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irgend einem in die Hand gegeben

Verfasst: 1. Nov 2006, 13:11
von Dorion
Aber jetzt in diesen Frühlingswochen
hat mich etwas langsam abgebrochen
von dem unbewussten dunkeln Jahr.
Etwas hat mein armes warmes Leben
irgendeinem in die Hand gegeben,
der nicht weiss was ich noch gestern war.

Mich stört daran dievorletzte Zeile : irgendeinem in die Hand gegeben.
Irgendeinem?! Immerhin liebt er doch eine konkrete Person, keine körperlose Fee..weshalb schreibt er zb. nicht "dir in die Hand gegeben"?( ok, das würde den rhytmus auseinander hauen, aber trotzdem)
Kann man auch hier den Ansatz nehmen, Rilke hätte Zeit seines Lebens nie wirklich geliebt, seine Geliebten eher als äußeres "Material" für sein innerliches Erleben "benutzt", bei dem die konkreten Personen zurück traten und es vielmehr ein Verliebtsein ins eigentliche, ach-so erhabene verliebtheits-gefühl war? Abstrahiert er seine Liebe so stark, oder..?

Und dann: der nicht weiss was ich noch gestern war... warum weiss er das nicht? Weil sie keine langjährigen Bekannten sind? Sich der Liebende im Gefühl der Liebe selbst veränderte, zu einem anderen wurde?

Würde mich freuen, wenn ihr mir helfen könntet. und ja: ich habe es vorher über doe suchfunktion probiert, allerdings bin ich damit nicht klar gekommen bzw. habe keine erfolge verbuchen können.

Verfasst: 1. Nov 2006, 14:09
von helle
ich schneie hier nur gerade zum Ende der Mittagspause herein. In diesem Fall finde ich unerläßlich, das ganze Gedicht, einschl. des Titels, anzugeben, weil man die von Dir zitierte letzte Str. nicht allein aus sich heraus verstehen kann. Oder sie anders verstehen muß als im Gedichtganzen. Und dann: das Ich des Gedichts "Die Liebende" ist nicht automatisch das Ich des Verfassers Rilke.


Die Liebende

Ja ich sehne mich nach dir. Ich gleite
mich verlierend selbst mir aus der Hand,
ohne Hoffnung, daß ich Das bestreite,
was zu mir kommt wie aus deiner Seite
ernst und unbeirrt und unverwandt.

... jene Zeiten: O wie war ich Eines,
nichts was rief und nichts was mich verriet;
meine Stille war wie eines Steines,
über den der Bach sein Murmeln zieht.

Aber jetzt in diesen Frühlingswochen
hat mich etwas langsam abgebrochen
von dem unbewußten dunkeln Jahr.
Etwas hat mein armes warmes Leben
irgendeinem in die Hand gegeben,
der nicht weiß was ich noch gestern war.


Aus: Das Buch der Bilder

Verfasst: 1. Nov 2006, 14:43
von Dorion
Ich bin mir durchaus dessen bewusst, dass das lyrische Ich nicht gleich der Autor selbst ist, aber immerhin ist es doch nahe liegend, dass er die Liebe, so, wie sie selbst empfand, in seinen Gedichten beschreibt.


Etwas hat mein armes warmes Leben
irgendeinem in die Hand gegeben,
der nicht weiß was ich noch gestern war.

Das "irgendeinem" sollte vllt. auch zusammen mit dem ebenfalls unbestimmten "etwas" gelesen werden -letztlich findet beides auf einer Ebene statt.

