Es ist ein wenig viel, was Du,
lilaloufan, geschrieben hast... und ich staune, was alles Rilke in diesem frühen Gedicht „in eine Handvoll Innres“ verwandelt haben soll.
Fast hätte es mir den Mut genommen, auch selber noch etwas dazu zu sagen... nun möchte ich es aber doch tun – denn irgendwie hab ich das Gefühl, die Frage, die
einfachebenich gestellt hat, ist noch immer nicht so richtig beantwortet (ich hoffe,
einfachebenich, Du liest noch mit!).
Vorausgeschickt: mit der Brentano’schen Psychologie bin ich nicht vertraut. Aber das schadet wohl nichts – denn dieses Gedicht macht auf mich nicht den Eindruck, als richte es sich an Lou
als Psychologin oder Psychoanalytikerin.
Du hast natürlich recht, es wird kein „Gefühl“ ausdrücklich erwähnt - dennoch ist in diesem Gedicht meiner Ansicht nach das angesprochen, was man gemeinhin „Gefühl“ nennt: die innere Empfindung, die wir erst dann benennen und in Begriffe fassen, wenn wir nach-
denken. Und erst dann unterscheiden wir wohl auch das „Fühlen“ vom „Wollen“, nicht wahr? Bis dahin verfließen diese beiden Empfindungen in eines...
Und ja: ich empfinde dieses Gedicht durchaus „romantisch gefärbt“. Du wirklich nicht?
- … Und dein Haar, das niederglitt,
nimm es doch dem fremden Winde, –
an die nahe Birke binde
einen kußlang uns damit.
Ich denke bei der Birke nicht vor allem an die Haut (schon gar nicht an die Milben
), sondern ich empfinde den Gegensatz zwischen dem
fremden Wind, der von
weither kommt und auch wieder
weithin fortweht, und der
nahen Birke: das Ich will dem Du nahe sein und diese Nähe (und damit das „Wir“) für die Dauer eines Kusses „festhalten“ – die Birke ist nah und fest verwurzelt (zudem ist sie, mit ihren langen, zartbelaubten, tanzenden Zweigen und dem schlanken weißen Stamm, der „weiblichste“ Baum, den ich kenne).
- Dann: zu unseren Gelenken
wird kein eigner Wille gehn.
Das, wovon die Zweige schwenken
das, woran die Wälder denken
wird uns auf und nieder wehn.
Kein eigner Wille also - aber doch auch nicht das, was die
Tiere (oder die Menschen auf der Parkbank
) treibt, sich zu paaren.
Sondern Rilke spricht hier wieder nur von den
Bäumen. Und auch nicht einmal von ihren Blüten und den sie bestäubenden Insekten. Sondern es geht ihm um das, »wovon die Zweige schwenken«, um das, »woran die Wälder denken«...
davon will er sich, gemeinsam mit dem „Du“, »auf und nieder wehn« lassen.
Das paßt zum „Wind“ aus der ersten Strophe - und ich denke an das (allerdings viel spätere) Gedicht vom
Frühlingswind, mit dem das Schicksal kommt...
Spricht Rilke hier also vielleicht von der Sehnsucht, ein Schick-sal zu haben, dem man sich einfach „hingeben“ könnte, ohne sich ihm in irgendeiner Weise „stellen“, es aktiv „ergreifen“ zu müssen... ?
- Näher an das Absichtslose
sehnen wir uns menschlich hin;
laß uns lernen von der Rose
was du bist und was ich bin …
»
Mit Absicht handeln ist das, was den Menschen über geringere Geschöpfe erhebt«, sagt Lessing.
Und dennoch sehnen wir uns, sagt Rilke,
menschlich dorthin, wo wir dem „Absichtslosen“ näher wären...
Wenn Rilke von der Rose spricht, denke ich ja zuallererst an die „intransitive Liebe“, von der wir hier im Forum schon oft gesprochen haben.
In diesem Gedicht aber will Rilke etwas anderes von der Rose lernen:
»was du bist und was ich bin ...«
Es geht hier also wohl nicht nur um die Definition der „Grenze“
zwischen Ich und Du, von der Du,
lilaloufan, sagst, sie sei „
ja zugleich „kusslang“ aufgehoben ... wie respektabler geworden“, sondern überhaupt um den Unterschied zwischen „Ich und Nicht-Ich“ bzw „Du und Nicht-Du“...
