- Ich will ein Garten sein, an dessen Bronnen
die vielen Träume neue Blumen brächen,
die einen abgesondert und versonnen,
und die geeint in schweigsamen Gesprächen.
Und wo sie schreiten, über ihren Häupten
will ich mit Worten wie mit Wipfeln rauschen,
und wo sie ruhen, will ich den Betäubten
mit meinem Schweigen in den Schlummer lauschen.
helle hat geschrieben:…nun will er schon so willenlos, daß er "den Himmeln zur Verfügung steht" und beinah selbst "zu den Göttern zählt, die Himmel und Erde bewohnen." Was will er denn eigentlich sagen…
Lieber @
helle, jeder wirkliche Häretiker hat sich ganz gründlich vertraut gemacht entweder mit der Lehre, gegen die er antritt, oder mit Zuständen der Praxis, die er anprangert. Er kann nicht beim Stellen der Frage, was ein Dogma besagen wolle, schon kopfschütteln. Sonst bleibt er, statt mit seinem Zweifel Bestehendes gewissenhaft zu prüfen, ein Ignorant, der nur seine eigenen Vorbehalte wiederholt, ohne selbst deren Litanei zu kennen.
Ich wundere mich - da du doch im Forum überzeugend erweist, Kritik nicht philiströs, sondern souverän zu beherrschen (und ich würde es nicht wie du „Krittelei“ genannt haben). Und ich bin enttäuscht: zum einen, dass du meine Schritt für Schritt aufgebaute Charakteristik von gesteigertem Willen so gründlich in Richtung Willenlosigkeit missverstehst. Zum anderen bedauere ich, dass du bei diesem Gedicht deine Klarheit so aus dessen formalen Elementen wiederzugewinnen suchst und nicht aus der Aussage und den Bildern selbst, die ein dem unpoietischen Bewusstsein freilich Diffuses, Dunstiges, sprachlich doch sagbar machen.
Zunächst zum Ersten: Vom willensschwach Windwendigen hätten die Himmel keinen Gewinn: Den Himmeln steht zur Verfügung, wer seine ganze Existenz dafür einsetzt, dass deren Wille geschehe. 'Also auch auf Erden'. Eine Menschenseele, die nicht nur gleichgültig und resignativ sich einem Auf und Ab und Wohl und Wehe überlässt, sondern die der Himmel Garten, Zeugnis Abelscher Kulturtätigkeit sein will, fruchtbarer Ort des Hervorbringens, der Verwandlungen, des Gedeihens, und dabei dem Himmel nicht etwa achtlos ausgesetzt, sondern anvertraut – die trägt Entwicklung in die Reiche der Himmel. Ein solcher Seelen-Garten ist nicht Erdenwildnis und nicht himmlisches Paradies, sondern eben „Garten“ - und damit die Steigerung jener Gegensätze.
Friedrich von Schiller hat geschrieben:Suchst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann es dich lehren.
Was sie willenlos ist, sei du es wollend; - das ist's.
Die Menschenseele (nicht die seelische Tagesform eines 1879 noch ungeübten Poeten, sondern menschheitlich betrachtet: die Entelechie), die Menschenseele will ein Garten sein. Das sogenannte „lyrische Ich“, Νώος ποιητικόυ ,sagt das, und wo dieses spricht, spricht Allgemeinmenschliches, nicht ein René und nicht ein Irgendeiner. Mehr steht da nicht. Nicht, dass sie nur in einer ganz bestimmten Gemütsstimmung Garten sein wolle, sondern dass sie „ein Garten sein“ will. So ist das. Es ist nicht eine
Sehnsucht, Garten zu sein, und nicht eine verbohrte
idée fixe, Garten sein zu müssen, sondern Bild einer Daseinserfüllung: Die Menschenseele nähert sich der Übereinstimmung mit ihrem eigenen Wesen, wenn sie Garten wird.
Und dies wird sie nicht im naturhaften Entwicklungsgang, sondern nur wenn sie sich entschließt und aufrafft und einem Gärtner Gelegenheit gibt, daran zu ackern und aus Brunnen zu schöpfen und den Erziehschnitt zu betreiben. Dem Gärtner vielleicht, als den die Frauen im Garten Gethsěmane den Auferstandenen sahen.
Die Menschenseele will – in diesem Sinne – Ort immerwährender Auferstehung sein.
Nun ist dieser Gedanke so nah an religiös verbrauchten Bildern, dass meine Sätze womöglich wie Kanzelwort wirken. Darum hier ganz deutlich: Ich will kein Prediger sein, ich stelle keinen Imperativ auf, sage nicht: Du Mensch solltest dies oder du solltest jenes tun oder sein oder sein wollen. Sondern ich behaupte, Rilke beobachtet intim das Selbstverständnis der Menschenseele, und er hört sie sagen: «Ich will ein Garten sein».
