Rilke: Judenfriedhof

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

Moderatoren: Thilo, stilz

Antworten
Gastfreund

Rilke: Judenfriedhof

Beitrag von Gastfreund »

Wer hat sich schon mal mit diesem Rilke-Gedicht beschäftigt?
Insbesondere mit dem Gottesbild, das dem anklagenden Christus gegenüber stumm bleibt.

Könnte man diese Christus-Deutung aus persönlichen, historischen oder theologischen Bedingungen (mit-)beleuchten?


Rainer Maria Rilke: Judenfriedhof

Ein Maienabend. - Und der Himmel flittert
vor lauter Lichte. Seine Marken glühn.
Die grauen Gräbersteine, moosverwittert,
deckt jetzt der Frühling mit dem besten Blühn;
so legt die Waise - und ihr Händchen zittert -
auf Mutters totes Antlitz junges Grün.

Hier dringt kein Laut her von der Straße Mühn,
fernab verlieren sich die Tramwaygleise,
und auf den weißen Wegen wandelt leise
ins rote Sterben träumerisch der Tag.
Der alte Judenfriedhof ists in Prag.
Und Dämmer sinkt ins winklige Gehöf,
drin Spiro schläft, der Held im Schlachtenschlagen,
und mancher weise Mann, von dem sie sagen,
daß zu der Sonne ihn sein Flug getragen,
voran der greise hohe Rabbi Löw,
um den noch heut verwaiste Jünger klagen. -

Jetzt wird ein Licht wach in des Torwarts Bude,
aus deren schlichtem Eisenschlote raucht
ein karges Mahl. - Bei Liwas Grabe taucht
jetzt langsam Jesus auf. Der arme Jude,
nicht der Erlöser, lächelnd und erlaucht.
Sein Aug ist voll von tausend Schmerzensnächten,
und seine schmale blasse Lippe haucht:
„Jehova - weh, wie hast du mich missbraucht,
hier wo der Treuste ruht von deinen Knechten,
hier will ich, greiser Gott, jetzt mit dir rechten! -
Denn um mit dir zu kämpfen kam ich her? -
Wer hat Dir alles denn gegeben, wer? -
Der Alten Lehre hatte mancher Speer
aus Feindeshand ein blutend Mal geschlagen, -
da brachte ich meinen Glauben und mein Wagen,
da ließ ich neu dein stolzes Gottbild ragen
und gab ihm neue Züge, rein und hehr.
Und in der Menschen irres Wahngewimmel
warf deinen Namen ich - das große "Er".
Und dann von tausend Erdensorgen schwer
stieg meine Seele in den hohen Himmel,
und meine Seele fror; denn er war leer.
So warst du niemals - oder warst nicht mehr,
als ich Unsel’ger auf die Erde kam.
Was kümmerte mich auch der Menschheit Gram,
wenn du, der Gott, die Menschen nicht mehr scharst
um deinen Thron. - Wenn gläubiges Gefleh
nur Irrsinn ist, du nie dich offenbarst,
weil du nicht bist. Einst wähnt ich, ich gesteh,
ich sei die Stimme deiner Weltidee…..
Mein Alles war mir, Vater, deine Näh.
Du Grausamer, und wenn du niemals warst,
so hätte meine Liebe und mein Weh
dich schaffen müssen bei Gethsemane.“

Im Wärterhäuschen ist das Licht verlöscht.
Und in dem Bett von Gräbern breit umböscht
fließt schon des blauen Mondquells Wunderwelle,
verstohlen über schwarzen Giebelrand. -

