Fragen zu Rilkes "Das Marien-Leben"

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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Dasha
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Fragen zu Rilkes "Das Marien-Leben"

Beitrag von Dasha »

:oops: Fragen zu Rilkes "Das Marien-Leben" :

1.
Bist du so weit, ist alles in dir Stein,
Wand, Aufgang, Durchblick, Wölbung...
(Die Darstellung Mariae im Tempel)
Was bedeutet das wort "Durchblick"?
In dem Duden: 1. Blick, Ausblick zwischen od. durch etw. hindurch; 2. das Verstehen von Zusammenhangen; Überblick über etw.
Ist es ein Ding wie "Stein, Wand, Aufgang"? Könnten Sie mir es bitte erklären?

2.
...Nun soll ein Neues sein,
von dem der Erdkreis ringender sich weitet.
(Verkündigung über den Hirten)
Was bedeutet das Wort "ringend"? Bedeutet es "kreisen" oder "mit jemandem ringen"?

3.
und jetzt verkehrst du plötzlich die Natur.
(Vor der Passion)

schon hob er sie, der alles von ihr wußte,
hinein in ihre göttliche Natur.
(Vom Tode Mariae (Derselbe große Engel, welcher einst))

Wie soll ich das Wort "Natur" verstehen? Bitte gib mir einen Rat!

4.
Schau den Leinwand: wo ist eine Bleiche,
wo er blendend wird und geht nicht ein?
(Vom Tode Mariae (Doch vor dem Apostel Thomas, der))

In das Wörterbuch, ist das Wort "Leinwand" ein Femininum. Warum schrieb Rilke es als ein Maskulinum?

Für Ihre Mühe danke ich im Voraus.
Freundliche Grüße Dasha
so leben wir und nehmen immer Abschied.
e.u.
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Beitrag von e.u. »

Hallo Dasha,
1. 'Durchblick' meint hier nicht unser alltägliches Wort 'Verständnis', sondern ist ein Fachbegriff in der Architektur. Im Prinzip ist damit eine Wandöffnung bezeichnet, die unterschiedliche Ausblicke ermöglichen kann:
- in die Natur, Landschaft
- in einen anderen Raum, z.B. Seitenschiff einer Kirche, Chor usw.
- in einen gemalten Raum. So etwas kannte man schon in der Antike. In Pompej wurden auf eine Wand 'Durchblicke' gemalt und auf ihren Flächen auch Landschaften. Das konnte ganz illusionistisch wirken.
Rilke hat vielleicht hier einfach das Wort "Fenster" vermeiden wollen, das er sonst oft benutzt und bei ihm eine besondere Bedeutung hat. Übrigens, wenn Fenster als 'Durchblicke' bezeichnet werden, haben sie in der Regel keine Verglasung.

2. Mit 'ringender' vermute ich nicht, dass Kampf gemeint ist. Eher, dass die Ausweitung in Ringform geschieht. Möglicherweise ist damit schon so etwas wie 'Umwelt' eines Objekts usw. verstanden. Dazu steht bei Jakob vonUexküll, den Rilke ja gut kannte, viel mehr...
Doch möglicherweise ist die Textstelle viel einfacher zu erklären. Schau doch mal das Gedicht 'Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen...' an.

Sicher gibt es zu den anderen Stellen auch noch Anregungen
Mit guten Wünschen
e.u.
e.u.
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Beitrag von e.u. »

Hallo Dasha,
noch etwas: 'Leinwand' kann durch aus auch mask. (oder neutr.) sein. Ich habe aber für mask. keine Belege gefunden. Allerdings steht das in Grimms Wörterbuch - und das hat Rilke ja systematisch gelesen (sogar in Paris).
e.u.
Dasha
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Beitrag von Dasha »

