Oder ist er von dem Jammerbild der Konfessionen des gekreuzigten Gottes so deprimiert, dass der Albtraum sinnlos scheinender Passion ihm den Blick auf das „Weltverjüngungsfest“ verstellt, mit dem im Ostergeschehen das Ur-Verwandlungswunder so geschieht, dass von da ab das, was früher im hermetisch gehüteten Dunkel von Mysterien-Einweihungsstätten sich vollziehen musste, nun im vollen Licht, vor aller Welt, geschehen kann?
Ich sollte etwas ergänzen: Per e-Mail werde ich gefragt, was denn meine Antwort sei. Hier meine Erwiderung: ich bin dankbar, dass Du mich fragst. Du hast mir bestätigt, dass ich Deine Gründe, mich nicht per Posting zu fragen, verstanden habe. Umso mehr bin ich gewiss, meine Antwort so ins Forum stellen zu können, dass Du Dich frei von diesen Gründen am weiteren Gespräch wirst beteiligen mögen.
Es ist nicht einfach auszudrücken. Rilke geht ja durch eine Jugendphase glühender Verehrung des Schöpfungs-Gottes, Jahwes. Der Nazarener am Kreuz bleibt ihm dagegen schon damals fremd. Die Kirchengeschichte suspekt. Entsprechend dem, wie der Knabe Goethe sich seinen „Altar“
- (Der Knabe hatte sich überhaupt an den ersten Glaubensartikel gehalten. Der Gott, der mit der Natur in unmittelbarer Verbindung stehe, sie als sein Werk anerkenne und leibe, dieser schien ihm der eigentliche Gott, der ja wohl auch mit dem Menschen wie mit allem übrigen in eine genaueres Verhältnis treten könne und für denselben ebenso wie für die Bewegung der Sterne, für Tages- und Jahreszeiten, für Pflanzen und Tiere Sorge tragen werde. Einige Stellen des Evangeliums besagten dieses ausdrücklich. Eine Gestalt konnte der Knabe diesem Wesen nicht verleihen; er suchte ihn also in seinen Werken auf und wollte ihm auf gut alttestamentliche Weise einen Altar errichten. Naturprodukte sollten die Welt im Gleichnis vorstellen, über diesen sollte eine Flamme brennen und das zu seinem Schöpfer sich aufsehnende Gemüt des Menschen bedeuten. Nun wurden aus der vorhandenen und zufällig vermehrten Naturaliensammlung die besten Stufen und Exemplare herausgesucht; allein, wie solche zu schichten und aufzubauen sein möchten, das war nun die Schwierigkeit. Der Vater hatte einen schönen, rot lackierten, goldgeblümten Musikpult in Gestalt einer vierseitigen Pyramide mit verschiedenen Abstufungen, den man zu Quartetten sehr bequem fand, ob er gleich in der letzten Zeit nur wenig gebraucht wurde. Dessen bemächtigte sich der Knabe und baute nun stufenweise die Abgeordneten der Natur übereinander, so dass es recht heiter und zugleich bedeutend genug aussah. Nun sollte bei einem frühen Sonnenaufgang die erste Gottesverehrung angestellt werden; nur war der junge Priester nicht mit sich einige, auf welche Weise er eine Flamme hervorbringen sollte, die doch auch zu gleicher Zeit einen guten Geruch von sich geben müsse. Endlich gelang ihm ein Einfall, beides zu verbinden, indem er Räucherkerzchen besaß, welche, wo nicht flammend, doch glimmend den angenehmsten Geruch verbreiteten. Ja, dieses gelinde Verbrennen und Verdampfen schien noch mehr das, was im Gemüt vorgeht, auszudrücken als eine offene Flamme. Die Sonne war schon längst aufgegangen, aber Nachbarhäuser verdeckten den Osten. Endlich erschien sie über den Dächern; sogleich war ein Brennglas zur Hand genommen und die in einer schönen Porzellanschale auf dem Gipfel stehenden Räucherkerzen angezündet. Alles gelang nach Wunsch, und die Andacht war vollkommen. Der Altar blieb als eine besondere Zierde des Zimmers, das man ihm im neuen Haus eingeräumt hatte, stehen. Jedermann sah darin nur eine wohl aufgeputzte Naturaliensammlung; der Knabe hingegen wusste besser, was er verschwieg. Er sehnte sich nach der Wiederholung jener Feierlichkeit. Unglücklicherweise war eben, als die gelegenste Sonne hervor stieg, die Porzellantasse nicht bei der Hand; er stellte die Räucherkerzchen unmittelbar auf die obere Fläche des Musikpultes; sie wurden angezündet, und die Andacht war so groß, dass der Priester nicht merkte, welchen Schaden sein Opfer anrichtete, als bis ihm nicht mehr abzuhelfen war. Die Kerzchen hatten sich nämlich in den roten Lack und in die schönen goldnen Blumen auf eine schmähliche Weise eingebrannt und, gleich als wäre ein böser Geist verschwunden, ihre schwarzen, unauslöschlichen Fußtapfen zurückgelassen. Hierüber kam der junge Priester in die äußerste Verlegenheit. Zwar wusste er den Schaden durch die größten Prachtstufen zu bedecken, allein der Mut zu neuen Opfern war ihm vergangen; und fast möchte man diesen Zufall als eine Andeutung und Warnung betrachten, wie gefährlich es überhaupt sei, sich Gott auf dergleichen Wegen nähern zu wollen.)
