Grüß Gott in die Runde, und danke, (liebe Anna) lieber lilaloufan, fürs „Wiederanknüpfen“!
Mit der Frage, wie dieses Gedicht zu lesen sei, will ich mich zuerst an Rilke selbst wenden. Das gelingt in diesem Fall sogar, mithilfe der wunderbaren Rilke-Chronik*) - ich finde hier, daß dieses Gedicht Anfang März 1924 in Muzot entstanden ist (der Spazierweg, der den Anlaß dazu bot, findet sich also wohl wirklich in Muzot), und ich erfahre auch noch, daß Rilke es am 19. März gemeinsam mit einigen anderen Gedichten an Katharina Kippenberg sendet, für den „Insel-Almanach“.
Und er schreibt dazu:
»Ich zögerte nicht, etwas >Leichteres< zu wählen, wie mir das immer für das weite Herumkommen des Jahrbuchs am angemessensten scheint.«
Das deckt sich mit meinem Empfinden beim Lesen des Gedichtes: ich habe nicht den Eindruck, daß man es nicht ganz direkt, sondern nur „im übertragenen Sinn“ lesen kann; ich habe auch nicht den Eindruck, daß Rilke hier etwas „propagiert“, daß er dem Leser vorschlägt, er „solle“ einen Weg in bestimmter „Gedankenabsicht“ gehen.
Sondern er macht darauf aufmerksam, wie es sich tatsächlich verhält.
Zunächst bei einem konkreten Spaziergang (der besonnte Hügel ist meiner Ansicht nach nicht ein erfundener, sondern ein in der Wirklichkeit vorhandener, und Rilke ist wirklich dort spazierengegangen): der Blick ist dem Weg, den die Füße beschreiten, „voraus“. Dieser „Blick zum Ziel hin“ bewirkt ein „Erscheinen des Ziels in der Ferne“ --- und dadurch erst „wissen“ die Füße, wohin sie gehen wollen. Dabei ist mit „Ziel“ nicht unbedingt das „Endziel“ gemeint (denn das ist uns auf einem Spaziergang ja oft verdeckt, vor allem in den Bergen), sondern es genügt uns dafür auch ein „Etappenziel“, eine „Wegmarke“.
Das Besondere ist, daß Rilke auf diesen ganz alltäglichen und oft ziemlich unbewußten Vorgang
aufmerksam wird.
Und er erkennt, daß ein ähnliches „Bestimmen des Weges vom Ziel her“ auch in unserem „Lebensgang“ aufzufinden ist.
Freilich gelingt es uns hier in den meisten Fällen wohl nicht, das „Endziel“ klar vor uns zu sehen. Aber auch im Leben „erscheinen“ uns „Wegmarken“ in der Ferne, die uns manchmal auch „anfassen“ und dann in eine bestimmte „Richtung“ weiterleben lassen.
Und wie oft gelingt es uns nicht, ein solches „Anfassen“ als ein Zeichen zu nehmen, eine bestimmte Richtung einzuschlagen --- sondern wir mißverstehen es als ein Hindernis auf unserem Wege. Wir spüren nur den „Gegenwind“...
@
vivic: an dieser Stelle finde ich doch, daß Rilke erwähnt, daß wir uns auch „fürchten“ können – allerdings stellt er ein solches „Fürchten“ gewissermaßen als ein Mißverständnis dar...
Ich denke dabei auch an:
- Ein Frühlingswind
Mit diesem Wind kommt Schicksal; laß, o laß
es kommen, all das Drängende und Blinde,
vor dem wir glühen werden -: alles das.
(Sei still und rühr dich nicht, daß es uns finde.)
O unser Schicksal kommt mit diesem Winde.
Von irgendwo bringt dieser neue Wind,
schwankend vom Tragen namenloser Dinge,
über das Meer her was wir sind.
.... Wären wirs doch. So wären wir zuhaus.
(Die Himmel stiegen in uns auf und nieder.)
Aber mit diesem Wind geht immer wieder
das Schicksal riesig über uns hinaus.
- - - und natürlich denke ich an unsere früheren Gespräche über
Rilkes Begriff von „Schicksal“...
@
lilaloufan: Ja. auch für mich macht dieses Gedicht darauf aufmerksam,
»wie gerade die allerkonkreteste sinnliche Erfahrung sich eignet zur Projektion ins Sinnhafte.«
Und dabei wiederum denke ich an den Prozeß der Verwandlung des Erlebnisses zum Kunstwerk, den Rilke immer wieder vollzieht -
hier hast Du darauf aufmerksam gemacht:
«
Aber ich frage mich oft, ob nicht das an sich Unbetonte den wesentlichsten Einfluss auf meine Bildung und Hervorbringung ausgeübt hat: (…)
die Stunden, die ich zubringen konnte, in Rom einem Seiler zuschauend, der in seinem Gewerb eine der ältesten Gebärden der Welt wiederholte, … genau wie jener Töpfer, in einem kleinen Nil-Dorf, neben dessen Scheibe zu stehen mir unbeschreiblich, in einem geheimsten Sinne ergiebig war.» Das ist aus einem Brief an
Alfred Schaer, 26.II.1924. - «
Drum zeig ihm [dem Engel]
das Einfache, das von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet | als ein Unsriges lebt, neben der Hand und im Blick. | Sag ihm die Dinge. Er wird staunender stehn; wie du standest | bei dem Seiler in Rom, oder beim Töpfer am Nil. | Zeig ihm (…)»; diese Passage aus der IX. Elegie endet ja mit: «
Wer wir am Ende auch seien.»
Herzlichen Gruß,
Ingrid
---
*)
Die wunderbare Rilke-Chronik.
Sie gibt uns eine Übersicht über das, was uns geblieben ist von Rainer Maria Rilke.
Und sie ist gleichzeitig auch etwas, das uns geblieben ist von unserem an Jahren wohl ältesten Forumsmitglied...
„unsere“ Renée, Frau Dr. Renate Scharffenberg, ist uns im Sommer dorthin vorausgegangen, wo „ein Glückliches fällt“.