Diese „Grenze“, dieser Unterschied zwischen „innen“ und „außen“, ist bei der Rose nicht so klar definiert wie bei Tier oder Mensch - denn ihre Blütenblätter bilden keine geschlossene „Außenhaut“.
Dennoch steht ihre Blüte nicht ganz ungeschützt offen, nimmt nicht unterschiedslos
alles auf, was von außen an die Rose herandrängt. Es sind sehr viele zarte „Schichten“, die beispielsweise eine Biene (oder auch: ein „Wind“) behutsam zu „überwinden“ hat... und es braucht Geduld: die
Knospe der Rose ist zunächst noch vollständig geschlossen. Sie öffnet sich erst mit der Zeit - es gibt eine wunderbare Stelle in der Erzählung
Der Totengräber, da öffnen sich zwei harte, schwere Rosenknospen, nachdem sie auf die Augenlider einer Verstorbenen gelegt wurden (
hier habe ich das mal im Zusammenhang mit Rilkes „Grabspruch“ zitiert).
In Behutsamkeit und Wärme also öffnen sich die Rosenblüten - und werden dann zugänglich bis auf den tiefsten Grund ihrer Blüte, den sie dennoch gleichzeitig wie schamhaft verhüllen, sich wie schützend gegen allzu „Neugieriges“, „Zudringliches“...
Die Biene aber, die behutsam alle Blütenblätter durchwandert, sie gleichsam zärtlich nachzeichnet - ihr gelingt es, zu den kostbaren Staubgefäßen zu gelangen.
Man sollte dabei nicht vergessen, daß die Rose mithilfe ihrer Stacheln sehr deutlich dafür sorgt, daß man sich ihr mit dem gebotenen Respekt nähert (Rilke bekam das spätestens gegen Ende seines Lebens
schmerzlich zu spüren) ...
Ja. Es geht wohl einerseits darum,
sich einander zu erkennen zu geben, oder, wie
lilaloufan so schön formuliert hat, „
hingegeben einander Einblick [zu] geben in die ungehobenen Schätze in den Tiefen der Seele“.
Andererseits geht es aber auch darum,
sich selbst zu erkennen:
- laß uns lernen von der Rose
was du bist und was ich bin …
Und wieder denke ich an das Gedicht „Ein Frühlingswind“:
- Ein Frühlingswind
Mit diesem Wind kommt Schicksal; laß, o laß
es kommen, all das Drängende und Blinde,
vor dem wir glühen werden -: alles das.
(Sei still und rühr dich nicht, daß es uns finde.)
O unser Schicksal kommt mit diesem Winde.
Von irgendwo bringt dieser neue Wind,
schwankend vom Tragen namenloser Dinge,
über das Meer her was wir sind.
.... Wären wirs doch. So wären wir zuhaus.
(Die Himmel stiegen in uns auf und nieder.)
Aber mit diesem Wind geht immer wieder
das Schicksal riesig über uns hinaus
Wenn wir das wären,
was wir sind, dann stiegen die Himmel
in uns auf und nieder - und wir brauchten keinen
eignen Willen, keine
Absicht mehr, um uns einem „äußeren“ Schick-sal zu „stellen“ ...
Ist es das, was wir von der Rose lernen könnten?
Ich denke auch an die
Lilien auf dem Felde (Matthäus 6, 25-34)...
Und noch eine Zeile fällt mir ein, aus der
Siebenten Elegie:
- Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen.
Wie man sieht, ist es auch mir nicht gelungen, mich kurz zu fassen, und auch vielleicht nicht einmal, mich verständlich zu machen - das kannst Du,
helle, sehr viel besser:
»
Laß mich blühen und noch gut duften dabei! Das wär doch was!«
@
einfachebenich: Kannst Du mit etwas aus unseren Antworten etwas anfangen? Wie verstehst
Du inzwischen dieses Gedicht?
Herzlichen Gruß,
stilz
P.S.: Ich gestehe: ich habe an diesem Text gefeilt, bis ich ihn für würdig befand, aus meiner inneren „Werkstatt“ hierher gestellt zu werden...
P.P.S.:
Wirklich,
lilaloufan: nehmt Ihr
Birken als Maibäume - na sowas. Bei uns sind es immer Nadelbäume...