Verfasst: 1. Nov 2006, 20:06
von helle
Das finde ich auch, daß etwas Unbestimmtes im Gedicht ist. Man kann sich natürlich fragen, ob das eine Schwäche des Autors ist, oder ob er diese Unbestimmtheit mit Absicht darstellt, weil eben dies die seelische Verfassung der "Liebenden" wiedergeben soll. Schließlich weiß man auch nicht, ob die "Liebende" eine konkrete Person liebt, für mich sieht's nicht so aus. Sie sehnt sich zwar danach, jemanden zu lieben, aber diese Sehnsucht ist nur ausgesprochen und wird im Gedicht nicht erfüllt. Sie "verliert" sich und gibt sich aus der Hand, aber es wird nicht gesagt, ob sie irgendwo ankommt. Vielleicht ist es das, was Dich daran stört: daß Du lieber eine bestimmte Person Dir vorstellst. Mit etwas gutem Willen könnte man tatsächlich eine Parallele zu Rilkes Leben ziehen, der es selten länger mit einer Geliebten ausgehalten hat (Lou Andreas-Salomé ist eine Besonderheit), aber doch immer wieder sich verliebt und geliebt hat. Für die sprachliche Bestimmung des Gedichtes scheint mir die biographische Parallele aber ohne Belang; ich glaube, Rilke geht's ums Allgemeine und ich würde Dir darin Recht geben, daß das Gedicht "ein Verliebtsein ins eigentliche, ach-so erhabene verliebtheits-gefühl" beschreibt, ohne daß man das ironisieren muß. Das legt auch die Zeitangabe der "Frühlingswochen" nah, die Zeit der Frühlingsgefühle, in der man manchmal selbst nicht weiß, wie einem geschieht. Das ist Dir vielleicht auch schon so gegangen, ich denke, es geht (bzw. ging). manchen so,

nicht zuletzt von Zeit zu Zeit auch
helle

Verfasst: 2. Nov 2006, 10:24
von stilz
Ich möchte auch noch ein paar Gedanken dazugeben:

Dieses "irgendeinem" kann sehr wohl auch eine bestimmte Person meinen, wenn man das "Unbestimmte" darin sieht, daß man ja auch die "allerbestimmteste" Person nicht wirklich kennen kann, nicht so genau jedenfalls, wie man sich selber kennt, schon gar nicht nach einer kurzen Zeit der Bekanntschaft, wie verliebt auch immer man sein mag.
Und auch der Geliebte kennt die Liebende nicht, eben weil er nicht weiß was ich noch gestern war.

Das scheint mir immer wieder ein Thema bei Rilke zu sein, ich denke an die Dinge, die er über die Ehe geschrieben hat, das "Nebeneinanderwohnen", das "Wache halten an der Einsamkeit des anderen", von der man nur erfährt, was "festlich gekleidet" aus dem Dunkel tritt... oder auch (Duineser Elegien), daß der Blick in das "Offene" einem so oft gerade durch den Geliebten verstellt ist...

Die Liebende ist in einen Zustand geraten, in dem sie sich in eine "fremde" Hand gibt,
ohne Hoffnung, daß ich Das bestreite,
was zu mir kommt wie aus deiner Seite



Was ich noch interessant finde:

Das Gedicht heißt ausdrücklich "Die Liebende"... es ist also von einer Frau die Rede.
Und es gibt ja auch heutzutage noch die Meinung, Frauen würden irgendwie "anders" lieben als Männer, ausschließlicher, hingebender... ich möchte nicht sagen, daß ich diese Meinung teile.
Aber ich könnte mir vorstellen, diese "weibliche" Art des Liebens, wo das "sich Verlieren" mit eingeschlossen ist, könnte etwas gewesen sein, das Rilke in sich selbst nicht zulassen wollte...

Oh, jetzt werde ich doch "biographisch", das wollte ich eigentlich nicht!

Also: für mich stellt dieses Gedicht das oben beschriebene "weibliche" Verliebtsein dar.


Und dieses "Etwas", das das Leben der Liebenden in "fremde" Hand gegeben hat, ja, das sind wohl wirklich genau diese Frühlingsgefühle, (bei denen) man manchmal selbst nicht weiß, wie einem geschieht...

natürlich kennt die auch

stilz