Lieber lilaloufan, vielen Dank für Deinen Hinweis!
Ja - das hatte ich tatsächlich überlesen, daß das Wörtlein "ihrer" natürlich nicht nur wie das englische "her", sondern auch wie "their" verstanden werden kann.
- Er vermochte niemals bis zuletzt
ihr zu weigern oder abzuneinen,
daß sie ihrer Liebe sich berühme;
Das macht mich sehr nachdenklich - und ich kann es mir nun nicht mehr genau erklären, wieso für
mich hier dennoch noch immer die Farbe des englischen "her" überwiegt.
Aber dann lese ich die russische Übersetzung Maxim Sedunows:
- Ему не случалось до этого раза
Хоть в чём-то ответить ей словом отказа,
Он видел, как любит и этим горда.
Ich kann nicht besonders gut Russisch, und vielleicht verstehe ich es gar nicht richtig, ich würde das etwa so zurück-übersetzen:
Bis zu diesem Male hatte er es nicht vermocht (wörtlich ein bisserl „neutraler“ als im Deutschen: es hatte sich für ihn nicht ergeben), ihr mit irgendeinem Wort der Abwehr zu antworten, (als) er sah, wie sie liebte und darauf stolz war (oder: wie sie auch dieses darauf-stolz-Sein liebte?).
Nun weiß ich zwar nicht, ob meine Übersetzung stimmt (этим горда habe ich ziemlich sicher falsch übersetzt, das wird mir wörtlich nicht ganz klar...) - aber genau
so begreife
ich den Beginn von Rilkes Gedicht.
Das ändert natürlich nichts daran, daß meine Interpretation weiter oben insofern ungenau bzw allzu persönlich gefärbt ist, als ich zu Rilkes "
ihrer Liebe“ das „zu ihm"
hinzugefügt habe.
Lieber Rastislav, Du hattest mich per PN nach dem Konjunktiv („berühme“) bei Rilke gefragt, bzw warum ich "verlieh" schreibe und nicht ebenfalls den Konjunktiv Präsens verwende.
Ich will Deine Frage hier öffentlich beantworten, weil ich entdecke, daß auch
das mit meiner persönlichen Interpretation zu tun hat.
Ich schrieb, etwas gedankenlos, „verlieh“, also Indikativ Imperfekt, weil ich unbewußt davon ausging: da er es ihr bisher nicht versagt hatte, sich ihrer Liebe zu „berühmen“, wird sie's wohl getan haben. Und wenn sie’s wirklich getan hat, dann wäre
meinem grammatikalischen Verständnis nach der
Indikativ die angemessene Form.
Nun aber bringst Du mich durch Deine Frage dazu, genauer zu lesen (danke!), und ich sehe Rilkes Konjunktiv „berühme“.
Und dadurch verändert sich für mich das Bild: ich habe nun den Eindruck, daß sie in ihrem bisherigen Leben sich ihrer Liebe
nicht „berühmt“ hat, daß sie
erst jetzt , da er am Kreuze hängt, eine gewisse Art von „Trost“ sucht darin, „in dem Kostüme des Schmerzes“ ans Kreuz zu sinken... und daß es gerade das öffentliche Zeigen ihres Schmerzes ist, das er ihr bis zum letzten Augenblick seines irdischen Lebens nicht verweigern konnte.
Ja - Konjunktiv Präsens muß es natürlich sein in meiner „Nacherzählung“ - danke für Dein aufmerksames Lesen!:
Bis zum letzten Augenblick seines Lebens brachte er es nicht übers Herz, es ihr zu versagen/verbieten, daß sie ihrer Liebe (öffentlich, in „gesellschaftlich üblicher“, etwas „stolz-besitzergreifend-vereinnahmender“ Weise) Ausdruck verleihe.
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Bevor ich noch eine weitere Frage stelle, hier das ganze Gedicht:
- Der Auferstandene
Er vermochte niemals bis zuletzt
ihr zu weigern oder abzuneinen,
daß sie ihrer Liebe sich berühme;
und sie sank ans Kreuz in dem Kostüme
eines Schmerzes, welches ganz besetzt
war mit ihrer Liebe größten Steinen.
Aber da sie dann, um ihn zu salben,
an das Grab kam, Tränen im Gesicht,
war er auferstanden ihrethalben,
daß er seliger ihr sage: Nicht –
Sie begriff es erst in ihrer Höhle,
wie er ihr, gestärkt durch seinen Tod,
endlich das Erleichternde der Öle
und des Rührens Vorgefühl verbot,
um aus ihr die Liebende zu formen
die sich nicht mehr zum Geliebten neigt,
weil sie, hingerissen von enormen
Stürmen, seine Stimme übersteigt.
Meine Frage bezieht sich auf den Beginn der dritten Strophe: „Sie begriff es erst in ihrer Höhle“.
Wie versteht Ihr die „Höhle“?
Ob
diese hier gemeint ist?
Daß Du, lilaloufan das Gemälde von Jules-Joseph Lefebvre »Marie Madeleine dans la Grotte« verlinkt hast, scheint ja dafür zu sprechen...
Herzlichen Gruß,
Ingrid