Stefano, willkommen im Formu! (Hiermit ist der köstliche Tippfehler ausgeglichen *schmunzel*.)
Stefano hat geschrieben:Kann man diese Forumlierung als einen Glauben an einen Gott interpretieren, der aber nicht zwangsläufig im hergebrachten und traditionellen Wege verehrt werden muss, also in der Kirche, sondern fernab von Litaneien inmitten seiner eigenen Schöpfung, also in Wald und Wiese?
fragst Du.
Dieses Gedicht des bald drei Mal sieben Jahre alten Jurastudenten stammt ja aus einer Zeit, da Rilke einerseits sich von der frömmelnden Bigotterie seiner Mutter absetzt, andererseits selbst eine innige Beziehung zur Vatergottheit ausbildet, die er in monotheïstischen Religionen wie der jüdischen und der islamischen anziehend findet (drei Jahre später beginnt in innerem Dialog die Arbeit am „Stundenbuch“).
Insofern ringt Rilke da mit „Glauben“, ja. Aber Du schreibst: „Glauben an einen Gott…“ Ich würde bei Rilke durchaus weiter gehen in der Entkonfessionalisierung dieses Begriffes.
Ich lese in dem Wort „Glauben“ an dieser Stelle eher eine Seelenstimmung, man könnte auch sagen eine Bewusstseinshaltung, eine innere Übung der Tugend, ganz unabhängig von irgendeinem Gottesbegriff sogar. Anrufungen an einen Gott, Gebetsartiges, dergleichen tritt ja erst im Stundenbuch auf. Von den „frommen Hirten“ des Lukasevangeliums ist hier nur metaphorisch die Rede, und das „Jesuskind“ ist ein „neues“, nicht ausgesprochenerweise das biblisch-historische.
Nun sprichst ja auch Du in Deiner Frage die vatergöttliche Werkwelt an, die „Schöpfung“, „Wald und Wiese“, und zu Recht, denn Rilke dichtet: „Flur und Flut“, Geo- und Hydrosphäre.
Aber nach dem „und“ spricht er nur noch vom seelischen Innenraum: „in die Herzen“.
Das menschliche traumgleiche
Gemüt also ist es, das an die Stelle von Gotteshäusern tritt; die Menschenseele selbst wird zum bildnislosen Tempel. Das Wunder des nächtlichen Naturbilds wirkt dann
dort.
Daher stimme ich Dir zu, dass es um einen nicht von kirchlicher Institution vermittelten und in „Litaneien“ rituell gepflegten und gelebten Glauben geht, aber die Alternative ist nicht als ein spinozistisches Frommwerden an der
Natur, „in Wald und Wiese“, gedacht, sondern als ein „in die Herzen“ hinaufverlegter Akt, der „leise seine Wunder tut”.
Welcherart leise vollzogene Wunder gibt es da?
Das entschlüsselt sich mir, wenn ich davon ausgehe, dass die Seele nicht nur ein Tag-Erleben in dem mit wachen Sinnen und mit dem ganzen Spektrum von Ausdrucksformen für Lust und Begehren bis Angst und Aggression ausgestatteten Leib kennt, sondern auch eine Nacht-Seite hat, ein Dasein jenseits des Gebundenseins an Organe und Lebensprozesse. Von dieser Daseinssphäre bringen wir ja oft des Morgens etwas mit in den Tag: die Lösung eines am Abend begrübelten Problems, einen ins Positive gewendeten Affekt, eine Einsicht in Zusammenhänge, dort wo wir am Abend nur Einzelheiten sahen. Wunderweiße Nächte der Seele sind es, in denen wir gleichsam etwas von dem Schimmern unserer biographischen Visionen, vom linden Glanz des unser Leben begleitenden oder überstrahlenden Stern in uns aufnehmen und uns das wie in Silber gefasste Bild vergegenwärtigen dessen, der wir sind oder werden wollen.
Das leiseste und doch größte Wunder geschieht immer dann, wenn wir etwas aus dieser „weit“ erscheinenden Flur und Flut, die weit mehr umfasst als den uns bekannten Umkreis, in unser Tag-Leben und –Erleben mitbringen. Christian Morgenstern hat in seinem Gedicht: «Abendweise» diese Verhältnisse aus der quasi gegenüberliegenden Perspektive angesprochen:
- Wunder-voller Hain der Nacht,
den wir Tag um Tag betreten,
drinnen Tag um Tag wir beten,
zueinander tief erwacht …
Wölbe deiner Wipfel Pracht
über unserm stillen steten
Opfer, aus emporgewehten
Seelenflammen fromm gebracht!
Ich sehe es an als das Wunder, dass
• Erkenntnis meines eigenen Wesens und
• Liebe zu der Welt um mich her
koïnzidieren können.
Imaginationen dieser Art wären ein „kapellenloser Glaube“, nun nicht an einen Gott im Himmel, sondern Glaube gegenüber einem Ewigen in der Menschenseele, wie ich es hier manchmal als das «Ich» bezeichnet habe.
Ein solcher „Glaube“ braucht keine pfäffischen Vermittler – sie würden Rilke nur stören: „
Die starke innerlich bebende Brücke des Mittlers hat nur Sinn, wo der Abgrund zugegeben wird zwischen Gott und uns –; aber eben dieser Abgrund ist voll vom Dunkel Gottes, und wo ihn einer erfährt, so steige er herab und heule drin (das ist nötiger, als ihn zu überschreiten). Erst zu dem, dem auch der Abgrund ein Wohnort war, kehren die vorausgeschickten Engel um, und alles tief und innig Hiesige, das die Kirche ans Jenseits veruntreut hat, kommt zurück; alle Engel entschließen sich, lobsingend zur Erde!“, schreibt Rilke siebenundzwanzig Jahre später, 22. Februar 1923, an Ilse Jahr.
So betrachtet ist dieses Gedicht nicht „Weihnachtsgedicht“ mit Blick auf das Weihnachten der Zeitenwende, sondern allenfalls im Sinne des: „
Wär' Christus tausendmal zu Bethlehem geboren, doch nicht in dir: Du bliebst noch ewiglich verloren.“ (
Angelus Silesius, 1674)
l.