Ich bin derselbe noch, der kniete...

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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stilz
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von stilz »

Liebe sedna,

heut nur kurz, es ist grad nicht viel Zeit.

Zuerst einmal:
sedna hat geschrieben: na ich wäre aber nicht auf die Idee gekommen, diese sinnliche Wirkung, die so gut ins neue Bild paßte durch ein Wörterbuch in Frage zu stellen :shock: :)
Es lag mir fern, die "sinnliche Wirkung" eines Wortes aus einem Rilke-Gedicht "durch ein Wörterbuch in Frage zu stellen". Ich habe ja auch nicht ein beliebiges Wörterbuch herangezogen, sondern eben den "Grimm" - denn ich weiß, daß das ein Buch ist, dessen Reichtum Rilke sehr zu schätzen wußte.
Und schließlich ist ja in meinem Grimm-Zitat eben diese sinn-liche Wirkung enthalten...


Und dann noch eine kleine Bemerkung zu dem, was Du als Deinen "Dauerfehler" bezeichnest:
Ich bin immer davon ausgegangen, daß das Wort "Wort" zwei Pluralformen hat: "Wörter" dort, wo es sich um zusammenhanglose Aneinanderreihungen handelt (nicht einmal Du sagst "Wortebuch", nicht wahr? :wink: ), "Worte" dort, wo sie gemeinsam einen Sinn ergeben, der erst durch die Mehrzahl möglich wird.
(Und ich schau jetzt nicht nach, was Grimm dazu sagt - wie gesagt, keine Zeit! :D )

Danke fürs Zitieren eines meiner Lieblingsgedichte!

Herzlichen Gruß,

stilz
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sedna
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von sedna »

stilz hat geschrieben: Es lag mir fern, die "sinnliche Wirkung" eines Wortes aus einem Rilke-Gedicht "durch ein Wörterbuch in Frage zu stellen".
Das möchte ich nicht als Vorwurf verstanden wissen, denn Du warst ja gedanklich gar nicht in meinem Bild. Im Gegenteil, mir ist durch den Hinweis etwas über die Herangehensweise eines Lyrik-Übersetzers klar geworden, der ja im Gegensatz zu uns Lesern gerade sehr viel mit Wörterbüchern arbeiten und überprüfen muß, welches Wort Sinn macht. Und gerade im Spezialfall Rilke wird ihm zwar gewissermaßen mehr Freiraum gegeben, er könnte aber vielleicht an dieser Stelle das Erhebende im "empört sein" durch "empor" vielleicht durch Herleitungen von vornherein ausgeredet bekommen, das heißt, das Bild kann gar nicht erst entstehen, weil die Farbe fehlt, oder so.
stilz hat geschrieben:Ich bin immer davon ausgegangen, daß das Wort "Wort" zwei Pluralformen hat: "Wörter" dort, wo es sich um zusammenhanglose Aneinanderreihungen handelt (nicht einmal Du sagst "Wortebuch", nicht wahr? :wink: ), "Worte" dort, wo sie gemeinsam einen Sinn ergeben, der erst durch die Mehrzahl möglich wird.
Ja, zwei Pluralformen, die hast Du gut beschrieben. Ich verstehe das auch so: "Wörter" sind noch in einen Zusammenhang hineinzuwählen, "Worte" sind schon gewählt (z.B. in einer zusammenhängenden Rede). Und für mich klingt eben in vielen Fällen das falsche "Worte" statt "Wörter" gewählter (Das hat jetzt aber nix mit Politik zu tun :shock: )
stilz hat geschrieben:(Und ich schau jetzt nicht nach, was Grimm dazu sagt - wie gesagt, keine Zeit! :D )
Dazu erlaube ich mir - rein prophylaktisch - noch einmal 1. Mose 1,7 anzuführen
"Verflucht sei [...] ihr Grimm, daß er so störrig ist."


sedna :)
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sedna
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von sedna »

Vertrauend auf Durs Grünbeins "Jedes Wort hat seine Auftrittszeit", hier wieder ein Wort zum Sonntag von mir :)

