über CLAIRE GOLL und Ivan GOLL
Verfasst: 22. Nov 2003, 18:12
von Litfink
Carola, - hier ist Material über Claire Goll!
Aus: Jürgen Serke Die verbrannten Dichter. Lebensgeschichten und Dokumente. Beltz & Gelberg Verlag Weinheim und Basel Erweiterte Neuausgabe 1992
Claire Goll »Ich glaube, ich habe genug gelebt«
Ein Gesicht habe ich gesucht. Ein altes Gesicht, das Hoffnung macht. Die Hoffnung auf ein Sesam-öffne-Dich. Eine menschliche Landschaft mit Furchen und Falten, Lebenslinien, vor denen ich nicht erschrecke. Zeichen des Vertrauens in die eigene Kraft, Zeichen der Güte, der Liebe, des Getröstetseins. Die letzte Wahrheit im Gesicht einer Frau. Käthe Kollwitz, die Malerin, hat ein solches Gesicht gehabt. Sie ist tot. Claire Goll, die Dichterin, könnte es haben. Sie lebt, ist 85 Jahre alt. Die großen Künstler dieses Jahrhunderts waren von ihr fasziniert. Sie liebten sie, sie malten sie, sie schrieben über sie.
Der 43jährige Rainer Maria Rilke schrieb der damals 27jährigen nach der ersten gemeinsamen Nacht: »Schön, wenn einmal so ein Herz über einem aufgeht, gar nicht erst in seinem ersten Viertel, gleich wie der ganze Mond in seiner vollkommensten Nacht ... «
Und er dichtete für sie 1918:
Laß uns in der dunklen Süßigkeit
Nicht der Tränen Richtung unterscheiden.
Bist du sicher, daß wir Wonnen leiden
Oder leuchten von getrunknem Leid?
Claire Golls Schicksal wurde jedoch nicht der bekannte Rainer Maria Rilke, sondern der heute in Deutschland unbekannte Lyriker Ivan Goll.
Schon ein Jahr vor ihrer Freundschaft mit Rilke war sie die Verbindung zu dem aus Elsaß-Lothringen stammenden Ivan Goll eingegangen. Ohne Standesamt und ohne Traualtar hatten sie die Ringe gewechselt. Claire schwor Ivan: »Ich will immer neben dir gehen, ganz gleich, wie dein Weg sein wird.« Ivan schwor Claire: »Ich nehme deinen Schwur an: denn dein Schwur ist der meine. Ich will dich führen zu dir selbst zurück - denn das ist der gerade Weg zu mir. Ich bin dein, auch wenn ich gestorben bin.« Rainer Maria Rilke starb 1926 im Alter von 51 Jahren an Leukämie. Ivan Goll starb 1950 im Alter von 59 Jahren an Leukämie.
Claire Goll, die in Nürnberg geboren wurde und in München aufwuchs, lebt heute dort, wo in Paris die Jugend zu Hause ist: in St. Germain de Près. In der Rue Vaneau 47 hat sie eine Drei-Zimmer-Eigentumswohnung. In dem Haus gibt es keinen Fahrstuhl. Ich steige 98 Stufen hoch, in den fünften Stock. Ich klingele. Sie öffnet und fährt mich an, weil ich ihr vorher nicht mein Hotel in Paris angegeben hatte, weil sie mich deshalb nicht telefonisch erreichen konnte, weil ihr zu spät eingefallen war, daß sie um diese Uhrzeit eigentlich einen Termin beim Arzt gehabt hätte.
Ich schaue in ihr Gesicht und erschrecke. Die Haut spannt, wirft keine Falten. Die Lippen sind böse quergestellt. Sie trägt eine rothaarige Perücke. Das bombastische Ding erdrückt die winzige Person, die in Jeans vor mir steht. Die Hornbrille sitzt schwer vor den Augen. Nichts paßt zusammen. Sie muß meine Aversion spüren. Sie schimpft weiter. Die Tasche steht an der falschen Stelle, sagt sie. Ich steh falsch, auf einem Teppich, den nur sie betreten darf, sagt sie. Sie ist ganz einfach in Panikstimmung. Warum?
Ich sehe die Geschenke der berühmten Maler an der Wand: Bilder von Marc Chagall, Alexej Jawlensky, Robert Delaunay, Oskar Kokoschka; das Gesicht einer Frau, das in aller Erotik Unnahbarkeit ausstrahlt. Ich sehe Schränke und Regale, zum Bersten gefüllt. Bücher und Manuskripte von ihr und Ivan, Fotografien, Krimskrams aus aller Herren Ländern. Erinnerungen an ein langes Leben. Die Fensterläden sind bis auf einen Spalt geschlossen, damit in der Wohnung nichts vergilbt. Ich sitze in einer komfortablen Gruft. Claire Goll erzählt, dies ist eine Million wert und das ebenso viel. Jedes Bild, jeder Zettel. Alles ist eine Million wert. Jedes Wort, das sie auf dem Papier besitzt. Und ich denke: Wer nicht über die Wörter hinauskommt, verreckt in der Sprache.