Herzlichen Dank, liebe e.u.
Würden Sie es mir bitte mitteilen, welches deutsches Wörterbuch ist autoritativ zu einem Ausländer?
so leben wir und nehmen immer Abschied.
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Lieber dasha, "Natur" im ersten Fall bedeutet soviel wie : die Gesetze der Natur, die Bedingungen unseres Lebens. Wenn jemand die "Natur verkehrt", dann tut er etwas gegen den natürlichen Ablauf des Lebens. Wenn er, Christus, als junger Mann in den Tod geht, während seine Mutter noch lebt, das wäre dann "gegen die Natur".
Im zweiten Fall ist es ein theologischer Begriff. Nach christilicher Vorstellung ist Christus gleichzeitig Gott und Mensch. Deswegen spricht man von seiner "göttlichen" und seiner "menschlichen Natur". D. h. hier soviel wie "Wesen", "Persönlichkeit". nach katholischer Auffassung hat Maria Anteil an dieser "göttlichen Natur", d.h., sie hat in ihrem Wesen auch Göttliches und nicht nur Menschliches.
Lieber e.u., du weißt so unglaublich viel über Rilke, wäre es sehr indiskret, dich zu fragen, was du beruflich machst?
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Lieber dasha, "Natur" im ersten Fall bedeutet soviel wie : die Gesetze der Natur, die Bedingungen unseres Lebens. Wenn jemand die "Natur verkehrt", dann tut er etwas gegen den natürlichen Ablauf des Lebens. Wenn er, Christus, als junger Mann in den Tod geht, während seine Mutter noch lebt, das wäre dann "gegen die Natur".
Im zweiten Fall ist es ein theologischer Begriff. Nach christilicher Vorstellung ist Christus gleichzeitig Gott und Mensch. Deswegen spricht man von seiner "göttlichen" und seiner "menschlichen Natur". D. h. hier soviel wie "Wesen", "Persönlichkeit". nach katholischer Auffassung hat Maria Anteil an dieser "göttlichen Natur", d.h., sie hat in ihrem Wesen auch Göttliches und nicht nur Menschliches.
Lieber e.u., du weißt so unglaublich viel über Rilke, wäre es sehr indiskret, dich zu fragen, was du beruflich machst?
Liebe Grüße nach China und nach wo auch immer Gliwi
Dasha
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Beitrag von Dasha »

Liebe Gliwi,
Endlich, machst du mich das Wort "Natur" verstehen! Nochmals vielen Dank für deine Hilfen.
Liebe Grüße nach Ba-Wü
so leben wir und nehmen immer Abschied.
e.u.
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Beitrag von e.u. »

Hallo Dasha,
das mit dem verbindlichen Wörterbuch ist gar nicht so einfach. Es gibt nämlich nur für die Rechtschreibung eine gewisse Verbindlichkeit. Da ist es der Duden. Aber das ist ja bei Rilke nicht das Thema.
Er hat das Wörterbuch z.B. in Paris nur deshalb gelesen, weil er seinen Wortschatz erweitern wollte. Das ist schon verständlich, weil er als Mitglied einer deutschen Minderheit in Prag keinen heimatlichen Dialekt als natürliche Grundlage hatte. Das in Prag gesprochene Deutsch war doch ziemlich papierern (Friedrich Torberg hat darüber einige Glossen verfasst) und arm an Ausdrücken. Da wollte Rilke sich den großen deutschen Wortschatz aneignen. Seine Idee war nicht übel - vor allem wenn man einsam in einer fremd(sprachig)en Stadt lebt. Das gelingt wirklich dann am besten, wenn man das umfassendste deutsche Wörterbuch seiner Zeit studierte. Das Deutsche Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm. Bis 1905 war man allerdings erst in der veröffentlichten Version bis zum Stichwort "Sprechen" gekommen. Es hatte neben den vielen Ausdrücken auch noch den Vorteil, dass zu jedem Wort Stellen aus der deutschen Literatur zititert wurden, d.h. der literarische Gebrauch sichtbar wurde.
Als modernes Wörterbuch ist im letzten Jahr die 10.Auflage von Herman Paul: Deutsches Wörterbuch herausgekommen. Auch da werden literarische Belege angeführt, was die Einschätzung der Stilebene oft erleichtert.
Übrigens gibt's das Grimm'sche Wörterbuch (Taschenbuchausgabe mit 33 Bänden) schon seit langer Zeit im modernen Antiquariat. Wider Erwarten oft eine spannende Lektüre - da muss ich Rilke zustimmen.
Übrigens konnte sich Rilke das Grimmsche Wörterbuch natürlich nicht leisten. Er ging deshalb in die Nationalbibliothek und las ...
Grüße
e.u.
Dasha
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Beitrag von Dasha »

Liebe e.u.
Ich weiß gar nicht, wie ich es gutmachen soll.
so leben wir und nehmen immer Abschied.
Dilara
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Beitrag von Dilara »

Grüße Sie alle...Dasha, e.u., gliwi...