Bei dem Wort "erfand" an besagter Stelle war mir der richtige Augenblick des Auftauchens nicht so klar. Aber da scheint die Essay-Wirkung zum Tragen ;) gekommen zu sein - herzliches Dankeschön, stilz, für diesen Beitrag! - Mir gehts nach dem Lesen von allem aber immer noch ein bißchen wie dem Wiesel auf dem Kiesel inmitten Bachgeriesel, kann mich einem Verständnis von Rilkes "Erfinden" und "Erfüllen" an dieser Stelle erstmal nur intuitiv nähern.
Also: wenn einen die Mutter "ausgetragen" hat, ist der Vater dran, und wenn der einen fallen läßt, ist man halt mutterseelenallein :mrgreen:
Es könnte durchaus sein, daß vom verlassenen Levi(nachkomme) eine Gott-Vater-Figur erfunden werden muß, in dem er wieder ein Zuhause findet. Und wo könnte das Leviten-Ich besser aufgehoben sein als im Wort an sich, das ja Gott sein soll:

Johannes 1. Das ewige Wort ward Fleisch:

1 Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.
2 Dasselbe war im Anfang bei Gott
3 Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.

:shock:

Es läßt den letzten Worten »Eli! Eli! lama sabachthani!« also neue, eigene folgen – Anfang, Umbruch also: endlich von Worten Gebrauch machen im Sinne von MALTEs Ach so: Ist es möglich, zu glauben, man könne einen Gott haben, ohne ihn zu gebrauchen?

Gott ein sprachliches Meer, aus dem Sinnliches (Klang, Form, Wortsinn) auftaucht, der das Ich in Wellen (einem Wortschwall) überkommt, aber insgesamt mehr harmonisches Geschaukel und weniger beunruhigend ist, wegen dem Gottvertrauen darein, daß es (!) wiederkommen wird. Da taucht jetzt ein neues Sinnbild zu anderen Fragen von Boris auf
(Hoffentlich entwickle ich jetzt keinen Tunnelblick, aber hier bin ich nun wirklich in meinem Element, wo es schon mal zu Tiefenräuschen kommen kann :) ) -:

"Es ist nichts andres. Nur ein Meer,
aus dem die Länder manchmal steigen.
Es ist nichts andres denn ein Schweigen
Von schönen Engeln und von Geigen
Und der Verschwiegene ist der,
zu dem sich alle Dinge neigen
von seiner Stärke Strahlen schwer."

Hier fühle ich mich nun aus dem Steigen und Fallen des anderen Höhen-und-Tiefen-Bildes in einen Gezeitenwechsel getragen -
Es ist nichts anderes betrachte ich nun als einzigartigen Schöpfungsakt. Eine klingende Bilderflut (Seelenlandschaft mit schönen Engeln und Geigen) erhebt sich zu bestimmten Zeiten aus einem Meer von Worten (Gott ist das Wort) und ebbt wieder ab ins Schweigen. Und der Verschwiegene wäre der Gott, von dem die schon bestehenden Dinge oder Worte ihre Sinnerfüllung haben - ihre Vollkommenheit oder gottdurchtränkte Strahlkraft durch Worte eben. Insgesamt entsteht ein Sinnbild für Schöpfung, sogar innerhalb eines geregelten Zeitablaufs.
Damit driften wir allerdings ins Mittelalter ab, in die Tradition der Stundengebete (Stundenbuch = Horarium; spätlat.: horarium = Uhr) das führte, glaube ich, hier zu weit und das wird Boris sicher alles wissen.

Und dann kam da noch ein anderes Bild (und das muß das letzte für heute sein :? ): Ich hatte als Kind eine Kuckucksuhr, die ich nachts um der Stille willen immer angehalten habe - aber dieses spannungsgeladene rhythmisch-leere Geticke bevor dann endlich der klang-volle Vogel die volle Stunde verkündete und zugleich auch in die leere Stunde zurück trat ....
Nun erklingt für mich aus den Gebeten bzw. der Form des Stundenbuchs ein hin- und herpendelndes Dichter-Ich gegen ein nach unten ziehendes Gewicht, das aus dem Dunkel heraus Zugang zu diesem ewigen Augenblick herbeisehnt, in dem es dann das Besondere, das Du (Gott) in schönen Klängen verkünden kann. Das erinnert natürlich auch an das Bild vom (schöpferischen) vollen Kind und (dienenden) leeren Hund und hieße: Im kindlichen Gottvertrauen zeigt sich schließlich die Fülle der Liebe Gottes auf eine bestimmte Art.

Und zum Abschluß darf noch geraten werden, von wem das Bild Die Stundentür und / ihre Geräusche stammt :mrgreen:

Sonntägliche Grüße

sedna
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borisg
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von borisg »

Liebe Sedna und Stilz,

Ich bin noch am Leben :) Ich entschuldige mich, dass ich bisher kein Wort in Erwiderung auf Ihre tiefen und inhaltsreichen Beiträge geschrieben habe - ich war wegen meiner Arbeit in den letzten Wochen viel unterwegs, und bin nur gestern Abend nach Hause zurückgekehrt.