Ich erfahre, daß Claire Goll Krebs hat, daß der Arzt die Diagnose einige Tage zuvor gestellt hat. Merkwürdig, sie ist ganz ruhig, als sie das berichtet. So als sei die Krankheit Erfüllung. Ein Zeichen der Gemeinsamkeit im Abschluß zweier Lebensläufe. Ich erfahre, daß sie jede Nacht die Tangoplatte »La cumbarsita« auflegt, den sie mit dem sterbenskranken Ivan Goll getanzt hat. »Wenn ich die Melodie höre«, sagt sie, »weiß ich, daß er bei mir ist. Und dann tanze ich mit ihm.«
Ich erfahre, daß sie vor zehn Jahren einen zwanzigjährigen Franzosen kennenlernte, von dem sie sich noch heute geliebt glaubt. Sie will, daß ich ihn kennenlerne. Er sehe Ivan ähnlich und habe die gleiche Handschrift, sagt sie. Sie ruft ihn an. Ich erfahre, daß er sie anschnauzt. Mit einem »boche« würde er sich nie zusammensetzen, sagt er zu ihr. Und sie spürt, daß andere Gründe die wahren Gründe sind. »Nichts macht einen so krank wie eine moralische Niederlage«, sagt sie, »und jeder Tag bringt neue. «
Sie ist ein Leben lang einer Vision nachgelaufen, hat sie in ihrer Liebeslyrik begreiflich gemacht und sie nicht als Vision begriffen. Das macht aggressiv. Sie spuckt alles aus, die Liebhaber und Freunde, von denen sie sich betrogen glaubt. Sie rotzt ihr ganzes Leben hin. Ein armseliges Leben inmitten allen Glanzes, den sie zum Teil genossen und zum Teil als ihr Unglück erkannt hat.
Ihr Vater war nicht ihr Vater, das war ein Baron, der Liebhaber der Mutter, bei der sie entsetzliche Qualen litt. Die Mutter reagierte ihre Lebensgier in heimlich außer Haus verbrachten Nächten und ihren Haß auf den farblosen Ehemann mit sadistischer Strenge an der schutzlosen Tochter ab. Claire erduldete Schläge, Arrest im Dunkeln, Essensentzug, Mißhandlungen, ja selbst Folterungen, die in blutigen Auspeitschungen mit einer Reitpeitsche gipfelten. Zeitlebens blieb Claire für Krankheiten anfällig, mußte immer wieder Kliniken und Kurheime aufsuchen.
Der Ehemann der Mutter war reich, Unternehmer und Konsul Argentiniens in Deutschland. Die Familie lebte in einer Villa in der Münchner Leopoldtstraße. Claires Bruder nahm sich mit 16 Jahren das Leben. Er hatte die um fünf Jahre jüngere Schwester vor den Grausamkeiten der Mutter verteidigen wollen. Claire Goll: »Meine Mutter behauptete, der Sohn habe sie mit dem Messer bedroht, was nicht stimmte. Er sollte in eine Besserungsanstalt. Er floh aus dem Hause, mietete sich bei einer Frau ein Zimmer und öffnete in deren Abwesenheit in der Küche den Gashahn.«
Claire Golls beste Freundin in der Kindheit war die Köchin im elterlichen Haus. Bei ihr suchte sie Zuflucht, bei ihr fand sie Trost. Die Köchin schickte das Mädchen zu deren Tante, die in der Domschule die Toilette verwaltete. Claire Goll: »In dieser Toilette bin ich eigentlich aufgewachsen. Diese Tante war eine wunderbare Frau. Von ihr habe ich den Ton der Grimmschen Märchen gelernt. Denn wenn das Klosett gezogen wurde, sagte sie: >Horch, das sind die Raben aus Grimm.< Sie entwickelte meine Phantasie. Sie gab mir immer einen Topf mit Seifenblasen. Es war ein wunderbares Spiel, diese Welt, die zerstäubt. «
In der Schule richtete Claire Goll ihr ganzes Liebesbedürfnis und ihre Liebesfähigkeit auf die Pädagogin Julie Kerschensteiner, Leiterin eines privaten Instituts mit antiautoritären Erziehungsansätzen. Hier baute sich die 15jährige eine Gegenwelt auf, eine Welt unbehinderter Selbstverwirklichung, gegen die perverse Welt großbürgerlicher »Wohlanständigkeit«. In ihrem Buch »Traumtänzerin, Jahre der Jugend« schrieb Claire Goll 1971: »Ungeliebt zu Hause, hatten sich die Gefühle, die sich niemandem zuwenden konnten, zum Bersten in mir gestaut.«
Mit 20 Jahren heiratete sie. Es war eine Flucht nach vorn. Claire Goll: »Wir wußten vom Leben überhaupt nichts. Ich habe ihn kennengelernt, weil wir eine Loge im Hoftheater hatten. Und meine Mutter wollte >Lohengrin< nie sehen. Da wurde ich hingeschickt.
Nach dem ersten Akt ging ich raus. Und da stand Lohengrin vor mir. Es war der spätere Verleger Dr. Heinrich Studer. Er führte mich durch den Englischen Garten. Da hat er mich zum erstenmal geküßt. Dann habe ich ihn in mein Zimmer geschmuggelt.« Wie immer in ihrem Leben ging alles rasant: »Ich wurde seine Geliebte, dann erwartete ich ein Kind. Es war eine Tragödie. Zu Hause wurde verhandelt, ob man das Kind abtreibt oder mich verheiratet. Unsere Eltern einigten sich auf Hochzeit. Ich brachte 200000 Goldmark als Mitgift in die Ehe. Mein Mann studierte damals noch.«
Claire Goll zog mit Mann und Kind nach Leipzig. Ihr Mann nahm es mit der Ehe nicht so genau. Und auch Claire Goll lernte einen anderen kennen, den engagierten Verleger junger Literatur Kurt Wolff. Nach fünf Jahren wurde die Ehe 1916 geschieden. Claire Goll mußte die Schuld übernehmen und das Kind hergeben: »Weil Kurt Wolff zu feige war zu leugnen, daß er mein Geliebter war.« Die Beziehung zu Wolff ging in die Brüche. Sie hat ihn später im Leben immer wieder gesehen, war Gast in seinem Haus. Mit bestürzendem Haß sagt Claire Goll heute: »Ich habe mich gefreut, wie ihm der Brustkorb eingedrückt wurde. « Kurt Wolff wurde 1963 bei einem Spaziergang in Ludwigsburg von einem rückwärtsfahrenden Lastwagen zerquetscht.
