stilz hat geschrieben:Selbstverständlilch ist es mir sehr kostbar, zu wissen, wie er selber seine Gedichte gelesen hat.
Aber ich frage mich, ob auch er diese betrübliche Entwicklung, die ich angedeutet habe. gesehen hat, und ob das wohl eine Rolle gespielt haben mag bei seinen Hervorhebungen...
Das ist ja nicht die einzige Frage, die Du mit Deinen Befürchtungen aufwirfst, und dafür müßte zunächst geklärt sein, ob und wo tatsächlich Hervorhebungen original sind. Daher versuche ich zunächst eine Annäherung mit Rilkes Brief an Erika Dieckerhoff-Suihotta am 4. Januar 1922:
"Aber in jener Ecke, in der Du hättest zu mir kommen mögen, bin ich mit Absicht
nicht gewesen. Ich habe nie jemanden auch nur einen Vers (mit einer Ausnahme, um genau zu sein: auf Hofmannsthals Wunsch sprach mir Lia Rosen, vor Jahren einmal, das Gedicht DIE BLINDE) von mir sagen hören, mags nicht: solang ich noch lebe, weiß ich's besser und will mich nicht stören lassen."
Das war kurz vor der Vollendung der Elegien und Entstehung der Sonette. Dem Anschein nach eine größere Rezitations-Veranstaltung. Und ich möchte jetzt einfach mal glauben, daß die Hervorhebungen in seinen Briefen wirklich von ihm sind. Der Nachdruck auf
nicht scheint schon viel darüber auszusagen, wie wenig Rilke selbst sich durch Interpreten festgelegt sehen wollte.
stilz hat geschrieben:so zieht man sich möglicherweise Interpreten heran, die es mit dem oberflächlichen "Erfüllen" des Textes genug sein lassen und sich gar nicht mehr die Mühe nehmen, selbständig in tiefere Schichten zu dringen...
Um solche Entwicklungen verfolgen zu können, hätte er bei solchen Veranstaltungen natürlich anwesend sein müssen. Und man kann auch nicht genau wissen, ob seine Gedichte nicht auch gesungen wurden

Vielleicht, weil ich nie etwas singend interpretiert habe, — manchmal hatte ich Schwierigkeiten, der gedanklichen Durchmischung zweier unterschiedlicher Interpreten (Künstler, Nicht-Künstler) bei Deinen Befürchtungen zu folgen.
stilz hat geschrieben:Und hier würde ich mir, ebenso wie bei einem Musikstück, Freiheit für den Interpreten wünschen.
Ja, vor dieser Freiheit scheint sich Rilke aber gefürchtet zu haben.
Darunter fiele gerechterweise auch die Freiheit eines Interpreten, Kunst oberflächlich oder gar fehl-interpretieren zu dürfen, wobei sich hier die Frage stellen würde, je nachdem, wie man Interpret versteht, ob Oberflächlichkeit der Interpretation mit Geschmacksache gleichzusetzen wäre. Beispiel: Wenn Rilke etwas an Aphorismen gelegen wäre, hätte er wohl selbst welche geschrieben. Das hat ja dann seine Mutter übernommen. Muß er sich deshalb geschmäcklerische Veraphorismisierungen (sorry für das Wort) von Ausschnitten seiner Werke gefallen lassen?
stilz hat geschrieben:Je genauer ein Dichter aber durch Hervorhebungen vorschreibt, wo sich die Stimme des Interpreten zu heben oder zu senken hat, desto weniger Freiheit bleibt diesem...
... Sänger oder Rezitator. Ich höre hier (künstlerische) Ambivalenz ...:
Kann es denn, andersrum betrachtet, nicht auch sehr intensiv werden bzw. müßte ein Interpret wirklich so viel von seiner eigenen Ausdrucksmöglichkeit einbüßen, wenn er versucht, sich gerade über die Vorgaben dorthin vorzufühlen, wo er vielleicht vermutet, dem Urheber selbst sinnlich am nächsten kommen zu können? Ich denke, es geht beides.
Und dazu fällt mir die (rilkesche) Vokabel
umversuchen ein
Rilke (an Erika Dieckerhoff-Suihotta) hat geschrieben:"Freilich hatte man Unrecht, ältere Sachen (um der Einheit willen) an den Ausgang zu stellen, besonders bei mir, wo fast alles ältere, mit Ausnahme des Stundenbuches hinfällig ist. Nein, es kann niemand, vor der Hand, ein Ganzes, Rundes aus einem zusammenbiegen, wie denn aus mir, der erst anfängt zu gehen, ders noch so weit hat ..."
Doch, das geht alles, auch damals schon (und ich frage mich, warum Rilke darauf keinen Einfluß nehmen konnte/wollte); und wir verfahren heute ganz genauso in unserem Anspruch an Interpretationsfreiheit.
stilz hat geschrieben:und manchmal hab ich halt das Gefühl, ich müsse da ein bisserl "gegen den Strom schwimmen"...
Insofern kommt es mir fast ein wenig wie ein Widerspruch vor, wenn Rilke gerade in diesem Gedicht einzelne Worte hervorhebt. Ist das nicht eigentlich schon zuviel, jedenfalls mehr als
Du mußt nur Blüten tragen wie ein Ast,
dann werden alle Winde dich verkünden ...
Das ist einer, da hast Du recht (so es denn überhaupt stimmt mit den Hervorhebungen)! Rilkes jugendlicher Aufbruchstimmung zuzuschreiben, wie er es im zitierten Brief zum Ausdruck bringt, künstlerisch aber nur scheinbar im Widerspruch. — Warum nur in jeder Phase Perfektion erwarten? Wenn Künstler schon sehr sensibel für alle möglichen Mißstimmungen und Zwischentöne sind, läßt die Kunst das freilich sogleich durch ihre Wächter auf unterschiedliche Art und zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit von ihren Burgzinnen herunter posaunen. Rilkes
noch Ahnen mit punktuellen Hervorhebungen seines dichterischen Programms, würde ich hier nicht auf die Goldwaage legen. Das Gedicht erhält dadurch mehr Facetten; und man erkennt doch sehr schön, daß er eigentlich wußte, wo er sich finden wird, aber noch nicht genau wann und wie. —
Eben aus diesem Grund schien mir die Transparenz am Ende des 3. Sonetts (siehe oben) ein so guter Vergleich mit dem Ende dieses frühen Gedichts, weil etwas Eigentliches nicht mehr beschreibend und durch Hebungen und Senkungen (Metrum ist auch bindend) durch
alle Winde ...
verkündet wird — nein,
dieser eine Wind 'verträgt' gar keine Hervorhebungen mehr, so zart und überirdisch klingt die Verdichtung hier für mich und
verkündet mehr als das Wort an dieser Stelle jemals sagen könnte. Wer das dann auf dem Papier schafft, so ein Gefühl zu übertragen, der ist wohl so gut wie angekommen. Aber seine Anfänge sind untrennbar in dieses
Runde eingebunden. Da wird er mich nicht vom Gegenteil überzeugen können.
Zu lang, liebe stilz, hoffentlich war es in Bezug auf Deine Befürchtungen erhellend, es bleiben noch Fragen, ergibt sich vielleicht ...
sedna
P.S. Zum Mißverständnis ... schon klar, hab mich ja erst mal vorsichtig mit einem Konjunktiv herangepirscht ... Naja, war wohl der falsche