Sie haben mir sehr viel zu bedenken gegeben - großen Dank. Ich möchte mir noch etwas Zeit nehmen, um eine angemessene Antwort zu formulieren; ich muss - halb-beschämt - gestehen, dass ich noch nie auf solchen Themen auf Deutsch geschrieben, oder, in der Tat, gesprochen habe, und ich fürchte, mein aktiver Wortschatz sei dafür vollkommen unzureichend...

Mit allerbesten Grüßen,
Boris.
stilz
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von stilz »

Lieber Boris,

ich freue mich sehr, daß Sie also hier noch mitlesen!
Und ich begreife Sie gut, wenn Sie sagen:
borisg hat geschrieben: ich muss - halb-beschämt - gestehen, dass ich noch nie auf solchen Themen auf Deutsch geschrieben, oder, in der Tat, gesprochen habe, und ich fürchte, mein aktiver Wortschatz sei dafür vollkommen unzureichend...
Wie oft in den letzten Jahren, wenn ich mich hier im Forum auf ein tiefer führendes Gespräch über ein Rilke-Gedicht eingelassen habe, mußte ich feststellen, daß ich selber zum betreffenden Thema "noch nie geschrieben, oder, in der Tat, gesprochen habe" ... und das, obwohl Deutsch meine Muttersprache ist.
Wenn da wirklich so etwas wie "Beschämung" angebracht wäre, dann müßte sie also ganz auf meiner Seite liegen.

Das genau schätze ich an diesem Forum hier: für den Austausch über solche Themen bietet es Gelegenheiten, von denen man im Alltag nur träumen könnte...

Ich fand Ihr Deutsch bisher jedenfalls weit mehr als nur zureichend für das, was Sie sagen wollten! Und ich freue mich schon jetzt auf Ihre weiterführenden Gedanken.

Herzlichen Gruß!

stilz

P.S.: Wollen wir nicht doch lieber "Du" sagen, wie es hier im Forum üblich ist?
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von sedna »

borisg hat geschrieben:Ich bin noch am Leben :)
:)
borisg hat geschrieben:Sie haben mir sehr viel zu bedenken gegeben - großen Dank.
Dito, Boris. Ich habe zu danken. Und es ist auch mein Wunsch, beim "Du" anzukommen bzw. weiterhin "Du" sagen zu dürfen ...?
Das Problem umschiffe ich jetzt erstmal, indem ich Rilke das Wort gebe - an den jungen Dichter Kappus am 4. November 1904:

"... es ist immer das, was ich schon gesagt habe: immer der Wunsch, Sie möchten Geduld genug in sich finden, zu ertragen, und Einfalt genug, zu glauben; Sie möchten mehr und mehr Vertrauen gewinnen zu dem, was schwer ist, und zu Ihrer Einsamkeit unter den anderen. Und im übrigen lassen Sie sich das Leben geschehen. Glauben Sie mir: das Leben hat recht, auf alle Fälle."

sedna :)
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von sedna »

stilz hat geschrieben:Das genau schätze ich an diesem Forum hier: für den Austausch über solche Themen bietet es Gelegenheiten, von denen man im Alltag nur träumen könnte...
Ja.
Ein Wort nur, nachdem ich ein bißchen viel und lange überlegt und mit Worten gerungen hab, wie ich (= auch noch einigermaßen sehr alltagsuntauglich) Dir meine Zustimmung mitteilen soll, Ingrid.
Mir bedeutet das hier viel, und mir ist noch immer etwas unheimlich angesichts der Entwicklungen. (Manche Titel von Rilke sollte man doch künftig mit Zusatzhinweisen versehen - etwa "Warnung vor dem leeren Hund" oder so :lol: )

Und Boris: Wir haben hier doch einen geradezu gewöhnlichen Wortschatz im Vergleich zu Rilke ... :)
Ich freue mich auch auf Deine Antwort, - es geht ja darum, ob Du auf Deine Fragen die Antworten bekommen hast, die Dich weiter bringen.

sedna :)
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von stilz »

Liebe sedna,

nun auch von mir "ein Wort nur": auch wenn es vielleicht nicht so aussehen mag, ich bin noch "dran" am Thema. Es dauert nur etwas, bis ich (und das möchte ich wirklich, bevor ich nochmal was zum Inhaltlichen schreibe!) nicht nur das "Mönchische Leben", sondern auch die "Pilgerschaft" und das "Buch von der Armut und vom Tode" fertig gelesen (und auch nur halbwegs "begriffen") habe.