»Alle Menschen, die mir Schlechtes antun«, sagt Claire Goll, »verrecken. Ich habe drei Menschen getötet: meine Mutter, Kurt Wolff und Paul Celan.« Claire Golls Mutter wurde im KZ Auschwitz vergast. Der Lyriker Paul Celan, ein Freund Ivan Golls in seinen letzten Lebensjahren, nahm sich 1970 in der Seine das Leben. Ihm hatte Claire Goll vorgeworfen, er habe bei ihrem Mann abgeschrieben.
Nach ihrer Scheidung war Claire Goll von Leipzig nach Genf übergesiedelt, um in der Nähe ihrer Tochter sein zu können, die dem Vater zugesprochen worden war. In der Schweiz lernte sie Ivan Goll kennen, der von sich schrieb: »Ivan Goll hat keine Heimat: durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet.« Als Sohn eines Elsässers und einer Lothringerin kam Ivan Goll 1891 in St. Dié im Elsaß zur Welt. Im jüdischen Elternhaus durfte nur Französisch gesprochen werden. Das gerade wilhelminisch gewordene Elsaß ordnete Deutsch als Unterrichtssprache des Gymnasiums in Metz an, das Goll ab 1898 besuchte. Hier im Spannungsfeld zweier Kulturen erlebte er erstmals die Widersprüchlichkeit, beider Erbe zu sein und doch keiner anzugehören.
Ivans Vater war Tuchfabrikant und Weinbergbesitzer. Er starb, als der Sohn fünf Jahre alt war. In einer bisher nicht veröffentlichten Erzählung schreibt Ivan Goll:
»Man brachte mich ans Krankenbett, und eine schwere Hand legte sich auf meinen Kopf. Das war der letzte Segen. Mein Vater rang mit Gott. Er handelte mit Gott. Er zeigte ihm, daß er sein Gelübde gehalten hatte, daß er im Bethaus vollen Halses gesungen hatte, daß er das schwarz-weiße Gebetbuch so viele Male geküßt hatte, als es geboten war. Er haderte mit Gott in seinem Fieber. Jeden Morgen vor dem Frühkaffee hatte er die heiligen Riemen um seine Stirn gelegt und Frage und Antwort der Weisen singend wiederholt. So wunderbar war Gottes Gnade. Aber meines Vaters Lunge war übermäßig geschwellt, und der Arzt war ein Dummkopf. «
So starb der Vater des Jungen, »gerade nachdem es zu schneien aufgehört hatte. Drei Raben flogen nahe ans Fenster, beinahe herein, und jemand behauptete, sie hätten die heilige Seele weggetragen.« Die Mutter heiratete ein zweites Mal. Viel später schrieb Ivan Goll an Claire: »Ich bin immer einsam gewesen, außer mit dir. Meine ganze Jugend lang saß ich an einem Familientisch, an dem geschrien und geschimpft wurde.«
Ivan und Claire Goll: Da trafen sich zwei mit ähnlichen Schicksalen. Zwei Ohnmächtige mit einem Überbedürfnis nach Zuwendung und Zärtlichkeit.
Ivan studierte in Straßburg, Fribourg, Genf und Berlin. Kurz vor Kriegsausbruch promovierte er mit seiner Arbeit über die »Lothringisch-elsässischen Heimarbeiterinnen« zum Doktor der Rechtswissenschaft. Dann stand er vor der Frage, entweder als Deutscher gegen seine französischen Landsleute zu kämpfen, oder sich ins neutrale Ausland zu retten. Wegen seiner Länge sollte er bei der kaiserlichen Garde einrücken. Er ging in die Schweiz. Als Pazifist, einsam und verloren in der Welle der Kriegsbegeisterung, fand er in der Schweiz Gesinnungsfreunde, die nein zum Morden sagten: die Schriftsteller Stefan Zweig, Carl Sternheim, Franz Werfel, Hermann Hesse, Harry Graf Kessler und den Elsässer René Schickele. Um den Schriftsteller Romain Rolland, der ebenfalls in die Schweiz ausgewichen war, scharten sich die französischen Pazifisten. Zu den Kriegsdienstgegnern gesellte sich der Ire James Joyce. In Genf arbeitete Ivan Goll zuerst als Zeitungsverkäufer, dann als Bankbeamter.
Ivan Goll, dessen erste Veröffentlichungen im Jahre 1912 »Lothringische Volkslieder« und »Der Panama-no« waren, wurde zum politischen Kämpfer. Für ihn und seine Freunde stellte der Krieg eine letzte Versuchung dar, ein Gottesurteil; nun werden sie umkehren, »die Liebe des Herzens predigen«. Menschlichkeit wurde zum geflügelten Wort der jungen Dichtergeneration. Menschlichkeit, die alle nationalen und sozialen Gegensätze aufheben soll. In Französisch schrieb Goll seine »Elegies Internationales. Phamphlets contre cette guerre«, in Deutsch sein »Requiem für die Gefallenen in Europa«.
