Lieber Dominik,
zuerst einmal herzlich willkommen im Forum!
Ich hab mich sehr gefreut über Dein so
freundliches Lobfür unser Forum, das mir inzwischen viel bedeutet.
Und ich finde auch Deine Fragen hier sehr interessant und anregend, wenn ich auch ziemlich verspätet darauf reagiere.
Deine Frage nach den Reimen kann ich leider überhaupt nicht beantworten, ja, ich muß sogar gestehen, daß ich das von selber gar nicht bemerkt hatte.
Vielleicht gibt es jemanden, der sich damit besser auskennt (ich bin nämlich nicht im geringsten ein „Experte“!)?
Und ich bin vor kurzem auf ein Buch aufmerksam geworden (ich kenne es allerdings noch überhaupt nicht, habe nur gelesen, daß es existiert), das vielleicht einiges zur Erhellung der Hintergründe beitragen kann:
Adrianna Hlukhovych: ? wie ein dunkler sprung durch eine helle tasse ?
Rainer Maria Rilkes Poetik des Blinden. Eine ukrainische Spur
Und nun möchte ich endlich versuchen, meine eigenen Gedanken zu diesem Gedicht in eine lesbare Form zu bringen:
Es ist ein sehr vielschichtiges Gedicht. Ich erinnere mich, beim ersten Lesen vor längerer Zeit hatte auch ich vage die Vorstellung, der Fremde könnte vielleicht „der Tod“ sein…
Inzwischen lese ich es anders.
Der Fremde beginnt das Gedicht mit einer behutsamen Frage, allerdings in sehr vertrautem Ton, und als ob er die Antwort schon wüßte:
Du bist nicht bang, davon zu sprechen?
Und er hat recht, die Blinde hat inzwischen genug Distanz zu dem, was ihr geschehen ist, sie kann es erzählen, ohne all die Qualen nochmals erleben zu müssen. Und der Fremde ermuntert sie dazu, sehr einfühlsam findet er genau den richtigen Ton, sodaß sie vertrauensvoll erzählen kann… und ich denke mir: es tut ihr gut, das alles diesem verständnisvollen „Fremden“ erzählen zu können…
Was erzählt sie nun: sie erzählt vom „Tod“, den diejenige erlitten hat, die sie damals war, und die ihr inzwischen so fremd geworden ist.
Und wirklich:
…Die Welt,
die in den Dingen blüht und reift,
war mit den Wurzeln aus mir ausgerissen,
mit meinem Herzen (schien mir),
es gelingt ihr, in ihrem Bericht die Distanz zu wahren; es ist eine „wissende Distanz“, keine, die aus Furcht gewählt wird. Und so kann sie Raum lassen auch für die schmerzlichen und fast nicht zu ertragenden Erfahrungen, die sie gemacht hat.
Das erinnert mich sehr an das, was ein Freund, er war Psychotherapeut, mir über sein „narratives Menschenbild“ erzählt hat…
Der Raum ist eingefallen. …
ich kann nicht leben so, mit dem Himmel auf mir.
Bisher hat sie den Himmel mit ihren Augen gesehen, gewölbt über alles andere Sichtbare…
Das ist nun nicht mehr so. Denn es gibt für sie nichts Wahrnehmbares mehr zwischen ihr und diesem Himmel…
Viel später wird Rilke schreiben:
Ach, nicht getrennt sein,
nicht durch so wenig Wandung
ausgeschlossen vom Sternen-Maß.
Innres, was ists?
Wenn nicht gesteigerter Himmel,
durchworfen mit Vögeln und tief
von Winden der Heimkehr.
(Die Gedichte 1922-1926)
Und die Blinde stellt sich die Frage:
Aber sprech ich zu dir, Mutter?
Oder zu wem denn? Wer ist denn dahinter?
Ja – zu wem spricht man, in solch scheinbar ganz auswegloser Bedrängnis?
