Lieber Harald,
d’accord! Natürlich bestimmen Netzstruktur und –beschaffenheit den „Fang“ ganz entscheidend mit (auch Saint-Exupéry selbst mißt ja der "Struktur" ganz entscheidende Bedeutung zu!).
Und ich sage ja auch, daß ich es als „Manko“ bei mir erkenne, wenn mir dennoch immer wieder mal der „Fang“ das allein Wichtige ist.
Allerdings gibt es doch auch eine Betrachtungsweise, für die es tatsächlich
gleich gültig ist,
„ob ich ein Ganghofer- oder Grishamnetz, ein Flaubert- oder Döblinnetz, ein Gelegenheitskitsch- oder ein Rilkenetz hochziehe“. Ich finde, daß auch eine solche Betrachtungsweise ihre Berechtigung hat.
Wenn sich in einem „Gelegenheitskitsch-Netz“, aus welchem Grund auch immer, eine Kostbarkeit voll tiefer Weisheit verfängt… sollte diese Kostbarkeit weniger „gültig“ sein, sollte ich sie allein deshalb geringschätzen, weil sie mit einem „schlechten“ Netz gefischt wurde?
Vom Standpunkt der
Literaturwissenschaft aus gesehen, ist die Beschaffenheit des „Netzes“
und das Bewußtsein davon ganz sicher von fundamentaler Bedeutung.
Und auch vom Standpunkt des
Lesers aus, wenn es ein Leser ist, der (nach Emil Staiger, wie ich von gliwi gelernt habe

) „begreifen will, was uns ergreift“.
Vom Standpunkt des
Autors aus allerdings – das finde ich viel schwieriger zu beurteilen.
Sicherlich kommt es dabei darauf an,
wie ein Dichter arbeitet. Läßt er sich „von der Muse küssen“ und schreibt intuitiv auf, was ihm in einer „Sternstunde“ gewissermaßen „diktiert“ wird? Oder überlegt er, wägt jedes einzelne Wort, sich unermüdlich korrigierend, arbeitet er sorgfältig an jeder einzelnen der Maschen seines Netzes … kurz: hat er sich dazu erzogen,
„die Feder als das zu gebrauchen, was sie vor allem ist: als ein redliches, genau beherrschtes und verantwortetes Werkzeug“ (
http://www.rilke.de/phpBB3/viewtopic.php?p=6800#p6800): in beiden Fällen stehen wir als Leser staunend vor dem entstandenen "Netz", im ersten Fall möglicherweise der Dichter mit uns...
Dazu möchte ich auch noch etwas anderes zitieren, das mir irgendwie dazuzugehören scheint.
In einem seiner ersten Briefe an Goethe (23. August 1794) schreibt Schiller von den unterschiedlichen Wegen des „speculativen“ und des „intuitiven Geistes“. Da heißt es (Hervorhebung von mir):
Friedrich Schiller hat geschrieben:Ihr beobachtender Blick, der so still und rein auf den Dingen ruht, setzt Sie nie in Gefahr, auf den Abweg zu gerathen, in den sowohl die Speculation als die willkürliche und bloß sich selbst gehorchende Einbildungskraft sich so leicht verirrt. In Ihrer richtigen Intuition liegt alles und weit vollständiger, was die Analysis mühsam sucht, und nur weil es als ein Ganzes in Ihnen liegt, ist Ihnen Ihr eigener Reichthum verborgen; denn leider wissen wir nur das, was wir scheiden. Geister Ihrer Art wissen daher selten, wie weit sie gedrungen sind, und wie wenig Ursache sie haben, von der Philosophie zu borgen, die nur von ihnen lernen kann. Diese kann bloß zergliedern, was ihr gegeben wird, aber das Geben selbst ist nicht die Sache des Analytikers, sondern des Genie’s, welches unter dem dunkeln, aber sichern Einfluß reiner Vernunft nach objectiven Gesetzen verbindet.