In seinem literarischen Werk sah sich Goll als Orpheus, der »ewige Dichter«, der in die Niederungen der Unterwelt hinabsteigt, um die Menschheit zu retten. Von der russischen Oktoberrevolution 1917 versprach er sich ein »gesäubertes Urgefühl« unter den Menschen. Mit Verbitterung registrierte er die gescheiterte deutsche Revolution 1918/19: »Der Karussellbesitzer zählt die Kasse. Der Revolutionsmann hängt sich hinterm Lattenzaun auf... es wurden zu viele Sterne produziert für den Frieden. Die Warenhäuser machen die Bestellung rückgängig. Pathos ist um 80%, Bruderliebe um 130% gesunken.«
Der Traum vom »großen Frühling« der Menschheit ist zu Ende geträumt. Goll stimmt die Totenklage auf Rosa Luxemburg an: »Heilige Rosen blühen im no / letzte Rose von Deutschland.« Die Rufe des neuen Orpheus sind untergegangen: »Die Menge hört ihn schon nicht mehr / sie drängt zur Unterwelt, zum Alltag, zum Leid zurück!« In der Ode an Berlin heißt es: »Alles Gold zerrann zu Freibier / lokkernd den Asphalt des Mob - / O Berlin, du Nessel am Kreuzweg des Ostens / dorre an deinem Staube bröckle Vergessenheit.« Die Mission des Sängers, wie sie Goll gesehen hatte, ist gescheitert: »Orpheus allein im Wartesaal / schießt sich das Herz entzwei.«
Was der Dichter sah, war unüberwindliche Spießerhaftigkeit: »Schicksal? Konflikte? Die gibt es heute nicht. Die ganze Anstrengung des Menschen bezieht sich auf Kartoffel oder Villa.« Verbittert schrieb er: »Ich will nicht mehr denken. Nicht mehr zweifeln. Den allgemeinen Geboten gehorchen... arbeiten, mein kleines Geschäftchen machen, mein kleines Glück. Die großen Worte vergessen, die so kalt und zugig sind wie die Triumphbögen. Wo viele zusammen unglücklich sind, da ist es warm. Tränen wärmen. «
An die Stelle des allgemeinen Liebesappells trat im Werke Golls die Zwiesprache zweier Liebender: die zwischen ihm und Claire. Sie hatte 1916 Ivans Gedichte gegen den Krieg gelesen und ihm begeistert geschrieben. Er war darauf zu ihr gereist und hatte ihr spontan eine Liebeserklärung gemacht. Sie wies ihn ab, floh vor ihm und blieb dennoch in seiner Nähe. Sie wollte nach der Erfahrung der ersten Ehe keine feste Bindung. Schuldgefühle gegenüber ihrem Kind plagten sie. Schuldgefühle, die sie in ihrem Buch »Mitwelt« so beschrieb:
Und wirst du mir die Erde verzeihen, mein Kind,
Diese Erde?
Einmal, wenn du stehst vor dem zerbrochenen
Leib des Geliebten?
Und dein Herz auf immer gestorben ist?
Einmal, wenn du siehst, daß der Mensch nur
Macht hat auf eins,
Den echtesten, tiefsten Besitz dieser Welt: auf
Den Schmerz.
Die im Schmerz mächtige Claire Goll sah in Ivan den ihr Verwandten, der sie ängstigte und doch anzog. Als 1917 in Franz Pfemferts Zeitschrift »Die Aktion« ein ganzes Heft Ivan Golls Literatur gewidmet wurde, schrieb Claire Goll: »Sein Thema ist immer die Liebe, die Liebe zum Menschen, er spielt es in hundert Variationen... er streichelt graue Mansarden, er möchte die arme Vorstadt mit seinen mitleidigen Armen gegen die Sonne stemmen. Er weint sich durch alle elenden Betten unserer Zeit. Mit den Enterbten träumt er in verfaulten Kneipen rote Absinthträume. Sein Herz ist Asyl den Apachen und Dirnen, kleinen Commis und Arbeiterinnen. Manchmal brechen sie aus ihm heraus, und diesen Schmerz nennen wir >Gedicht<. Die Gesten dieser Geschöpfe enthalten immer die ganze Welt, und die ganze Welt enthält ihn, denn er ist ein Dichter.«
Was Claire Goll suchte, war ein im Glück mächtiger Mann. Zwar ging sie schließlich die Verbindung zu Ivan Goll ein, aber sie wehrte sich gegen Ivans bürgerlichen Totalitätsanspruch, dies vor Standesamt und Traualtar zu tun. Sie entzog sich seinem beharrlichen Drängen mit erneuter Flucht. Diesmal nach München, wo der berühmte Rainer Maria Rilke lebte, dem sie ihre Gedichte geschickt und daraufhin schriftliches Lob bekommen hatte.