Und natürlich gibt es auch die bange Frage:
Ohne mich! Wie kann es denn ohne mich Tag sein?
Fehl ich denn nirgends?
Fragt denn niemand nach mir?
Sind wir denn ganz vergessen?
Und sie sieht sehr deutlich, was die Zukunft bringen wird bzw gebracht hat:
Meine Blumen werden die Farbe verlieren.
Meine Spiegel werden zufrieren.
In meinen Büchern werden die Zeilen verwachsen.
Meine Vögel werden in den Gassen
herumflattern und sich an fremden Fenstern
verwunden.
Nichts ist mehr mit mir verbunden.
Ich bin von allem verlassen. -
Ich bin eine Insel.
Ja, alles, was früher „Leben“ zu bedeuten schien, das gibt es nun nicht mehr…
Und nun wieder der Fremde:
Und ich bin über das Meer gekommen.
Wer ist es, der über das Meer kommt (das alle Inseln untereinander und auch mit dem Festland verbindet), sachte seinen Kahn an uns anlegt und leise da ist, als wäre er schon immer da gewesen… gerade dann, wenn wir uns ganz dessen bewußt geworden sind, daß die bisherigen „Verbundenheiten“ trügerische waren, daß wir all-ein sind…
Wer ist es, der dann kommt?
seine Fahne weht landein.
Landein, das bedeutet: in Richtung des „Kontinentes“, mit dem die „Insel“ früher einmal verbunden war.
Die Blinde antwortet sofort:
Ich bin eine Insel und allein.
Ich bin reich. -
Denn sie „braucht“ es nun nicht mehr, dieses feste Land, sie hat gelernt, ihren Halt in sich selbst zu finden, auch ohne sich an dieses „Festland“ zu klammern.
Und sie erzählt auch
davon, von den Gefühlen, die ihr zunächst
aus dem Herzen fort gingen, die dann
alle zurückkamen gebrochen
und niemanden erkannten.
Nicht nur mithilfe ihrer anderen Sinne (
und mein Gehör war groß und allem offen), sondern auch in ihren
Gefühlen hat sie schließlich eine neue Sicherheit gefunden:
Einige sind Lesende
über Erinnerungen;
aber die jungen
sehn alle hinaus.
Hinaus… dort ist zunächst das offene Meer…
Ich muß nichts mehr entbehren jetzt
…
Und der Tod, der Augen wie Blumen bricht,
findet meine Augen nicht...
Ja, der Tod kann ihre Augen nicht finden. Denn ihre Augen, und damit so vieles an ihr, das „sterblich“ war, die sind schon längst gestorben, und sie können nicht ein zweites Mal sterben.
DER FREMDE leise:
Ich weiß.
Wer ist es , der so etwas weiß von uns, und dem wir die allerintimsten Dinge anvertrauen können?
… denn wir wissen: dieser „Fremde“ geht nicht her und trompetet es laut heraus, damit alle es erfahren, sondern er sagt es ganz
leise…
Ich glaube, jeder von uns trägt in sich die Sehnsucht nach einem solchen „Fremden“, der übers „Meer“ kommt und sich als unser vertrautester Freund herausstellt…
Vielleicht können wir dieses „Gegenüber“ dort finden, wo die Sehnsucht danach wohnt: in unserem eigenen Herzen…
Und nun, wo die Blinde auf ihrem schweren Weg nach innen gelernt hat, mit diesem „inneren Auge“ zu schauen, sich diesem „Fremden“ in ihrem Inneren gegenüberzustellen --- nun ist sie dort in sich angekommen, wo sie unsterblich ist…
Natürlich wird auch der Rest ihres Leibes einmal sterben. Aber die Bedeutung des „Todes“ wird eine andere sein.
Soweit meine derzeitigen Gedanken dazu. Ich finde es wirklich faszinierend, wieviele "Schichten" dieses Gedicht in mir anspricht, und wie es mir jedesmal noch anderes zu erzählen scheint...
Lieben Gruß!
stilz