Liebe sedna, wie gut, daß Du nochmal extra nach "Quantität statt Qualität" fragst. Denn in meinem Erklärungsversuch für Dasha war ja gar nicht die Rede davon, was es
inhaltlich bedeuten könnte.
Also: schon beim ersten Lesen von Rilkes Gedicht gewinne ich den Eindruck, es handelt sich beim "türkischen Hunger" zunächst einmal um einen
riesigen Hunger, um einen laut knurrenden Magen, der gefüllt werden will, egal womit. Ich erinnere mich nochmal an Hatschi Bratschi, der wurde in der früheren, nicht politisch korrekt umgeschriebenen Fassung sogar als
Menschenfresser dargestellt. Es hat was vom "bösen Wolf", bei dem man ja auch das Gefühl hat, er frißt einen, und zwar sofort, wenn man ihm begegnet; also unterstellt man ihm instinktiv, daß er ununterbrochen einen
Wolfshunger hat (lieber Dasha: "Wolfshunger" ist im Deutschen tatsächlich ein Wort für einen riesengroßen Hunger).
Ich gehe davon aus, daß sich das Bild des gefährlichen "bösen Türken" in der Umgebung, in der Rilke aufwuchs, im Alltagsdenken so sehr etabliert hatte, daß es schon wieder am Verblassen war, nichts wirklich Gefährliches mehr, sondern etwas, worüber man auch schmunzeln konnte.
Ich stelle mal den ganzen Text herein:
- DER KLEINE ›DRÁTENÍK‹
Kommt so ein Bursche, ein junger,
Mausfallen, Siebe am Rücken,
mir durch Gassen und Brücken:
»Herr, ich hab ›türkischen Hunger‹.
Nur einen Krajcar, nur einen
für ein Stück Brot, milost’ pánků!«
Da! – Und er stammelt mir Dank zu,
doch läßt nicht Ruh er den Beinen.
Lebt nicht von bloßem Gelunger. –
Riecht an den Türen den Braten
und muß die Pfannen doch drahten –
leer: – das macht ›türkischen Hunger‹.
Da kommt also so ein junger Kesselflicker daher, wohl ein "Zigeuner"*), und versucht, sich etwas zusammenzubetteln für seinen "türkischen Hunger" (ich sehe förmlich die treuherzigen großen dunklen Augen vor mir bei seinem "Herr, ich hab ›türkischen Hunger‹...) - Bettler haben den Ruf, bloß herumzulungern und lieber vom Erbettelten ihr Dasein zu fristen, als zu arbeiten. Nicht so dieser Junge. Er hat einen "Beruf", wenn auch keinen angesehenen. Er repariert Kochgeschirr, und auf diese Weise sieht er den ganzen Tag nur leere Pfannen. Klar, daß er davon viel größeren Hunger kriegt, als ein Stück Brot stillen könnte...
Und noch:
sedna hat geschrieben:Aber was will uns der Krieger damit sagen?
Nun - einige Strophen vor Haralds Zitat heißt es:
- Die Dinge sucht' ich im Grund zu erkunden -
Diesem Studio hab' ich mich ernstlich geweiht.
Und da hab' ich denn leider! den Satz gefunden:
"Das fatalste Ding sey die rollende Z e i t ."
Nun gibt es - man weiß ja - gar viel des Fatalen;
Legion - mit Verlaub - nenn' ich seine Zahl:
Doch die Zeit - ich behaupt' es, und will nicht prahlen - ,
Die fatale Zeit ist allzufatal.
Dann wird das "Ungeheuer Zeit" geschildert, unter anderem so:
- Unerträglich ist - wohl darf ich es sagen -
des trägen Ungethüms Tritt plumper Tritt,
Viel mehr noch sein infernalischer Magen,
Am meisten sein türkischer Appetit.
Es ist hier also ganz sicher ein "Appetit" gemeint, der dazu führt, daß man einfach
alles auffrißt. Ganz klar, beim "türkischen Appetit"
Kriegers geht es um Quantität, nicht um Qualität!
Herzlichen Gruß
stilz
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*) vgl das
Buch von Rumer Godden, da heißt es zu Beginn (in der Übersetzung von B.Berger und H.Sauter):
- "Diddakoi."
"Kesselflicker."
"Dingeldingdong."
"Zigeuner, Musikant, nimm die Geige zur Hand!"
"Altpapier, Lumpen!"
"Wäscheklammern, wer kauft Wäscheklammern?"
"Blumen, schöne Blumen!"
"Diddakoi."