Ihr erster Eindruck: »Rilke war ganz schmal, fast körperlos. Von fern hätte man ihn für einen Kadetten in Zivil halten mögen, aber je näher er kam, desto größer wurde seine Stim, und in zwei unirdischen, glanzerfüllten Augen zuckte der Strahl der Genialität. Mir wurde es bange vor diesem Erzengel im Jackett. Aber das leise Lächeln seiner vollen und sinnlichen Lippen milderte meine große Erschütterung. «
Claire Goll wurde Rilkes Geliebte. Hin- und hergerissen, schwankte sie in neuen Schuldgefühlen zwischen ihm und Goll. In einem Brief an Rilke heißt es: »Ich möchte das fremde Zimmer ein wenig anwärmen. Möchte etwas Rot auflegen an den Wänden vor Deiner Ankunft. Möchte doch kein Regen in Deine Seele fallen! Nur immer Sonne in Deine edelsteinernen Augen! Ich wünsche Dir eine tausendjährige Einsamkeit! Und viele blaue Freundschaften mit Eidechsen. Ach, es gibt ja nichts, was ich Dir nicht wünschte. Die Arme tun mir weh von all den zurückgehaltenen Zärtlichkeiten gestern ... «
In einem Brief Rilkes an Claire Goll heißt es: »Wenn ich abends im Dunklen an ganz gestreckten Armen die flachen Hände öffne, so entsteht oben an ihnen das Gefühl von Deinem spanischen Tuch. Und immer mehr glaube ich, daß dieses Tuch nichts anderes ist als ein Zauber, in dem eine Berührung Deines Leibes mit einer Nacht sich plötzlich, als ein Geweb, schwermütig und zärtlich, erhalten hat. «
Zwei Jahre dauerte diese intime Beziehung zwischen Rilke und Claire Goll. Ivan Goll hatte sich von Anfang an ein Kind von Claire gewünscht, von Rilke erwartete sie es. Doch Rilke wollte die Geburt des Kindes nicht. Und Ivan, der immer noch um sie kämpfte, war tief verletzt von dieser Nachricht. Claire Goll ließ das Kind abtreiben. Rilke entzog sich der Geliebten durch Schweigen.
Claire zog mit Ivan nach Paris. »In der verzweifelten Umarmung / Zwischen dem unentwirrbaren Wir / Klafft unsere entsetzliche Einsamkeit«, dichtete Ivan. Die Heirat vor dem Standesamt wurde nachgeholt. Beide stürzten sich in die Arbeit. Ihre Wohnung wurde zum Mittelpunkt des künstlerischen Lebens in der französischen Hauptstadt. Die Maler Chagall, Léger, Delaunay, Picasso, Jawlensky, Braque und die Schriftsteller Joyce, Audiberti, Malraux, Breton und Gide trafen sich hier.
Nach dem Expressionismus, zu deren führenden Vertretern Ivan Goll gehörte, kreierte er nun die neue literarische Richtung: den Surrealismus.
Seine Bücher brachten ihm Ruhm, aber wenig Geld. Die Kuraufenthalte seiner ewig kränkelnden Frau mußten bezahlt werden. Briefe wechselten zwischen beiden hin und her. Ivan war besorgt um Claires Gewicht: »Du mußt jeden Tag ein viertel Pfund Kuchen essen.« Sie schrieb: »Dick werden ist Gold wert. Aber es wird viel Geld kosten.« Er antwortete: »Ich muß Dich in Watte, Sonne und Anemonen packen.« Sie reagierte: »Ich könnte Tannen ausreißen (auf die Stärkungsmittel, die mir verschrieben werden), aber nur kleine Edeltannen.« Er schickte den Satz: »Küssen wir Gott die Füße.«
In der in Berlin erscheinenden »Literarischen Welt« berichtete Ivan auf eine entsprechende Umfrage: Ja, er habe schon einmal in seinem Leben gestohlen. Eine Dose Milch im Laden für seine kranke Frau, als er keinen Pfennig Geld besessen hatte. Ein unbekannter Leser schickte daraufhin spontan einen Tausendmarkschein »für den braven Dieb«.
Ein glückliches Paar? »Mein Gott, was ist Glück«, sagt Claire Goll heute. »Ich glaube, man müßte einem Menschen ebenso dankbar sein für das Leid, das er einem gibt. Gibt es Glück? Wir sind uns des Glückes doch nur in der Erinnerung bewußt, im Nacherleben. Ich habe Ivan alles zu verdanken. Und dennoch habe ich so eine armselige Idee von mir. Wenn Sie wüßten, ich halte so gar nichts von mir.«
Ein glückliches Paar? Da schrieben sich zwei Menschen ständig Liebesbriefe und waren doch dauernd mit Liebschaften beschäftigt. Die zarte Claire mit dem roten Haar und den großen Augen war das Freiwild für Künstler. André Malraux stellte ihr nach, der Herausgeber der Zeitschrift »Sturm«, Herwarth Walden, rüttelte an der verschlossenen Tür, Franz Werfel bestürmte sie, Audiberti gab sie sich hin. »Wer kam denn noch? Ach, es kamen so viele. Ich habe das Pech, daß mich Männer anspringen wie Flöhe.«
Bei Freunden in Berlin lernte Ivan Goll die um neun Jahre jüngere Lyrikerin Paula Ludwig kennen. In einer Situation, die er in einem Brief an seine Frau Claire so formulierte: »Nein, Geliebte, du darfst nicht trauern, weil ich jetzt mich, Dein Werk, mehr liebe, als seinen Bildner. Weil ich glücklich einsam bin. Weil ich in den Gefühlen, die Du mir schenktest schwelge. O Du stirbst, weil Du mich nicht berührst! Ich aber, ich fürchte das Sterbliche der Berührung. Deshalb floh ich. Aber zu mir, nur zu mir. Weil ich die Liebe mehr liebe als die Erfüllung.«
Claire und Ivan hatten in den Jahren zuvor gemeinsam Bücher veröffentlicht. Liebesgedichte, von denen niemand mehr so recht wußte, wer welches geschrieben hatte. Doch jetzt, wo Ivan der 30jährigen Paula Ludwig begegnete, brach in ihm etwas auf, was er in seiner Beziehung zu Claire Goll nicht hatte wahrhaben wollen: »Der Glaube an unsere Einheit zerbrach.« Und die zerbrochene Einheit hatte er mit Liebeslyrik zu kitten versucht. Er hatte aus einem Mangel heraus gedichtet. Jetzt geriet er in die Fülle. An seine Frau Claire schrieb er über Paula Ludwig: »Seltsames Bauernmädel, Tochter eines Sargtischlers, ziemlich holzschnitthafter Kopf, aber eine feine Seele. Sie entwickelt sich langsam zu einer christlichen Lasker... sie ist Dienstmädchen gewesen, Modell in München. Souffleuse.« Die Faszination schlug in Liebe um. Eine solche Frau hatte es für ihn noch nicht gegeben - ohne Zögern, ohne Vorbehalte, immer da, wenn er sie rief .