Und eine Frage:
sedna hat geschrieben:und mir ist noch immer etwas unheimlich angesichts der Entwicklungen.
Unheimlich? Entwicklungen? Was ist's mit ihr, was kann sie meinen?

Herzlichen Gruß!

Ingrid (stilz)
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von sedna »

stilz hat geschrieben:Unheimlich? Entwicklungen? Was ist's mit ihr, was kann sie meinen?
:)
Ja sie meint, anstatt ein paar "kleine Fragen", wie Boris es nennt, einfach so beantworten zu können, in ein Universum von phantastischen Zusammenhängen geschossen zu werden ...

Ich bin auch noch "dran". Und das mit dem "Begreifen", meine ich, das ergibt sich vielleicht aus dem vielfach Verworfenen. Klar muß nicht alles hier ausgebreitet werden, aber ich meine, so mancher Mist, der so geschrieben wird, kann an den richtigen Stellen zu hervorragendem Dünger werden ... :lol:

Sei's drum. Ich mag's, wie es ist.

sedna
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von stilz »

Liebe sedna,
sedna hat geschrieben: Ja sie meint, anstatt ein paar "kleine Fragen", wie Boris es nennt, einfach so beantworten zu können, in ein Universum von phantastischen Zusammenhängen geschossen zu werden ...
:D Dieses Gefühl kenne ich gut.
Und so wie Du es ausdrückst - das erinnert mich jetzt an das Meteor...

Lieben Gruß!

Ingrid/stilz
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von sedna »

:D Ein sakrosankter Wurf, das Meteor :D

Lieber Gruß zurück!

sedna :)
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von borisg »

Liebe Ingrid und Sedna,

Vor allem, die allerbesten Wünsche für ein frohes, gesundes und erfolgreiches Neues Jahr 2011!

Ich war einen Monat lang verschwunden, weil ich unerwartet viel habe arbeiten müssen, und hatte leider keine Zeit fürs Übersetzen. Die Arbeit ist noch nicht zu Ende, aber mir ist eine Idee eingefallen, die "das Allgemeine" angeht, und die ich mit Euch teilen wollte - würde es ein grober Fehler sein, wenn ich statt "das Allgemeine", "die Allgemeinheit" übersetzte? Schnelle Erklärung - es gibt ein Wort im Hebräischen, das so etwas wie "generalness" oder "generality" bedeutet - also, das den Sinn von "Allgemeinheit" hat, aber ohne der zweiten Bedeutung dessen ("the general public", "the world at large") - nur "Allgemeinheit" in abstraktem Sinn.

Ich fühle, dass es möglicherweise einen feinen Unterschied zwischen den zweien gibt, aber es fällt mir schwer diesen Unterschied genau auszudrücken (und sogar genau zu denken). Ich bin auf diese Idee gekommen, während ich den folgenden Satz aus Kafkas "Brief an den Vater" las:

"Das für mich Selbstverständliche des sinnlosen Um-Wasser-Bittens und das außerordentlich Schreckliche des Hinausgetragenwerdens konnte ich meiner Natur nach niemals in die richtige Verbindung bringen."

Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie dieser Satz auf Hebräisch klingen würde, und es fiel mir ein, dass die einzige passende hebräische Konstruktion war ungefähr: "Die Für-Mich-Selbstverständlichkeit des sinnlosen... und die außerordentliche Schrecklichkeit (frightening-ness) des... " Die aus-Adjektiven-herstammenden Substantive (Das Allgemeine, Das Selbstverständliche, usw.) existieren doch im Hebräischen, sind aber manchmal schwer zu benutzen, denn wir haben keine Möglichkeit, zwischen "Das Allgemeine" und "der allgemeine" zu unterscheiden - und deshalb, wenn ich etwas wie "Bin ich denn nicht das Allgemeine" schreibe, versteht man das eher als "bin ich denn nicht der allgemeine" - und das ist natürlich falsch übersetzt.

Wenn "bin ich denn nicht die Allgemeinheit" passt, dann haben wir Erfolg :-) Wenn nicht, muss ich weiter suchen. (Weitersuchen?)

Liebe Grüße aus Israel,
Boris.
stilz
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von stilz »

Lieber Boris,

auch von mir die allerbesten Wünsche für 2011! Wie schön, daß Du wieder "da" bist.

