Atmen, du unsichtbares Gedicht
Verfasst: 16. Jun 2011, 18:12
Liebe Rilkeaner,
Sonette an Orpheus, Zweiter Teil, #1
Ein ganz besonders Sonett, soll das letzte Orpheus Sonett sein das R geschrieben, und auch das freieste in der Form. Der Inhalt gibt mir noch immer Muehe, ersten das “sparsamste Meer,” zweitens der Baum welcher ploetzlich in den letzten zwei Zeilen auftaucht.
Es handelt sich, jedenfalls oberflaechlich, von Atmen, vielleicht metaphorisch auch von Dichten. R beschreibt Atmen als ein Austausch zwischen den Menschen und etwas Auesseres, also zwischen den Lungeninhalt des Poeten und die Luft oder Erdatmosphaere. Das stimmt ja, physikalisch, und daraus schoepft R den Gedanken, dass das Luftmeer schon vieles von seinem inneren Inhalt enthaelt oder “kennt” ; wir koennten sagen dass das grosse Luftgefaess und das kleine sich irgendwie spiegeln oder repraesentieren. Ein netter Gedanke, wunderbar ausgedrueckt:
Wieviele von diesen Stellen der Raueme waren schon innen in mir?
Manche Winde sind wie mein Sohn.
Erkennst du mich, Luft, du voll einst meiniger Orte?
Aus diesen Gedankengang versuche ich mir das “sparsamste Meer” zu erklaeren. Der “Raumgewinn” ist klar, wenn ich annehmen kann, dass der Dichter hier von seinem eigenen Lungen spricht; dann sind diese irgendwie eine Stichprobe (Eng: representative sample) der Atmosphaere, eine kleine Welt welche ungefaehr die gleiche Mischung der Materialen enthaelt wie die grosse. Leider wiedersprechen die Pronomina der zweiten Strophe meine Interpretation:
Einzige Welle, deren
allmaehliches Meer ICH bin;
sparsamstes DU von allen moeglichen Meeren, -
Raumgewinn.
Hier spricht doch der Dichter (also Rilke oder Orpheus), und wenn DU sich auf ein Meer bezieht, muss es ja das Luftmeer der auesseren Welt sein. Oder? Man koennte wahrscheinlich einen Aufsatz schreiben ueber die Verwendung von ICH und DU in diesem Gedicht. Ueberall in Rilke finde ich Pronomina oft in einem unlogischen Fluidum schweben. Man weiss oft nicht worauf sie sich beziehen.
Was meint ihr dazu?
Dann der Baum. Hier benutze ich Beziehungen zu anderen Gedichten. Die erste Reihe der Orpheus Sonette beginnen bekanntlich auch mit einem Baum,
Da stieg ein Baum.
und dieser ein Symbol des Orphischen Gesanges. Sind Baueme bei R denn oft Symbole des kuenstlerischen Ausdrucks? Auch in Orpheus II, #XVIII (Taenzerin…) ist Vera’s Tanz als ein “Baum der Bewegung” beschrieben. Koennten wir sagen dass dieses Gedicht wirklich ueber das Dichten ist? Dann ist das Einatmen die Welterfahrung des Dichters, und seine Werke das Ausatmen. Gehe ich hier in der richtigen Richtung?
Zum Schluss muss ich noch betonen dass man ja nie mit einem wirklich gueltigen Gedicht logisch fertig wird. Es muss immer noch Geheimnisse geben, und obwohl ich dieses Gedicht vielleicht nie ganz verstehen werde, kenne ich es schon lange auswendig, und wenn ich es sage, hat es einen wunderbaren Atem!
-vivic (Vito Victor)
Sonette an Orpheus, Zweiter Teil, #1
Ein ganz besonders Sonett, soll das letzte Orpheus Sonett sein das R geschrieben, und auch das freieste in der Form. Der Inhalt gibt mir noch immer Muehe, ersten das “sparsamste Meer,” zweitens der Baum welcher ploetzlich in den letzten zwei Zeilen auftaucht.
Es handelt sich, jedenfalls oberflaechlich, von Atmen, vielleicht metaphorisch auch von Dichten. R beschreibt Atmen als ein Austausch zwischen den Menschen und etwas Auesseres, also zwischen den Lungeninhalt des Poeten und die Luft oder Erdatmosphaere. Das stimmt ja, physikalisch, und daraus schoepft R den Gedanken, dass das Luftmeer schon vieles von seinem inneren Inhalt enthaelt oder “kennt” ; wir koennten sagen dass das grosse Luftgefaess und das kleine sich irgendwie spiegeln oder repraesentieren. Ein netter Gedanke, wunderbar ausgedrueckt:
Wieviele von diesen Stellen der Raueme waren schon innen in mir?
Manche Winde sind wie mein Sohn.
Erkennst du mich, Luft, du voll einst meiniger Orte?
Aus diesen Gedankengang versuche ich mir das “sparsamste Meer” zu erklaeren. Der “Raumgewinn” ist klar, wenn ich annehmen kann, dass der Dichter hier von seinem eigenen Lungen spricht; dann sind diese irgendwie eine Stichprobe (Eng: representative sample) der Atmosphaere, eine kleine Welt welche ungefaehr die gleiche Mischung der Materialen enthaelt wie die grosse. Leider wiedersprechen die Pronomina der zweiten Strophe meine Interpretation:
Einzige Welle, deren
allmaehliches Meer ICH bin;
sparsamstes DU von allen moeglichen Meeren, -
Raumgewinn.
Hier spricht doch der Dichter (also Rilke oder Orpheus), und wenn DU sich auf ein Meer bezieht, muss es ja das Luftmeer der auesseren Welt sein. Oder? Man koennte wahrscheinlich einen Aufsatz schreiben ueber die Verwendung von ICH und DU in diesem Gedicht. Ueberall in Rilke finde ich Pronomina oft in einem unlogischen Fluidum schweben. Man weiss oft nicht worauf sie sich beziehen.
Was meint ihr dazu?
Dann der Baum. Hier benutze ich Beziehungen zu anderen Gedichten. Die erste Reihe der Orpheus Sonette beginnen bekanntlich auch mit einem Baum,
Da stieg ein Baum.
und dieser ein Symbol des Orphischen Gesanges. Sind Baueme bei R denn oft Symbole des kuenstlerischen Ausdrucks? Auch in Orpheus II, #XVIII (Taenzerin…) ist Vera’s Tanz als ein “Baum der Bewegung” beschrieben. Koennten wir sagen dass dieses Gedicht wirklich ueber das Dichten ist? Dann ist das Einatmen die Welterfahrung des Dichters, und seine Werke das Ausatmen. Gehe ich hier in der richtigen Richtung?
Zum Schluss muss ich noch betonen dass man ja nie mit einem wirklich gueltigen Gedicht logisch fertig wird. Es muss immer noch Geheimnisse geben, und obwohl ich dieses Gedicht vielleicht nie ganz verstehen werde, kenne ich es schon lange auswendig, und wenn ich es sage, hat es einen wunderbaren Atem!
-vivic (Vito Victor)