Goll:
Erst seit du mich kennst
Kenn ich mich selbst
Einst war mein Körper mir fremd
Wie ein entlegener Erdteil
Und ich wußte von mir
Weder Ost noch Süd
Einsam war meine Schulter
Ein ferner Fels
Bis deine Hand sie berührte:
Da erst fühlte ich mich
Und Paula Ludwig antwortete:
Dich seh ich einzig aus allen flutenden Augen
Aus allen Lauten höre ich nur deinen Mund
Hast du noch Fremdes, Dunkles un Böses
in deinen entlegensten Schluchten versteckt
Oh so entsende mich, daß ich es finde
Fasse und fühle und liebe in dir.
Die Liebesgedichte der Paula Ludwig erschienen 1932 unter dem Titel »Dem dunklen Gott« auf dem deutschen Buchmarkt. »Der dunkle Gott« Ivan Goll veröffentlichte unter einem Pseudonym in Berliner Zeitungen seine Gedichte, die Paula Ludwig gewidmet waren und von deren Existenz seine Frau Claire nichts wissen sollte. Drei Jahre später faßte er seine Gedichte für Paula Ludwig unter dem Titel »Chansons Malaises« in französischer Sprache zu einem Gedichtband zusammen. Die Pariser Kritik glaubte an die freie Übertragung authentischer malaiischer Lieder und verglich die Gedichte mit denen der Sappho und dem Hohen Lied Salomos.
Ivan an Paula Ludwig:
Über meine Äcker bist du geschritten
Sie haben die Fröhlichkeit deiner Füße vernommen
Du hast die Angst meiner Gräser gepflückt
Du hast die Wunden meiner Blumen verschüttet
Nun breitet mein Körper sich weit
Weit aus bis Sonnenaufgang
Er deckt die ganze Erde zu
Wohin du dich wendest
Da trittst du auf mich.
Paula Ludwig an Ivan:
Wer sagte dir wo ich bin
Habe ich denn einen Namen
War ich nicht gut versteckt im Gebüsch
Verkrochen im braunen Laub
Mit grünen Flechten überhangen
Waren meine Augen nicht versunken im Sumpf
Meine Zehen verwachsen mit den Wurzeln des Süßholzes.
Wie fandest du dennoch meine Spur
Mit dem Geruch des Jägers
Ohne Schlinge und ohne Dolch
Nahtest du auf dem dunkelsten Pfad
Mit dem Auge das man nicht sieht
Sahst du mich an.
Da verriet ich mich in der Finsternis
Kein Blatt rührte sich
Kein Tropfen fiel -
Aber in der Stille hörte man
Meine Hände dir entgegenwachsen.
Ivan Goll schickte Claire den Gedichtband »Dem dunklen Gott« und schrieb: »Der Mann, der in diesem Buch besungen wird, beschworen wird, er hat dafür nichts anderes getan, als er zu sein.« Claire antwortete: »Männer sind so stolz, wenn sie der Befruchter der Auslöser waren. Und wer ha; so viel Maß und Abstand, um sich nicht schließlich für einen König oder Gott zu halten, wenn er als solcher angehimmelt wird? Auch ich besang Dich ja, aber spät, nachdem wir schon durch Jahre miteinander gegangen waren. Jetzt schweige ich Dich. Ich warte weiter auf Dich in unendlicher Zärtlichkeit. «
Claire Goll wartete nicht nur, sie kämpfte um Ivan, mit verständnisvollen Briefen (»sei so glücklich, wie Du kannst«), mit Schuldeingeständnissen, die Ivans Verletzungen durch Rilke betrafen. Und mit der Bereitschaft zu sterben. Am 23. Juli 1938 unternahm Claire Goll einen Selbstmordversuch, wenige Stunden, nachdem ihr Mann für immer von ihr Abschied genommen hatte. Als er einen Tag später bei der Concierge heimlich die Post abholen wollte, sagte sie ihm: Madame sei gestern völlig verstört gewesen.
Ivan Goll stürzte die Treppe hoch, öffnete die Tür und fand Claire im Koma vor. Sie hatte Veronal genommen. Im Abschiedsbrief hieß es: »Und wenn ich auch in diesen Minuten alles verzeihe, habe ich doch eine heilige Bitte an Dich: lebe nicht mit Paula Ludwig, Du kannst nicht mit dem Menschen das Dasein genießen, der es mir raubt ... «
Hingabe hatte er zeit seines Lebens gesucht - »eine Seele geschenkt bekommen«, wie er einmal schreibend hoffte. Die Hingabe der Paula Ludwig, die Hingabe der Claire Goll. Beide überlebten, Paula ohne Ivan und Claire mit ihm. Ivan Goll überwand den Konflikt, aber er hat ihn nie bewältigt:
Don Juan: Deine Liebe
Gilt dem, was du nicht hast
Doch bleicht das Fleisch schon welches
Du gestern angefaßt
Verbrenn die Mär von deiner
Unwiderstehlichkeit
Ferne sein ist größer
Als siegen jederzeit.
Ach um dich zu berauschen
Mein schöner Don Juan
Bekämpf die ewige Leere
Greif sie vernichtend an.