im Äußern, mit Natur-Dingen, zur inneren Andacht errichtet, erbaut sich Rilke einen solchen im Innen und verlegt die Andacht nach außen, ins Interesse am Innen der Dinge.
Und Rilke weiß nicht nur, dass er, ganz aus der Achtsamkeit seiner Selbst-Bewusstseins-Kraft heraus, der Vollzieher dieser Wandlung sein kann, mit der all diese Dinge „
ins Unsichtbare“ verwandelt sein wollen, bis sie aus Innen bestehen oder Außen und Innen in Eins fallen - sondern er fühlt sich auch in seinem Willen aufgerufen, mehr noch, appellativ lässt er alle Verstehenden den lyrischen Zuruf zur Erde hören:
Was, wenn Verwandlung nicht, ist Dein drängender Auftrag! (
http://rilke.de/gedichte/die_neunte_duineser_elegie.htm)
Aber er, der noch im «Stundenbuch» ahnte, wie Gott und Menschen-Ich voreinander knien, scheint mir die Frage zu überspringen, wer der Verwandler der Erde, der Spender aller Verwandlungskraft im Seelischen ist. Fast geniert er sich, in den
imaginativen Bildern des Frühwerks den Schöpfer alles auch im Menschen Kreatürlichen verehrt zu haben, den „Vater“, und unmittelbar wendet er sich den Feuerzungen des „Geistes“ zu, die sich so in seine Sprache herabsenken sollen, dass diese zur wiederbelebten Zeugin des allem Geschehen innewohnenden Logos werden kann, spätestens seit Duino mehr und mehr der willenshingegebenen
Intuition im Sturmbrausen der Nacht-Eingebung vertrauend, in der die Seele zu tiefen Einsichten erwacht und sprachfähig wird.
Werkbiographisch dazwischen liegt das Malte-Wort: «
Ich bin der Eindruck, der sich verwandeln wird.»
«
Nur ein Schritt» würde fehlen zur Unio Mystica des Seligseins - welcher? Welchen lässt Rilke fehlen? So fragst Du mich.
Rilke fühlte tief mit allem. Unübertrefflich tief, ohne Zweifel. Aber verwandelt er irgendwo dieses tiefe Fühlen selbsttätig in etwas anderes, in Neues hinein? Siehst Du, da meine ich, und das nicht aus Unentschiedenheit: ja und nein.
Ja: Er kann das, indem er sich dem denkenden Bewusstsein, das sich ihm als zum (künstlerischen) Verwandeln begabt zeigt, so anvertraut, so sich ihm hingibt, ja so in ihm aufgeht, dass aus dem von den Dingen angestoßenen Imaginieren dichterischer Bilder ein Inspirieren des
Wesens der Dinge wird, vergleichbar dem, wie wir den Klang einer Glocke, die wir im Turmgestühl bewundern, schon vor dem ersten Klöppelschlag „hören“ können.
Aber nein: Rilke stellt sich diesem Bewusstsein nicht so gegenüber, dass dieses
sich selbst begegnen kann; er sieht die vielen Lider, er bemerkt den Widerspruch, der darin liegt, dass ihr Gesamt „
niemandes Schlaf“ darstellt - und er löst ihn nicht ins
Leben hinein auf, wo er diesen Jemand erkunden könnte im Wege
reiner Ich-Erfahrung, sondern ruft ihn in der Inschrift des
Totendenkmals auf.