Und Christus, zu des Rabbi Gruft gewandt:
"Dir auch gefiel es, Alter, manchen Spruch
zur Ehre jenes Gotts zusammzuschweißen.
Wer hat Dich, morscher Thor, auch blättern heißen
in alten Psalmen und im Bibelbuch?
Du hast so viel gewusst, stehst im Geruch,
dich gar geheimer Weisheit zu befleißen.
Heraus damit jetzt! Weißt du keinen Fluch,
dass ich des Himmels blaues Lügentuch
mit seiner Schneide kann in Stücke reißen.
Hast Du kein Feuer in den Dämmerungen
des Alchymistenherdes je entdeckt,
das fürchterlich und ewig unbezwungen
mit gierem Lecken seine Rachezungen
bis zu des Weltalls fernen Angeln streckt?
Kennst du kein Gift, das süß ist wie der Kuß
der Mutter, das nach seligem Genuß
den Ahnungslosen sicher töten muss.
O Glück, die ganze Welt so zu vergiften.
Weißt Du kein Mittel, herben Hass zu stiften,
der jeden Mann zum wilden Raubtier macht?
Kannst du nicht ziehn in diese stillen Triften
die Schauerschrecken einer Völkerschlacht.
Kannst du nicht eine neue Lehre stiften,
die Wahnsinnswut in jeder Brust entfacht.
Ins Unbegrenzte steigre ihre Triebe
und sende Pest und sende Seuchenschwärme,
daß in des Lotterbettes feiler Wärme
die ganze Welt zu Grund geht an der Liebe!"

Jach lacht der Hohn. Und in den stummen Steinen
gellts wie des wunden Wildes Sterbeschrei.
Es legt ein Reif sich auf den nächtgen Mai.
Ein schwarzer Falter zieht im Flug vorbei
und er sieht Christum einsam knien und weinen.
*
(Christus-Visionen; datiert: München, 6. Oktober 1896.
Aus: R.M. Rilke: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. III. Jugendgedichte. München 1956. S. 156ff.)
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Beitrag von stilz »

Hallo,

leider bin ich für biographische Bezüge überhaupt keine Expertin ... ich weiß nur, daß Rilke seine frühe Jugend und Kindheit in Prag verbrachte und daher wohl den Prager Judenfriedhof gut kannte.

Das Gedicht scheint mir anzuknüpfen an eine reale Christus-Skulptur auf dem Grab des Liwa - und leider kenne ich diesen Friedhof überhaupt nicht, weiß weder, wer Liwa ist noch Spiro... nur von Rabbi Löw hab ich natürlich schon viel gehört, das war der sagenumwobene mittelalterliche Rabbi, der den Golem erschuf...

An verschiedenen Stellen im Werk Rilkes taucht immer wieder auf, daß er Schwierigkeiten hatte mit dem gängigen Bild von Christus als mildem Erlöser der Menschheit und Vermittler zwischen Mensch und Gott...

Und die "Christusvisionen" stellen für mich eine Auseinandersetzung mit der Vorstellung dar, wie Christus auf verschiedene Umstände - sowohl in seinem Leben als auch später, wenn er sieht, was wir hier auf Erden so alles über dieses sein Leben erzählen - reagieren könnte, wenn er wirklich ein Mensch aus Fleisch und Blut ist/war/gewesen wäre, mit allen Sehnsüchten und Ängsten, voller Zorn und ohnmächtiger Wut, und dann auch wieder voller Liebe... und diese Liebe hat zwar immer wieder etwas unfaßbar Großes - aber ich glaube, Rilke versteht auch sie nicht als "übermenschlich" (er spricht zum Beispiel im "Malte" von Frauen, wie sie "Liebe leisten" können... und das ist auch unfaßbar groß...)

Und da gibt es natürlich ganz vieles, das überhaupt nicht in das übliche "religiöse" Bild paßt.

Es wäre jetzt sehr interessant, den "Christus" auf diesem konkreten Grab anzusehen, vielleicht drängen sich beim Betrachten seines Antlitzes ähnliche Gedanken auf?


Ich würde mich freuen, wenn Du Deine Gedanken dazu erzählst --- ebenso natürlich auch alle anderen!