Das »Land ohne Leid«, von dem Ivan Goll geträumt hatte, erschien ihm unerreichbarer denn je. Er zog sich auf seine Dichtung zurück und schritt die Stationen seiner inneren Biographie ab.
So ein Doppelleben
Heißt doppelt einsam sein
Denn in sein Geheimnis
Weiht er keinen ein
Paula Ludwig, wegen ihres Eintretens für deutsche Juden bedroht, floh vor den Nazis nach Brasilien, wo sie den Krieg überlebte. Ivan und Claire zögerten bis kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Seine Mutter wollte Frankreich nicht verlassen. Er fuhr zu ihr nach Lothringen und verschaffte ihr Unterschlupf in einem Kloster. Noch einmal wollte er das Grab seines Vaters besuchen - in der Nacht. Der Friedhofswärter stellte ihn, hielt ihn für einen Verrückten und ließ ihn laufen - ihn, der beim letzten Besuch seines Vaters sich als Jude nicht zu erkennen geben wollte.
Mit dem letzten Flüchtlingsschiff, das Frankreich in Richtung Amerika verließ, ging er am 26. August 1939 zum zweitenmal ins Exil. Aus Ekel über den Nationalsozialismus hatte er in den letzten Jahren nicht mehr in deutscher, sondern nur noch in französischer Sprache gedichtet. Auf hoher See hörte er die Nachricht vom Ausbruch des Krieges. Innerhalb eines Jahres erlernte er in den Vereinigten Staaten die englische Sprache so perfekt, daß er von nun an in englisch dichtete. Amerika erkannte er als eine Hölle des Konsums (...)
In sein Tagebuch schrieb Ivan Goll: »Gehen wir zu unserem alten, erprobten Gott zurück, der uns seit soviel tausend Jahren schützt und segnet.«
An eine deutsche Journalistin, die noch immer die Hoffnung auf eine Wende in Deutschland nicht aufgegeben hatte, formulierte er folgende Zeilen: »Sie verteidigen heute >Deutschland< mit derselben Grandeur, wie die Demokraten im Januar 1933: Laßt Hitler an die Regierung, er soll mal zeigen, was er kann. Also sprach auch Mr. Chamberlain. Ach die guten Deutschen. Mag sein. Aber die guten Deutschen haben noch immer die bösen Tyrannen frei walten lassen und sie bewundert. Es hat die Welt nur eine Gefahr zu fürchten: die deutsche Gefahr... Die deutsche Gefahr besteht durchgehend seit tausend Jahren. Der Gedanke des >Deutschen Weltreichs< besteht seit tausend Jahren. Und seit hundert Jahren, seit Bismarck, wird die Grundmauer zu Hitlers >Tausendjährigem Reich< Stein um Stein langsam gebaut. Von Stein, Bismarck, Moltke, Hitler eine Linie. Der >deutsche Herrenmensch< wird, wenn Hitler siegt, die Ozeane im Klubsessel mit echtem Champagner zum Frühstück durchfahren, während der französische Winzer sich abrackert. Faschismus? Nee: deutsche Wirtschaftsorganisation, ganz einfach. Mehr nicht. Sie sind ebenso ahnungslos wie gestern Daladier, vorgestern Otto Braun. Sie sind gerecht. Das ist eine schlimmere Sünde, als Schakale zu füttern. Eine so bittere Antwort auf einen so netten Brief. Aber laßt uns endlich ungerecht sein?«
Die Erbitterung wich einem Gefühl der Müdigkeit und Schwäche: »Wieviel Sehnsucht der ganzen Welt zerrann an mir! « Claire suchte mit ihm einen Arzt auf und erfuhr, daß er Leukämie hat. Völlig verstört, um Fassung kämpfend, ging sie mit Ivan in eine Konditorei, wo beide mit Freunden verabredet waren. Claire: »Ich simulierte einen furchtbaren Streit mit meinem Mann, damit er nicht auf den Verdacht kommt, es könne mehr sein als eine Anämie, was er da hat.« Diese Erkrankung hatte Claire ihrem Mann genannt, als er nach ihrer Unterredung mit dem Arzt danach gefragt hatte. Claire: In der Konditorei schrie ich ihn an wie eine Wilde, bis er sagte: >Wenn du schlechter Laune bist, geh ich heim.< Er ging. Meine Freunde fragten: >Was ist denn los, Claire?< Und ich sagte ihnen die Wahrheit. Eine 92jährige Frau sagte darauf zu mir: >Mein Kind, jetzt gibt es nur eines: Am Tag lächeln und in der Nacht weinen.( Das hab ich sechs Monate gemacht. Und dann ist er doch hinter die Wahrheit gekommen. Als sein Arzt ihn im Zimmer allein ließ, durchblätterte er sein Krankendossier. «
Als er vom Arzt heimkam, dachte Claire: »Er ist ja weiß wie Schnee.« Er schaute sie an und sagte: »Du wußtest also, daß ich zum Tode verurteilt bin. Lüg nicht. Ich habe die Krankenblätter gelesen.« Claire versuchte in aller Hilflosigkeit zu trösten: »Du kannst ja noch fünfzehn Jahre damit leben.« Ivan reagierte schroff: Ach weiß, wie lange ich zu leben habe - Wir wollen nie wieder davon reden.«
Im Jahr 1947 kehrte er mit seiner Frau nach Paris zurück. Es war die Heimkehr eines von Schmerzen geplagten Mannes. Ein Krankenhausaufenthalt folgte dem anderen. In deutscher Sprache hatte er begonnen zu dichten - und schuf sein größtes Werk, den Lyrikband »Traumkraut« - An den Schriftsteller Alfred Döblin schrieb er aus dem Krankenhaus: »Nach zwanzigjähriger Abkehr bin ich zur deutschen Sprache zurückgekehrt, mit welcher Hingabe und Lust der Erneuerung, fast klopfenden Herzens.«
Zwei Wochen vor seinem Tode ordneten die Ärzte im amerikanischen Hospital in Paris eine Blinddarmoperation an. »Diese Operation war zu viel für ihn«, erinnerte sich Claire Goll. »Sechzehn junge Schriftsteller und Maler kamen ins Krankenhaus und spendeten ihr Blut für den Sterbenden, der seine letzten Gedichte vollendete. Das gespendete Blut lief einfach durch wie Wasser. Er hat sich den Verband vom Körper gerissen, er wurde halb wahnsinnig. Ein schrecklicher Tod. Er schrie auf deutsch und französisch. Vier Krankenschwestern hielten ihn im Sauerstoffzelt. >Laßt mich allein mit meinem Tod ... laissez-moi seul avec ma mort!< Mit einer ungeheuren Stimme. Dann ist er gestorben. Es war der 27. Februar 1950. Er sah so schön aus wie ein jüdischer Prophet. «
Vor seinem Tod hatte Ivan Goll, der mit dem »Traumkraut« dem Geheimnis der Sprache auf die Spur gekommen zu sein glaubte, seiner Frau das Versprechen abgenommen, all seine anderen Werke zu vernichten. Sie tat es nicht. Sie wurde eine hartnäckige Kämpferin für die Anerkennung dieses Dichters, der auf dem Prominentenfriedhof »Père-Lachaise«, gegenüber dem Grab des Komponisten Chopin, beerdigt ist.