Hallo e.u.,

bin neugierig geworden, wie ein Wörterbuch systematisch studiert und angeeignet wird, und wenn es dazu noch aus
33 Bänden besteht. Bis zu welchem Stichwort ist Rilke gekommen, und wie war sein gespochenes Deutsch, weiß man das?

Mit rilkeschen Grüßen
Dilara
Dilara
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Beitrag von Dilara »

Grüße Sie alle...Dasha, e.u., gliwi...

Hallo e.u.,

bin neugierig geworden, wie ein Wörterbuch systematisch studiert und angeeignet wird, und wenn es dazu noch aus
33 Bänden besteht. Bis zu welchem Stichwort ist Rilke gekommen, und wie war sein gespochenes Deutsch, weiß man das?

Mit rilkeschen Grüßen
Dilara
e.u.
Beiträge: 320
Registriert: 5. Jun 2003, 10:29

Beitrag von e.u. »

Hallo Dilara,
da sind wir wohl alle überfragt. Rilke hat - soweit ich sehe - nicht geschrieben, wie der das Grimmsche Wörterbuch studiert hat. Er hat auch nicht gesagt, dass er das mit einem 'System' gemacht hat. Vielleicht ist es so, wie wir es wohl alle machen: Man schnappt sich einen Band und beginnt zu blättern und querzulesen. Meist bleibt man bei einem merkwürdigen Wort hängen. Bei Grimm beginnt z..B. ein Band mit dem Stichwort 'Biermörder' (??!), manches liest man quer, ist erstaunt und manches überblättert man. Was interessant ist, bleibt im Kopf hängen (wird vielleicht auch mal auf einem Blatt notiert) und findet später Verwendung. Es wäre sicher spannend, ab Rilkes Pariser Zeit nach solchen etwas entlegenen Ausdrücken in den Gedichten zu suchen und bei Grimm nachzusehen. Aber was hilft das? Zumindest wird man auf Wörter neugierig.
Na denn viel Spaß!
e.u.
Dilara
Beiträge: 7
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Beitrag von Dilara »

Es schneit im Herbst..............................................................................

Grüße Sie herzlich e.u.,

ja das Querlesen von Wörterbüchern ist mir sehr bekannt.

Kann es aber auch Menschen geben, die wirklich nach dem
Alphabet gehen, und jeden Tag stückweise Wörter neu lernen oder vertiefen? Gibt es vielleicht so einen hier in diesem Forum?

Wenn ich Rilke lese, bleibe ich natürlicherweise bei so ungewöhnlichen und selten verwendeten Wörtern hängen, aber dadurch lerne ich persönlich viel von Rilke.

Bis demnächst...

Mit rilkeschen Grüßen
Gisela23

Rilkes Marienbild???

Beitrag von Gisela23 »

Hallo Dasha!
Hast Du ausführlicher über "Rilke und Maria" gearbeitet? Ich will evtl. meine Examensarbeit zu diesem Thema verfassen und bin auf der Suche nach Sekundärliteratur. Kannst du mir Tipps geben?
Dankeschön!
Gisela
.Sabine.
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Beitrag von .Sabine. »

Hallo,

besitzt zufällig jemand den Kleinen "Brockhaus" von 1904 ? Ich habe mir gerade den "Brockhaus" von 1906 angeschafft - digitalisiert auf CD Rom und bin begeistert. Der Eintrag "Rilke" ( - bei "Rodin" -) zeigt aber nur auf einen Verweis zur Ausgabe von 1904 .

Wäre doch interessant zu erfahren, was 1904 über Rilke geschrieben wurde.

Sabine
:lol:

ps.: ...einen Eintrag für "Key, Ellen" gibt es 1906 !
"Ich lerne sehen.... " (Rainer Maria Rilke)
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