Du weißt, es geht mir überhaupt nicht darum, den Repräsentanten einer solchen Ichheit in den Begriffen christlicher Lehre oder Überlieferung so zu benennen wie die Bibel ihn benennt, sondern ich meine das personale Erlebnis, vor sich so zu stehen, dass das Urbild menschlichen Ichs - so wie ja die Hortensie sich Rilke als
reines Ding-Wesen offenbart - vor dem Menschen steht: als
reines Ich-Wesen, als Verwandler des Todes in Leben.
Unser gewohnter tagesbewusster Umgang mit der Hortensie auf Großmutters Grab ist ja demgegenüber ein Blick bloß in den Spiegel; da begegnet uns nicht reines Wesen, sondern gefärbt durch unsere „Brille“ - je nachdem ob wir Botaniker, Hortensienliebhaber, Florist, Zierpflanzengärtner, Schmetterlingszüchter, Pflanzenfarbenchemiker, Lehrer, Maler, Schwarmgeist, Großmutters Hinterbliebener, Friedhofsschänder, Fotograph, Blattlausspezialist oder Hauspoet sind, werden wir etwas anderes „sehen“. Von alledem Speziellen, mehr vom Blickenden als von der Hortensie Bestimmten, kann Rilke aufschauen zu dem Universellen, er „lernt sehen“.
Aber eines nicht: das Menschen-Ich - dieses wird ihm
nicht zur reinen Erfahrung. Da bleibt Rilke beim Blick in den Spiegel stehen, und dieser Spiegel-Blick kann ihm hier nur zeigen, wie das Bewusstsein in jedem Moment Raubbau an unseren Vitalkräften treibt, ermüdend zum Tode hin.
Umgekehrt, in der reinen Ich-Erfahrung aber kämen ihm die Leben spendenden Ich-Leistungen in den Blick, die Er-lösung von der Gebundenheit des Ich an seine Instrumente. Dann würde der spätere Rilke neben dem vielen, das er von Malte gelernt hat, auch dieses Maltesche Ich-Bin-Wort verstehen: Ich bin die künftige Metamorphose dessen, was dem Kosmos Eindrücke gibt.
Denn das, was einerseits uns von unseren Schicksalspartnern entgegengetragen wird an Förderung wie an Herausforderungen, und zugleich das, was wir an Folgen unserer Taten und unserer Versäumnisse in unseren sozialen Umkreis hineinverantworten, das sind wir zunächst, biographisch gesehen. Davon hat die Welt, die der Mitmenschen und die der „Dinge“, ebenso
Eindrücke, wie der Himmel und seine Wesen davon Eindrücke haben. Aber „bin“ ich das auch, wenn ich meine εντελέχεια, mein Ewigkeitsdasein meine? Oder beginnt nicht gerade da, wo ich dieses zunächst Eindruck Erzeugende gleichsam von außen in den Blick nehme (gleich ob im Tode oder im spirituellen Üben), die
Selbst-Verwandlung, die die Subjekt-Objekt-Grenzen aufhebt so wie der Flügelschlag der schlüpfenden Imago die Schwere der Raupe?
Kann ich das nicht, in immer neuen Entschlüssen zur Erde («
Du liebe, ich will!»), zu dem «Idealischen Menschen» (Schiller) hin entwickeln? «Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?» (Lessing, § 100)
In der 40. Aufzeichnung kommt Malte dem ganz nahe: «
Ist es nicht an uns, uns zu verändern? (…)
Wie, wenn wir ganz von vorne begännen die Arbeit der Liebe zu lernen, die immer für uns getan worden ist?»
Hat Rilke die Göttertaten dieser immer für uns getanen Liebe als solche erkannt? Oder lässt er nur den Schöpfer („Vater“) und den Heiligen Geist als Götter gelten und nur die Menschenliebe als Liebe? Hat er erkannt, dass dieses „ganz von vorne“ Beginnen jedesmal im Anfang einer Menschen-Kindheit eine neue Entwicklungs-Chance ist?
So, weißt Du, in diese Richtung gehen meine Fragen. Nur diese zu präzisieren konnte meine Antwort sein.
Christoph