zweiten Teil.
Unmittelbar davor steht die
Ernste Stunde, und davor:
- Abend
Der Abend wechselt langsam die Gewänder,
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;
du schaust: und von dir scheiden sich die Länder,
ein himmelfahrendes und eins, das fällt;
und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt -
und lassen dir (unsäglich zu entwirrn)
dein Leben bang und riesenhaft und reifend,
so daß es, bald begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.
Hier haben wir wieder einen „Stein“. Aber er steht nicht für das „himmelfahrende“ Land, sondern er steht im Gegenteil für „eins, das fällt“...
Je länger ich die „Strophen“ betrachte, desto mehr machen sie auf mich den Eindruck eines Vexierbildes: mal scheint der „Eine“ der ersten Strophe „heller“ oder „sympathischer“ zu sein, mal der der zweiten... und ich bemerke: ich will mich nicht für einen der beiden
entscheiden müssen...
Was mir auch noch nicht so ohne weiteres deutlich wird, das ist „des Mantels Melodie“.
Was ist das für eine Melodie? Was für ein Mantel?
Hat es etwas zu tun mit der
Melodie der Dinge?
Oder vielleicht mit diesen Zeilen aus der oben erwähnten dritten Elegie:
- hinter den Schrank trat
hoch im Mantel sein Schicksal
?
Das Schicksal.
Nun denke ich an Goethe.
An seinen
Gesang der Geister über den Wassern, an den Gegensatz zwischen der
Seele und dem
Schicksal des Menschen.
Kann es sein, daß Rilke in der ersten Strophe das Schicksal besingt, in der zweiten dasjenige, das der Mensch diesem Schicksal „entgegensetzt“ bzw mithilfe dessen er es, oft vergeblich, zu „meistern“ sucht?
Fragenden Gruß in die Runde,
stilz