Lieber Dasha,
einstweilen nur zu Ihrer ersten Frage:
Sie fragen nach der Beziehung zwischen "Gefühl" und "Handgelenken". Ich denke dabei an dieses Gedicht:
- Handinneres
Innres der Hand. Sohle, die nicht mehr geht
als auf Gefühl. Die sich nach oben hält
und im Spiegel
himmlische Straßen empfängt, die selber
wandelnden.
Die gelernt hat, auf Wasser zu gehn,
wenn sie schöpft,
die auf den Brunnen geht,
aller Wege Verwandlerin.
Die auftritt in anderen Händen,
die ihresgleichen
zur Landschaft macht:
wandert und ankommt in ihnen,
sie anfüllt mit Ankunft.
Aus: Die Gedichte 1922 bis 1926 (Muzot, um den 1.10.1924)
Die Hand ist eines der wichtigsten "Instrumente" des Menschen; wir fertigen damit Werkzeuge an, wir erbauen Kathedralen und Autobahnen, spielen Tennis, aber auch Violine oder Klavier...
Und wir können damit auch ganz unmittelbar
Gefühle ausdrücken.
Bei alledem sind die Hand
gelenke von besonderer Bedeutung. Sie, und nicht erst die Finger, entscheiden darüber, wie fein oder auch wie grob die Hände fühlen können.
Ein gewaltsam in die Tasten geklopfter Akkord ist etwas ganz anderes als einer, bei dem das Handgelenk dafür sorgt, daß die Finger die Klaviatur sanft streicheln... und eine Berührung, die mit "schwerer" Hand geschieht, ist etwas ganz anderes als ein behutsames Streicheln mit sozusagen "aufmerksamem" Handgelenk...
- Keine darf sich je dem Dichter schenken,
wenn sein Auge auch um Frauen bat;
denn er kann euch nur als Mädchen denken:
das Gefühl in euren Handgelenken
würde brechen von Brokat.
Die unschuldigen Handbewegungen des Mädchens würden "brechen", wenn es sich dem Dichter "schenkte" und damit zur
Frau würde. Der Zauber der mädchenhaften Unschuld wäre dann dahin, denn sie
wüßte in Zukunft um die Wirkung ihrer Zärtlichkeiten und würde ihre Handgelenke in diesem Bewußtsein benützen...
- Auf meinen Atemzügen heben und senken
die Sterne sich.
Zu meinen Lippen kommen die Düfte zur Tränke,
und ich erkenne die Handgelenke
entfernter Engel.
Hier könnten die "Handgelenke" eine Metapher sein.
Ich würde diese Stelle auch nicht unbedingt mit "Gefühl" in Zusammenhang bringen, denn der "Engel" bei Rilke scheint mir kein Wesen mit menschlichem
Gefühl zu sein. Aber er kann wohl "Düfte" auslösen, und um das zu "tun", benützt er sozusagen das, was bei Engeln das Äquivalent zu menschlichen "Handgelenken" ist...
Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher, ob die "entfernten Engel" gerade in diesem Gedicht nicht doch eine "romantischere" Bedeutung haben als der "Engel" sonst bei Rilke

.
Und hier noch eine sehr schöne Stelle zum "Handgelenk":
- Der Reliquienschrein
Draußen wartete auf alle Ringe
und auf jedes Kettenglied
Schicksal, das nicht ohne sie geschieht.
Drinnen waren sie nur Dinge, Dinge
die er schmiedete; denn vor dem Schmied
war sogar die Krone, die er bog,
nur ein Ding, ein zitterndes und eines
das er finster wie im Zorn erzog
zu dem Tragen eines reinen Steines.
Seine Augen wurden immer kälter
von dem kalten täglichen Getränk;
aber als der herrliche Behälter
(goldgetrieben, köstlich, vielkarätig)
fertig vor ihm stand, das Weihgeschenk,
daß darin ein kleines Handgelenk
fürder wohne, weiß und wundertätig:
blieb er ohne Ende auf den Knien,
hingeworfen, weinend, nichtmehr wagend,
seine Seele niederschlagend
vor dem ruhigen Rubin,
der ihn zu gewahren schien
und ihn, plötzlich um sein Dasein fragend,
ansah wie aus Dynastien.
Aus: Der neuen Gedichte anderer Teil
Herzliche Grüße!
Ingrid