Hallo Nellas,
julimond hat geschrieben:
Beim Gedicht "Der Blinde" gehts nicht etwa um den Verlust des Sehens, sondern vielmehr um die Gabe des Nichtsehenkönnens. Er hat es den Sehenden voraus, daß er "nur" hört und fühlt, sich also nicht vom flüchtigen Schein der Dinge verführen lassen kann -
…
Wenn es also heißt:
"hingegeben hebt er seine Hand, / festlich fast, wie um sich zu vermählen." -
dann deutet er damit auf das sensible Wahrnehmungsvermögen des Blinden, aber auch des Künstlerideals hin, denen es beiden gelingt, den Schein der Dinge zu überwinden und in den "reinen", "seinlosen" "Weltinnenraum", wo alles seine vorgeformte Bedeutung verliert, hineinzugreifen....
nellas hat geschrieben:
... Dies erscheint mir sehr logisch, aber wo ist das wider- hingekommen?
Ja, das ist eine sehr berechtigte Frage.
Denn
Julimond hat ja die
Wahrnehmung des Blinden behandelt, während es mir bei Rilke darum zu gehen scheint, wie der Blinde
wahrgenommen wird.
Die Augen eines sehenden Menschen wirken ja nicht nur in sein Inneres hinein (indem er eben mit ihrer Hilfe seine Umwelt wahrnimmt), sondern auch nach außen. Insofern sind sie die „Fenster der Seele“. In den Augen eines Menschen sehen wir nicht nur, was er gerade anblickt, sondern wir können auch irgendwie erkennen, was er denkt, was er fühlt, was er begreift oder nicht begreift…
Sehende Augen, in denen menschliches Verständnis aufleuchtet, zeigen uns, daß ein solcher Mensch den „Widerschein der Dinge“
in sich hineingenommen hat und ihn nun, "verwandelt" in seinem Inneren, wieder nach außen ausstrahlen kann.
Bei
blinden Augen ist das anders. Sie können nicht nur die Umwelt nicht wahrnehmen, sondern sie können auch nicht nach außen leuchten und die Gedanken und Gefühle des Blinden kommunizieren. An solchen Augen können wir keine „im Inneren verwandelten“ Dinge wahrnehmen.
Der „Widerschein der Dinge“ bleibt für den Blinden insofern also etwas „Äußerliches“, er kann nicht in sein Inneres dringen, bleibt „wie aufgemalt“…
Danke,
gliwi, für die Platon-Assoziation. Ja, das ist in diesem Zusammenhang ein schöner Gedanke, daß ohne menschlich-sehendes „inneres Verwandeln“ bloß der Schatten/das Spiegelbild/der Widerschein der Dinge wahrgenommen wird, und nicht sie selber…
Zu
Julimonds „Verteidigung“ möchte ich aber noch anmerken, daß dieses menschlich-sehende „innere Verwandeln“ natürlich auch fehleranfällig ist. Es kann Mißverständnisse geben, und wie oft lassen wir uns täuschen vom „Schein“ der Dinge --- das passiert einem Blinden, ebenso wie einem Blatt, nicht so leicht. Sie fangen die Welt „in kleinen Wellen ein“, nicht als Gesamtbild… aber diese „kleinen Wellen“ können einen dafür auch nicht
blenden …
Für mich drückt sich in diesem Gedicht auch noch etwas aus, das schwer zu beschreiben ist. Es geht darum, daß wir ein Gesicht, aus dessen Augen uns menschliches Verständnis entgegenstrahlt, sofort ganz unwillkürlich, also noch bevor wir darüber nachdenken, als
Menschen wahrnehmen, mit dem wir ganz unmittelbar nonverbal kommunizieren. Bei einem Gesicht mit
blinden Augen gibt es diese unmittelbare Reaktion und Kommunikation zunächst nicht. Von einem solchen Gesicht scheint etwas "Fremdes" auszugehen, das uns
zunächst Scheu einflößt. Und wir haben die (nonverbale) Kommunikation mit einem blinden Menschen, die Signale, die er aussendet ebenso wie die Signale, die wir ihm zu geben haben, erst zu lernen.
Natürlich ist das, solange der Blinde nicht auch noch taub ist, viel leichter, als die Kommunikation mit einem Tier oder einer Pflanze zu erlernen. Dennoch: dadurch, daß dem Blinden der Gesichts-Sinn fehlt, ist er für uns in gewisser Weise (in Bezug auf unsere Fähigkeit, mit ihm zu kommunizieren) dem Blatt, also der Pflanze, ein Stückerl nähergerückt...
So wie ich den "Ding-Begriff" bei Rilke bisher verstanden habe, umfaßt er alles, was "nicht menschlich" ist. Insofern könnte man vielleicht sagen: dadurch, daß die Augen des Blinden nichts "Menschliches" widerspiegeln können, kommt uns zunächst auch von ihm selber, wie von einem Blatt, der "Widerschein der Dinge", des "Ding-haften",
entgegen (hier ist meiner Meinung nach das "wider" hingekommen

).
Sehr interessant finde ich den Gedanken, daß der Blinde „die Stadt unterbricht“ --- das scheint mir darauf hinzudeuten, daß es so etwas wie eine Stadt (mit allem positiven, aber auch mit allem negativen „Drum und Dran“) vielleicht gar nicht geben könnte, wenn die Menschen nicht grundsätzlich Augen hätten, die sehen können…
Soweit einige meiner Gedanken zu diesem Gedicht.
Lieben Gruß
stilz