Lieber Harald,
das ist mal wieder eines der schönen Beispiele von einander widersprechenden Ansichten, die letztlich „beide recht“ haben, nämlich nicht etwa weil man sich nicht für die Wahrheit entscheiden wollte, sondern weil beide Urteile in einem höheren Sinne in Eines zusammenfallen. Ich habe demnächst in der „Bildungsstunde“ für die Nichtfachkräfte unserer Teams wieder einmal Gelegenheit, darzustellen, was C
OЇNCIDENTIA O
PPOSITORUM ist; vielleicht nehme ich da diese Passage mit:
RMR hat geschrieben:"Einmal liebend, einmal entflammt, darf man sich nicht mehr für unglücklich halten; wer einmal den Eingang hatte in die Seeligkeit der Liebe, der ist in ihr, und alle Entbehrung, alle Sehnsucht ist für ihn fortan nur noch das Gewicht, die Schwere seiner Fülle!"
Harald hat geschrieben:…Die Fülle der Liebe setzt Liebe als Handeln und Erleben voraus. Sie ist leider kein seelischer Proviant im Rucksack des Lebens. Wie die Engländer sagen: Memory is the organ we forget with. Und wir vergessen nicht nur, wir bearbeiten und verändern unsere Erinnerungen mit Ameisenfleiß und wissen es noch nicht einmal. Also selbst wenn es eine Fülle ist, die wir uns "bewahren" konnten, ist ihr nicht zu trauen.
In
rilke-newbies „Lösch-mir-die-Augen-aus-Thread“ habe ich einmal - ja, durchaus sehr gewagt übertragen - aus den Johannesbriefen eine Stelle zitiert (und stilz hat im nächsten Posting darauf sehr differenziert Bezug genommen und die Begriffe Agape und Eros herausgearbeitet, die uns hier im Forum im Zusammenhang mit Rilkes Verständnis von Liebe immer wieder beschäftigen):
lilaloufan hat geschrieben:…Da möchte ich im Sinne des ersten Johannesbriefs (
4;
16) aus
Ιωάννης hat geschrieben:- Ο Θεός αγάπη εστίν.
Και ο μένων εν τη αγάπη
εν τω Θεώ μένει
και ο Θεός εν αυτώ μένει.
lesen.
Und darauf komme ich hier noch einmal zurück:
- GOtt ist die Liebe +
Und wer in der Liebe bleibet +
Der bleibt in GOtt +
Und GOtt in ihm
heißt es da.
Als ich las, dass Rilke die Worte
ist in ihr im Brief unterstrichen hat, verstand ich das in diesem Sinne: nicht jene Liebe, die wir heißverliebt in bebender Brust und/oder hingegeben|begehrlich im Schoße tragen, sondern die, in die wir liebend (nicht: geliebt) eintauchen, die
uns als Handelnde umfängt, wird gemeint sein. Man kann, ohne den Satz „Die Fülle der Liebe setzt Liebe als Handeln und Erleben voraus“ zu bestreiten, auch seine Umkehrung denken: Liebe als Handeln und Erleben setzt Rilkes «intransitive Liebe» wenn nicht als Erreichnis, so doch als idealische Fülle voraus. So betrachtet, ist doch Agape, eben gerade
weil sie tatsächlich nicht „seelischer Proviant im Rucksack des Lebens“ ist, sondern in jedem biographischen Moment neu Entwicklungspotential veranlagt wie veredelt, vertrauenswürdig - ungeachtet dessen, dass wir ihre Wohltaten und die uns in ihrer Sphäre auferlegte Verantwortung vergessen und verleugnen, ja wirklich, immer wieder. Eine nur konservierte, von Treueschwüren bewehrte Haltung, nein, der wäre nicht zu trauen, aber um die geht es ja nicht, wo wir von Liebe im Sinne der Dramen-Schlussworte aus
Projekt Gutenberg / Steiner (Pforte der Einweihung) sprechen:
Benedictus hat geschrieben:- Der Liebe Segen, er erwarmet
Die Seele an der Seele,
Zu wirken aller Welten Seligkeit.
Und Geistesboten, sie vermählen
Der Menschen Segenswerke
Mit Weltenzielen;
Und wenn vermählen kann die beiden*
Der Mensch, der sich im Menschen findet,
Erstrahlet Geisteslicht durch Seelenwärme.
*: Das Zweite ist Wahrheitslicht.
Ich habe gestern Abend mit meiner Frau über diesen Thread hier gesprochen, und ihr fiel unmittelbar die Spottzunge Heinrich Heine ein, der hier ganz innig wird, wo er diesen Liebe-Begriff in den Blick nimmt:
Heinrich Heine hat geschrieben:- Herz, mein Herz, sei nicht beklommen,
Und ertrage dein Geschick;
Neuer Frühling gibt zurück,
Was der Winter dir genommen.
Und wie viel ist dir geblieben!
Und wie schön ist noch die Welt!
Und, mein Herz, was dir gefällt,
Alles, alles darfst du lieben!
Für den Menschen, für den dieses „Alles Lieben“ auch nur für einen Augenblick erlebbar wird, gibt es niemals mehr ein Zurück in irgendein Unglücklichsein.
Aber wohl ein Aufmerksamwerden darauf, wie „schwer“ es eben ist, dieser Fülle gerecht zu werden:
RMR hat geschrieben:«Wir haben keinen Grund, gegen unsere Welt Misstrauen zu haben, denn sie ist nicht gegen uns. Hat sie Schrecken, so sind es unsere Schrecken, hat sie Abgründe, so gehören diese Abgründe uns, sind Gefahren da, so müssen wir versuchen, sie zu lieben.
Und wenn wir nur unser Leben nach jenem Grundsatz einrichten, der uns rät, dass wir uns immer an das Schwere halten müssen, so wird das, welches uns jetzt noch als das Fremdeste erscheint, unser Vertrautestes und Treuestes werden.»
Und
(in diesem Forum schon sechs Mal zitiert):
RMR hat geschrieben:«Liebhaben von Mensch zu Mensch: das ist vielleicht das Schwerste, was uns aufgegeben ist, das Äußerste, die letzte Probe und Prüfung, die Arbeit, für die alle andere Arbeit nur Vorbereitung ist.»
Lieber Harald, das ist erst ein angesponnener Gedankenfaden, aber ich danke Dir für den Anstoß, die Finger zu regen.
Christoph