Liebe Grüße

stilz
.Sabine.
Beiträge: 114
Registriert: 7. Sep 2005, 22:32
Wohnort: Kaiserslautern

Beitrag von .Sabine. »

Hallo,

leider habe ich das in Prag auch nie gesehen. Aber vielleicht sollte man ergänzend noch darauf hinweisen, dass Rilke kurz bevor er die "Christus-Visionen" schreibt, Lou kennenlernte , die gerade ihr Essay "Jesus der Jude" geschrieben hatte. Darüber lernten sich die beiden kennen. Was mir wichtig ist, dass Jesus / Christus völlig anders dargestellt wird als in der traditionellen kirchlichen Auffassung. Rilke ist ja in einer stark vom Katholizismus geprägten Umwelt aufgewachsen. In den "Christus-Visionen" scheint Christus mir viel konkreter und lebensnaher zu sein. Mir gefallen andere "Christus-Visionen" aber besser als der "Judenfriedhof", zb "Jahrmarkt", "Venedig" oder "Kirche von Nago".


Sabine :lol:
"Ich lerne sehen.... " (Rainer Maria Rilke)
gliwi
Beiträge: 941
Registriert: 11. Nov 2002, 23:33
Wohnort: Ba-Wü

Beitrag von gliwi »

Was mir auffällt: die Reime sind meilenweit unter Rilkes üblichem Reimniveau. Da reimt sich blüh'n auf Grün, Liebe auf Triebe, Knechten auf rechten, schwer auf mehr... Das hört sich gar nicht nach Rilke an. Aber so wie Ihr schreibt, scheint es ja wohl kein Jugendwerk zu sein.
Auf dem Prager Judenfriedhof war ich schon, kann mir allerdings nicht vorstellen, dass dort eine Christus-Skulptur irgendwo Platz hätte - was sollte sie dort? Vielleicht kann das jemand aufklären.
Gruß
gliwi
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Beitrag von stilz »

Nun, da dieses Gedicht offenbar 1896 entstand, kann ich mir schon vorstellen, daß, wenn der "Cornet" (1899) eine "Jugendsünde" gewesen sein soll, auch die "Christus-Visionen" ein ähnliches Etikett bekommen könnten...

Was mich an diesen "Visionen" berührt, das ist nicht Rilkes "Reimniveau" (auf das ich, ich gestehe es, gar nicht besonders geachtet habe), sondern es sind die ungewöhnlichen Gedanken und Bilder, es ist die Intensität, mit der er sich in diesen Menschen Christus hineinversetzt.
Diese Intensität springt auf mich über und spricht sehr deutlich zu mir.

Sabine, Du sagst, Rilke habe kurz davor Lou und ihren Artikel "Jesus der Jude" kennengelernt...
Auf http://www.lou-andreas-salome.dewird es anders dargestellt, dort heißt es, Rilke wäre deshalb so tief berührt von diesem Artikel gewesen, "weil er meinte, daß darin die Autorin überzeugend gesagt habe, was er selbst in seinen Christus-Visionen habe ausdrücken wollen".

Nun, wie auch immer.
Leider habe ich diesen Artikel bisher noch nicht gelesen, ich entnehme aber derselben website etwas, das mir zum Verständnis dieses Gedichtes und überhaupt der Christus-Visionen beizutragen scheint, vor allem in Hinblick auf die von "gastfreund" ursprünglich gestellte Frage nach dem Gottesbild, das dem anklagenden Christus gegenüber stumm bleibt:

Die Hauptaussage des Artikels besagte, daß Jesus einen furchtbaren Tod gestorben sein müsse, denn er war jemand, der als ein Jude davon überzeugt war, daß die mosaischen Verheißungen sich im irdischen Leben erfüllen würden. Wenn er aber so grausam an das Kreuz genagelt wird, dann haben sie sich offenbar nicht erfüllt. Deshalb müsse er, als er starb, nur eben der erste jener jüdischen Märtyrer gewesen sein, die in einem entsetzlichen Zweifel, mit starr und hilflos zum unerbittlichen Himmel gerichteten Augen gestorben sein mögen.

Liebe Grüße!

stilz
Antworten