…
Was Sie aber schwerlich wissen können (weil das Genie sich immer selbst das größte Geheimniß ist), ist die schöne Übereinstimmung Ihres philosophischen Instinctes mit den reinsten Resultaten der speculirenden Vernunft. Beim ersten Anblicke zwar scheint es, als könnte es keine größeren Opposita geben, als den speculativen Geist, der von der Einheit, und den intuitiven, der von der Mannigfaltigkeit ausgeht. Sucht aber der erste mit keuschem und treuem Sinn die Erfahrung, und sucht der letzte mit selbstthätiger freier Denkkraft das Gesetz, so kann es gar nicht fehlen, daß nicht beide einander auf halbem Wege begegnen werden. Zwar hat der intuitive Geist nur mit Individuen und der speculative nur mit Gattungen zu thun. Ist aber der intuitive genialisch, und sucht er in dem Empirischen den Charakter der Nothwendigkeit auf, so wird er zwar immer Individuen, aber mit dem Charakter der Gattung erzeugen; und ist der speculative Geist genialisch, und verliert er, indem er sich darüber erhebt, die Erfahrung nicht, so wird er zwar immer nur Gattungen, aber mit der Möglichkeit des Lebens und mit gegründeter Beziehung auf wirkliche Objecte erzeugen.“
Und zu Deiner, Harald, Bemerkung
„Denn wäre es so, wie er es darstellt, wäre es gleichgültig, wie dicht gewebt oder aus welchem Material das Netz ist, die Beute wäre allein die Verantwortung des Lesers.“, hier noch ein Zitat aus demselben Briefwechsel, vom 9. Juli 1796 (es geht um das achte Buch des „Wilhelm Meister“; Hervorhebung wieder von mir):
Friedrich Schiller hat geschrieben:Dem Inhalte nach muß in dem Werk alles liegen, was zu seiner Erklärung nöthig ist, und der Form nach muß es nothwendig darin liegen, der innere Zusammenhang muß es mit sich bringen - aber wie fest oder locker es zusammenhängen soll, darüber muß Ihre eigenste Natur entscheiden. Dem Leser würde es freilich bequemer sein, wenn Sie selbst ihm die Momente worauf es ankommt blank und baar zuzählten, daß er sie nur in Empfang zu nehmen brauchte; sicherlich aber hält es ihn bei dem Buche fester, und führt ihn öfter zu demselben zurück, wenn er sich selber helfen muß. Haben Sie also nur dafür gesorgt, daß er gewiß findet, wenn er mit gutem Willen und hellen Augen sucht, so ersparen Sie ihm ja das Suchen nicht. Das Resultat eines solchen Ganzen muß immer die eigene, freie, nur nicht willkürliche Production des Lesers sein; es muß eine Art von Belohnung bleiben, die nur dem würdigen zu Theil wird, indem sie dem unwürdigen sich entziehet.
Übrigens auch Saint-Exupéry sah ja nicht nur auf eine „Beute“ im Sinne von konkreter „story“ oder „Erzählfabel“. Sondern er war sich dessen bewußt, daß es sehr wohl darauf ankommt, wie die einzelnen Maschen des „Netzes“ miteinander verknüpft sind.
Im oben zitierten Aufsatz schreibt er:
Antoine de Saint-Exupéry hat geschrieben:Ich werfe da einige Wörter ohne jeden Zusammenhang hin:
Hof, Pflasterstein, Scheit und
fallen. Man gestalte daraus ein Gedicht. Aber man wird sich sträuben; denn diese Wörter besitzen ja nicht die Kraft, den Leser zu rühren. Und doch versteht es Baudelaire, der diesen Rohstoff des Wortes in seinem „Herbstlied“ verwendet, ein wunderbares Bild zu gestalten:
- Schon hör ich fallen Scheit um Scheit
Mit düsterm Prall auf Hof und Pflasterstein.
Mit den Wörtern Hof und Pflasterstein greift man genausogut ans Herz wie mit Herbststimmung und Mondenschein. Und ebensowenig sehe ich ein, warum ein Autor mit Ausdrücken wie Sauerstoffzufuhr, Kreiselvorrichtung und Visierlinie uns nicht genauso fesseln könnte wie mit Liebeserinnerungen.
…
Die konkreten Tatsachen besagen gar nichts. Der Tod des Helden ist zwar sehr bedauerlich, wenn eine untröstliche Witwe zurückbleibt; aber um bei uns eine doppelte Rührung hervorzurufen, genügt es nicht, einen Helden zu ersinnen, der in einer Doppelehe lebt.
Das große Problem beruht offenbar auf den Beziehungen zwischen der Wirklichkeit und dem Geschriebenen oder, besser ausgedrückt, zwischen der Wirklichkeit und dem Gedanklichen.
Und unmittelbar daran anschließend folgt, was ich oben zitiert habe.
Saint-Exupérys Ausführungen erinnern mich an Rilkes
"arme Worte"...
Danke jedenfalls für den sehr richtigen Hinweis, daß natürlich jedes "Netz" im Zusammenhang mit seiner Zeit gesehen werden muß, und das köstliche Beispiel vom Auto aus der Gaswolke!
Herzlichen Gruß
Ingrid