Und was nun geschähe (ja, Konjunktiv!) in diesem Garten? An einem Bronnen brächen die vielen Träume neue Blumen. Welche Träume? Abgesonderte Einzelne und solche, die in einem einverständigen Miteinander nicht vieler Worte bedürfen zum Gespräch. Dies ist
ein Gegensatzpaar, und das
andere: Die einen schreiten, die anderen ruhen, gleichsam betäubt. Und was will die Menschenseele: Sie will diese Träume differenziert begleiten, die einen mit rauschender Sprachmacht (nach Athenischer Sitte), die anderen mit hinhorchend empathischer Verschwiegenheit (der Spartanischen Tugend). Poesie der Menschenseele hat beide Wurzeln: Die apollinische wie die dyonisische.
Warum nur, @
helle, suchst du deine interpretatorische Sicherheit bei der poetischen Ordnung? Gerade die höchste Poesie bricht diese Ordnungen meisterlich auf und bringt damit einen literarischen Entwicklungsschritt.
Alles, was dich „stört“ und was du bemängelst und was du verbessern möchtest mit deinem Rotstift, das gibt es nicht nur auch anderenorts, sondern das ist Zeugnis stilsicherer Freiheit.
Die vierzehn Englein aus Humperdincks Oper, die sind mir natürlich auch gleich eingefallen, aber es gibt noch mehr: Du hast es bei Hermann Paul gefunden; hier aus

: >Häupten<
geh. jmdm. zu Häupten, zu jmds. Häupten
über jmdm., in der Nähe seines Kopfes: das Bildnis seines Vaters hing ihm zu Häupten; zu ihren Häupten befand sich ein kleines Fenster; Lichter brannten zu Häupten und zu Füßen des Toten;
am oberen Ende: zu Häupten des Tisches, der Tafel, des Bettes;
das ersehnte Puppentheater, das dem Wunschzettel ... zu Häupten gestanden hatte Th. Mann 1,548 (Buddenbr.) usw.
Und so ist es mit allem anderen:
helle hat geschrieben:Ein Garten, "an dessen Bronnen" (die antikisierende Form tut's um des Reimes willen) "die vielen Träume neue Blumen brächen".
Um des Reimes willen? Oder ist da eine Lautqualität poetisch verwendet, die wir im Aussprechen durchempfinden können: Wie wir da nicht den furchterregend dunklen Schacht vor uns sehen, nicht in dusteren Modergeruch tauchen, aus dem der Eimer das seit Urzeiten dort in Finsternissen lagernde Tiefenwasser durch zerreißende Spinngewebe hindurch ans Tageslicht hebt, sondern wo wir ein fast Quellmäßiges meinen, eine ganz offene Brunnschale mit bewegtem Wasser, um die her hölzerne Butterfässer zum Trocknen an die Mauerbrüstung gelehnt sind, duftend vom im Wasser wie verjüngten Holz, dessen aetherisches Aroma das verdunstende Nass in den lichten Umkreis verströmt, und über den glitzernden Spiegel gaukeln geheimnisvolle Libellen und unwirklich blütenkeusche Schmetterlinge. Das erste wäre ein Br
unnen, gegraben von den unseligen Verfemten, die man hernach in ebenso tiefe Verliese stürzte, das zweite ein von Sylphen erzauberter Br
onnen, wie er den lange schon Siechen erquickt.
Christian Morgenstern hat geschrieben:
O Nacht, du Sternenbronnen,
ich bade Leib und Geist
in deinen tausend Sonnen -
O Nacht, die mich umfleußt
mit Offenbarungswonnen,
ergib mir, was du weißt!
O Nacht, du tiefer Bronnen…
O Nacht…
Noch einmal: „Um des Reimes willen“?
Novalis hat geschrieben:
Er ist der Stern, er ist die Sonn,
Er ist des ew’gen Lebens Bronn,
Aus Kraut und Stein und Meer und Licht
Schimmert sein kindlich Angesicht.
Hat nicht der „Gärtner“ auch über sich das Ich-Bin-Wort gesprochen: „Wer sein Vertrauen in mich setzt, den wird nicht mehr dürsten.“ (Joh.
6;35)!
Wie auch immer, in einen Garten der Träume gehört ein Bronnen:
Achim von Arnim hat geschrieben: Ein Himmel ohne Sonn,
Ein Garten ohne Bronn,
Ein Baum ohne Frucht,
Ein Mägdlein ohne Zucht,
Ein Süpplein ohne Brocken,
Ein Thurm ohne Glocken,
Ein Soldat ohne Gewehr,
Sind alle nicht weit her.
