Wenn eine Moderatorin in den Sommerferien länger nicht hereinschaut, denkt man sich nichts dabei (zumal wenn man weiß, daß sie Lehrerin ist); wenn sie auch danach nicht zurückkehrt, beginnt man sich zwar Sorgen zu machen... aber man weiß nicht recht, wen man fragen könnte, ob auch „alles in Ordnung“ ist...
Gestern habe ich erfahren, daß Christiane, „unsere“ gliwi, nicht mehr am Leben ist.
Ihr allerletztes posting bezog sich auf das Gedicht „Le verger“ - sie fragte nach einer guten deutschen Übersetzung.
Da ist die Rede von einem Ort, wo alles zusammentrifft, was uns bleibt, was ins Gewicht fällt und was uns nährt...
Vor ein paar Jahren schrieb sie, zu dem Gedicht „Die Blätter fallen...“:
Dieses „kleine peut-être“ - nun hat sie es wohl herausgefunden.gliwi hat geschrieben: ... es ist ja wohl so, dass dieser kleine bewohnte Planet durch die beständige Ausdehnung des Alls irgendwohin treibt und dass seine Bewohner womöglich völlig alleine im All sind. Diesen Gedanken finde ich total deprimierend. Und da kommt nun Rilke und sagt. Wir treiben nicht ziellos durchs All, und wir sind nicht alleine. Einer, wie auch immer er/sie beschaffen sein mag, umfängt uns, empfängt uns, dessen bin ich gewiss. Selbst wenn man diese Gewissheit nicht teilt, hat diejenige Rilkes etwas Tröstliches. Vielleicht umfängt uns ja doch einer? Ein kleines peut-être, wie ein anderer kluger Mann einmal gesagt hat.
Lieben Gruß
Christiane
»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT«
So stand es unter jedem ihrer postings zu lesen.
Dieser Maxime ist sie immer treu geblieben.
Es ist in ihren Beiträgen sehr deutlich zu spüren: Christiane war eine leidenschaftliche Lehrerin. Es war ihr ein großes Anliegen, junge Menschen zu „erziehen“ - zu klarem, selbständigen Denken vor allem.
Und so sehr sie jederzeit bereit war, auf echte Fragen zu antworten, bei Verständnisschwierigkeiten zu helfen, mit jedem „Neuzugang“ in ein Gespräch zu kommen -, so bestimmt war auch ihre Abwehr, wenn jemand dem eigenständigen Denken ausweichen, jede eigene Anstrengung vermeiden und einfach nur eine gute Hausaufgabe geschrieben bekommen wollte... denn das hätte schließlich für den Fragesteller in gewisser Weise „selbstverschuldete Unmündigkeit“ bedeutet; und dazu wollte „unsere“ gliwi nicht beitragen.
In ihrem Umgang mit Gedichten, mit dem Thema „Interpretation“, bemühte sie sich stets um eine gesunde Mitte zwischen schwärmerischem Abheben in Regionen, in denen rosarote Nebelschwaden jedes klare Bewußtsein trüben, und allzu analytischem Zerpflücken, bis nichts „Erhebendes“ mehr übrigbliebe:
Ihr Lieblingsgedicht, das hat sie öfter erwähnt, war die „Blaue Hortensie“ - und gerade hier achtete sie sehr darauf, sich in der Interpretation nicht von dem zu entfernen, was Rilke tatsächlich geschrieben hat:gliwi hat geschrieben:hallo kunle,
dazu zwei Zitate, eines von Emil Staiger, dem großen Interpreten: "Begreifen, was uns ergreift." Und eines von Goethe. "Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen."
Gruß
gliwi
- So wie das letzte Grün in Farbentiegeln
sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh,
hinter den Blütendolden, die ein Blau
nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln.
Sie spiegeln es verweint und ungenau,
als wollten sie es wiederum verlieren,
und wie in alten blauen Briefpapieren
ist Gelb in ihnen, Violett und Grau;
Verwaschnes wie an einer Kinderschürze,
Nichtmehrgetragnes, dem nichts mehr geschieht:
wie fühlt man eines kleinen Lebens Kürze.
Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen
in einer von den Dolden, und man sieht
ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen.
Christiane war mir immer eine sehr wertvolle Gesprächspartnerin - gerade auch dort, wo wir nicht einer Meinung waren.
Und ich bin heute noch beeindruckt von der Entschiedenheit, mit der sie bei verschiedenen Gelegenheiten gegen jede Kriegsverherrlichung, gegen Ausländerfeindlichkeit und für die Gleichberechtigung der Frau auftrat.
Im August 2006 diskutierten wir über das „Schlußstück“:
- Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.
Einige Monate später erklärte gliwi sich bereit, hier im Forum als Moderatorin zu fungieren.gliwi hat geschrieben: p.s. Ich wollte es eigentlich nicht schreiben, aber nachdem du das geschrieben hast, Ingrid,möchte ich noch anhängen, dass er auch in mir seit kurzem laut vernehmlich ist, nachdem ich mich auch "mitten im Leben" meinte, und dass dieses Gedicht das erste war, das mir zu meiner Situtation einfiel. Ja, es ist wirklich eines der ganz großen Gedichte in deutscher Sprache.
Diese Aufgabe hat sie sehr ernst genommen. Das umfaßte nicht nur das sicherlich oft mühsame „Aufräumen“, wenn das Forum wieder mal von SPAM-Attacken heimgesucht wurde, sondern sie beobachtete auch sehr aufmerksam, wie die Forumsteilnehmer miteinander umgingen, und hat so manches freundlich mahnende Wort an die Gesprächsrunde gerichtet... das Rilke-Forum lag ihr spürbar am Herzen, sie wurde nicht müde, sich dafür einzusetzen (und wir wußten nicht, wissen es heut noch nicht, was es sie gekostet haben mag...).
Ihr Tod hinterläßt eine schmerzliche Lücke in unserem Forum.
Und ich spüre so etwas wie einen „Auftrag“ - er geht an uns alle:
gliwi hat geschrieben: Durch Vorbildlichkeit bewirkt man angeblich mehr als durch Tadel. ... und was ich mir wünsche, ist, dass Ihr alle hierbleibt und dieses Forum lebendig haltet. In diesem Sinne
Gruß
gliwi
Liebe Christiane - ich danke Dir sehr herzlich dafür, daß Du da warst, daß wir hier zwar nicht Dich persönlich, aber doch etwas von Deinem Wesen kennenlernen durften - und ich bin sehr dankbar dafür, daß Deine knapp tausend Beiträge uns erhalten bleiben und wir uns beim Lesen auch weiterhin in gewisser Weise mit Dir verbinden können.
Wir werden Dich nicht vergessen.