„Täglich stehst du mir steil vor dem Herzen“
Verfasst: 8. Mai 2013, 07:52
Dieses „Große Nocturne“ (Capri, 1906) kommt bisher im Forum nur an dieser Stelle vor; ich bin vorhin gefragt worden, ob es zu tun habe mit Rodins Höllentor, an dem Rodin von 1880 bis 1917 arbeitete.sedna in [url=http://rilke.de/phpBB3/viewtopic.php?p=12560#p12560]Posting #12560[/url] hat geschrieben:… Der Wiedererkennungswert stellt sich hin wie ein „Täglich stehst du mir steil vor dem Herzen …“!
Ich kannte das Gedicht bis eben nicht und konnte die Frage leider nicht beantworten – nach meinem gefühlsmäßigen Verständnis wollte ich allerdings ja sagen; es wäre jedenfalls sicher ein spannender Interpretationsansatz.
Wer weiß darüber etwas?
Hier das Gedicht:
- Täglich stehst du mir steil vor dem Herzen
Täglich stehst du mir steil vor dem Herzen
Gebirge, Gestein
(Ewig anwachsender Gott)
Wildnis, Unweg, Gott, in dem ich allein
Steige und falle und irre blindlings in mein
Gestern Gegangenes wieder hinein
Kreisend.
Weisend greift mich manchmal am Kreuz-
Weg der Wind
Wirft mich hinein in den Pfad der beginnt
Oder es trinkt mich ein Weg im Stillen;
Aber dein unbewältigter Willen
Zieht die Pfade zusamm wie Alaun
Bis sie als alte haltlose Rillen
Sich verlieren ins Abgrundsgraun.
Lass mich, lass mich, die Augen geschlossen
Wie mit verschluckten Augen lass
Mich, den Rücken an den Colossen,
Warten an deinem Rande dass
Dieser Schwindel mit dem ich verrinne
Meine hingerissenen Sinne
Wieder an ihre Stelle legt.
Regt sich denn alles in mir?______Ist kein Festes
Das bestünde auf seines Gewichts
Anrecht.______Mein Bangestes und mein Bestes
Und der Wirbel nimmt es wie nichts
Mit in die Tiefen.
Gesicht, mein Gesicht:
Wessen bist du; für was für Dinge
Bist du Gesicht?
Wie kannst du Gesicht sein für so ein Innen
Darin sich immerfort das Beginnen
Mit dem Zerfließen zu etwas ballt?
Hat der Wald ein Gesicht?
Steht der Berge Basalt
Gesichtlos nicht da?
Hebt sich das Meer
Nicht ohne Gesicht
Aus dem Meergrund her?
Spiegelt sich nicht der Himmel drin
Ohne Stirn ohne Mund ohne Kinn ?
Kommen einem die Tiere nicht
Manchmal als bäten sie: Nimm mein Gesicht.
Ihr Gesicht ist ihnen zu schwer
Und sie halten mit ihm ihr klein
Wenig Seele zu weit hinein
In das Leben.______Und wir
Tiere der Seele, verstört
Von allem in uns, noch nicht
Fertig zu nichts; wir weidenden
Seelen
flehen wir zu dem Bescheidenden
Nächtens nicht um das Nicht-Gesicht,
Das zu unserem Dunkel gehört?
Mein Dunkel, mein Dunkel, da steh ich mit dir
Und alles geht draußen vorbei;
Und ich wollte mir wüchse wie einem Tier
Eine Stimme, ein einziger Schrei
Für alles -; denn was soll mir die Zahl
Der Worte, die kommen und fliehn
Wenn ein Vogellaut vieltausendmal
Geschrien und wieder geschrien
Ein winziges Herz so groß macht und eins
Mit dem Herzen des Erlenhains
Und so hell und so hörbar für Ihn,
Der vor uns allen sooft es tagt
Aufsteigt wie lauter Gestein.
Und türm ich mein Herz auf mein Hirn und mein
Sehnen darauf und mein Einsamsein:
Wie wird das klein
Weil er es überragt.