Das "Allgemeine": ich freue mich sehr über Deine Gedanken dazu.
Und ich sehe kein Problem mit "Allgemein-ness", das ist sicherlich eine sehr gute Lösung, vor allem, wenn es im Hebräischen nicht nach "the general public" riecht.

Allerdings habe ich jetzt beim nochmaligen Durchlesen dieses threads noch eine Assoziation, die ich Dir nicht vorenthalten möchte:
Das All-gemeine (Rilke war ein Freund von Bindestrichen in zusammengesetzten Wörtern, um auf deren ur-sprüngliche Be-deutung hinzuweisen) - in diesem Wort klingt auch noch dasjenige an, das allen gemein ist, will heißen: das alle gemeinsam haben.
  • Bin ich denn nicht das Allgemeine,
    bin ich nicht Alles, wenn ich weine,
    und du der Eine, der es hört?
Wenn ich weine - tu und bin ich dann nicht das, das alle tun und sind, wenn sie weinen?

Das ist jetzt nur meine Assoziation, ohne Anspruch auf "Richtigkeit".
Daran sieht man wieder mal, daß es nicht bloß an den Deutschkenntnissen liegt, wenn man Rilke nicht "ein-deutig" begreifen kann...
Mir jedenfalls hilft gerade die Auseinandersetzung mit Fragen, wie Du sie stellst, zum tieferen Verständnis. Danke dafür!

Herzlichen Gruß,

Ingrid

(Und auch ich lösche jetzt meine Bezugnahme auf die mehrfach erwähnte Abschweifung)
Zuletzt geändert von stilz am 9. Jan 2011, 19:29, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von sedna »

borisg hat geschrieben:Ich fühle, dass es möglicherweise einen feinen Unterschied zwischen den zweien gibt, aber es fällt mir schwer diesen Unterschied genau auszudrücken (und sogar genau zu denken).
Boris,
ich kann es Dir nachfühlen, mir geht es - ohne derzeit damit weiter zu kommen - ganz ähnlich.
So fühlt man allmählich zum Allgemeinen hin, aber es wird nicht mal mir so recht faßbar, die ich nicht mal ein anderes Wort dafür finden müßte.
Ein paar Gedanken zu Deinen:
Was mich spontan geneigt macht, Dir zuzustimmen ist, daß Du Allgemeinheit eigentlich nicht gesucht hast, sondern das Wort viel mehr durch andere Gedanken (wie Du beschreibst ja geradezu auf kafkaeske Weise) in die Übersetzung gefunden hat. Es ist schon was dran an solchen scheinbar wackeligen Wörtern, die einfach auftauchen und bleiben wollen, obwohl doch irgendwie am Original vorbei laufen.
Das Allgemeine - die Allgemeinheit: Für mich verbindend ist die Bildlosigkeit der beiden Wörter in meinem Denken. Ich würde daher gerne innerhalb der Strophe das Allgemeine als "das Universale" und Alles als "die Gesamtheit aller Dinge" recht eng zusammen rücken.
Das Alles und Allgemeine könnte als Allgemeinheit (und zwar, wenn man "allgemein" als "in entferntem Sinn" definiert) als etwas "Entferntes" aufgefaßt werden, im Gegensatz zum Einen, der hier aus weitester Ferne erreichbar scheint. Allgemeinheit scheint also in "abstraktem" Sinn zu funktionieren. Stell das Wort also ruhig mal hin, wie lange es Bestand hat, wird sich ja zeigen ... (... beim "Weitermachen" - substantiviert immer groß und zusammen; "weiter suchen" war richtig)

Viel Erfolg wünscht

sedna
Zuletzt geändert von sedna am 9. Jan 2011, 23:31, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von stilz »

[Abschweifung gelöscht.]

Wie dem auch sei.
Vielleicht können wir [Abschweifung gelöscht] versuchen, noch eine andere Frage zu beantworten, die Boris gestellt hat:
Boris hat geschrieben:Wenn "bin ich denn nicht die Allgemeinheit" passt, dann haben wir Erfolg :-) Wenn nicht, muss ich weiter suchen. (Weitersuchen?)
Ich persönlich würde "weitersuchen" schreiben wollen, und auch sagen (also mit der Betonung auf der ersten Silbe, nicht etwa "weiter súchen"!). Aber ich muß gestehen, daß ich keine Ahnung habe, was die Neue Rechtschreibordnung dazu sagt...

Herzlichen Gruß in die Runde!

Ingrid
Zuletzt geändert von stilz am 9. Jan 2011, 19:33, insgesamt 1-mal geändert.
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