Aber wer sind die
Träume, die so eigenmächtig Blüten pflücken; welche Träume
schreiten, welche anderen Träume
ruhen in dem Menschenseelen-Garten? Diese Träume, über die hin der Garten ein Wort-Gebraus erhebt, und diese Träume, in deren Ohnmacht der Garten voller Andacht hineinhorcht?
Von dem einen Menschheitstraum ist viel die Rede -
Leonardo da Vinci war davon rastlos durchstürmt, der Liedermacher
Reinhart Mey besang ihn als Freiheitssphäre, der Rüsselsheimer Fahrzeugbauer warb mit einem Slogan, der diesem Traum Vorrang vor der Gebrauchsqualität seiner Produkte konzedierte: das Fliegen. Dieses Fliegen, dessen wir längst (einigermaßen) vermögen, nämlich im Flug unserer Gedanken, die die ganze Welt durchmessen können. Ein Traum, der in der Seele wahr wird, von dem die tageswachen Nachbilder – unsere Fluggeräte und die den Himmel zerkritzelnden Kondensstreifen – nur Karikaturen sind. Und solcher Menschheitsträume gibt es noch mehr: Der vom Fliegen bildet sich ab im Denken (das seine Sicherheit aus der Ruhe schöpft), der ethische oder sozialkünstlerische Traum von allgemeiner Befriedung des Gemüts „Alle Menschen werden Brüder“ im Fühlen, und unser Wollen träumt so gern den dramatisch bewegten Traum der Omnipotenz, die Welt nach der Choreographie unserer Ideale tanzen zu lassen.
Aber alle solchen Träume, das Denken, das Fühlen und das Wollen, möchten im Garten Menschenseele von „neuen Blumen“, nicht mehr allein von den Lilien mosaïscher Offenbarung, sondern zum Beispiel auch von den in der Fünfzahl ihrer Blütenordnung das menschliche Maß in unzähliger Variationsfülle kundgebenden Rosen, erfreut werden. Wäre (!) dieses Blumenbrechen [= ist dieses potentielle Blumenbrechen] ein Suchen nach neuen
imaginativen Bildern, das unsere Bildindustrie mit verwirrend vielen Surrogaten zu bedienen versucht?
Und wo diese Seelen-Träume den rauschenden Zustrom im Bereich der Häupte(r) brauchen, sollte das nicht das Neue Hören sein, dieses Offensein für
inspirative Erneuerung unseres Menschentums aus dem Wehen der Phantasiekräfte, die unsere Audio-Berieselungsmaschinen unausweichlich aus dem Reich der Phantastik zu substituieren streben?
Und diese dritte Geste, dieses taktvoll der Stille hingegebene Einverstandensein mit dem Schweigen des in früheren Menschheitszeiten von sprechenden Göttern bevölkerten olympischen Sternenkosmos, wie an Aufbahrungsstätten großer Geister, wo deren ganze biographische Lebensleistung nur dann vor der inneren Anschauung auflebt, wenn in der teilnehmenden Menschenseele aller Rest von willenshaftem Eigenstreben dem gleichsam Betäubten gegenüber ebenso schweigt wie dieser: Kann das nicht eine Haltung sein, die zu jenem
intuitiven Verbundensein mit den Menschheitsträumen hinführt, mehr und mehr? Das verneint wird durch alle Menschenbilder, die dem Menschen vorlügen: Du bist ein isolierter Fremdling im Kosmos!
Ich dechiffriere hier keine Symbolik, sondern ich nehme diese Zeilen, wie sie sind. Ich schreibe nicht: Garten bedeutet dieses, Träume bedeuten jenes. Ich greife nur auf, was in dem einen, einzigen Subjekt dieses Gedichts liegt. Dieses Subjekt heißt: „Ich“.
Von diesem „Ich“ wusste Rilke 1897: Es will ein Garten sein. Jeder Garten ist kultiviertes Ökosystem, alle seine Elemente sind in Wechselwirkung und Homöostase aufeinander bezogen. Fehlt nur eines, muss sich die Balance wieder neu regulieren. Ebenso ist es mit dem, was menschliche Individualität heißt: Sie enthält alle Ressourcen, die zur Verwilderung wie die zur Verödung; dies ins Gleichgewicht zu bringen ist Aufgabe der Selbsterziehung. Diese Aufgabe stand dem 23-Jährigen vor der Seele, ganz nüchtern und klar: Das Ich will ein Garten sein!
Wir Heutigen haben Zeugnisse seiner künstlerischen Vision von diesem Garten; das Denkmal ist begehbar.