Im »Traumkraut« war es Ivan Goll gelungen, seine Frau Claire ganz zu erkennen. »Die Angsttänzerin« heißt das Gedicht.
Jetzt, wo Claire Goll weiß, daß sie Krebs hat, schreibt sie Gedichte auf den Tod. »Der Tod«, sagt sie zuversichtlich, »ist eine großartige Idee. Die Auflösung des Menschen ist ein Geschenk. Ich kehre zurück als Staub. Wir sind das Opfer eines Zellenaufbaus, wenn das nicht mehr da ist, ist nur noch Geist vorhanden, der sich mit anderem Geist mischt. Mit der Essenz des Göttlichen.«
Sie hat heute nur noch wenige Freunde. Vielleicht auch niemanden. Mit einer Gaspistole sichert sie sich vor Einbrechern. Sie träumt davon, in ihrer Wohnung ein Schwimmbecken einbauen zu lassen. »Ich bin so wild aufs Schwimmen«, sagt sie. »Und ich war immer so schön mit meinen roten Haaren im Wasser.«
Sie hat sich verändert in dem langen Gespräch. Ich habe es zwischen mir und ihr zum Krach kommen lassen. Es hatte ihr alles nicht gepaßt. Sie hatte ein Lokal ausgesucht. Das Essen war schlecht. Also, war ich schuld daran. Sie hatte nach draußen einen Regenschirm mitgenommen. Er war nicht mehr zu finden. Also, war ich schuld daran, daß er verlorengegangen war. Sie wollte nun gar nicht mehr reden. Und das war auch nicht nötig, denn ich suchte den Regenschirm trotz ihres Einwurfs, daß er hier nicht zu finden sei. Er lag im Abfalleimer.
Sie lädt sich alle zwei Stunden mit Aggressivität auf. Das muß man wissen und ihr Paroli bieten. In ihrer Hundsgemeinheit gegen andere kann man sie nicht stoppen, aber in der Hundsgemeinheit gegen einen selbst schon. Sie beschuldigt einstige Freunde, wie es ihr gerade Spaß macht, um dann gleich wieder etwas Gegenteiliges zu sagen. James Joyce, den Freund ihres Mannes, nennt sie widerlich, Franz Werfel ekelhaft, Elisabeth Bergner eiskalt und so weiter. Und dann sagt sie wieder ganz nebenbei: »Ich bin 85 Jahre alt. Ich singe in mir immer die Kantate von Bach >Ich freue mich auf meinen Tod.< Ich glaube, ich habe genug gelebt. Ich habe das schönste Apartment im Pere-Lachaise.« In einem Gedicht fragt sie Ivan:
Wirst du im Grab mir endlich ganz gehören?
Oder dringt auch noch dort der Regen
In dein immer offenes Herz?
Drängen die Veilchen sich noch
Bis zu deinen versteinerten Füßen?
Ich aber denke an ein Gedicht Ivans, das er 1933 schrieb:
Manchmal rückt ein Gesicht ganz nah:
Ein Mensch
Aus grauem Fels,
O eine Landschaft so voll Leid
Mit dürftigem Gestrüpp,
Mit krummen Kummerwegen,
Verschüttet, ohne Ausweg
Aus dem Leben.
Wie müde ist der Mund
Vom hoffnungslosen Beten,
Und ganz verlassen schon das Kinn.
Rechts oben nur am Schläfenhügel
Irrflattert noch ein Licht
Heimlich, irgendwo im Körper,
Hat schon das Sterben begonnen.
Ich habe sie liebgewonnen, die giftige Claire Goll. »Irgendwo springt ein Mensch aus dem Fenster, einen Stern zu haschen, und stirbt dafür«, hat Ivan Goll einmal geschrieben. Oder er stirbt nicht. Er lebt dann wie Claire Goll. Ich weiß nun, mit dem, was wir alle zu wissen meinen, ist nichts Neues anzufangen.
Claire Goll starb am 30. Mai 1977 - ein Jahr nach meinem Besuch, nach unserem Gespräch.