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Expressionistische Gedichte?
Verfasst: 19. Jan 2006, 18:28
von Gast
Hallo!
Ich bin wegen der Vorbereitung einer Deutschstunde im LK (als Schüler) auf der Suche nach expressionistischen Gedichten von Rilke. Bis jetzt hab ich nur erlesen, dass die Elegien expressionistisch sein sollen, aber ich bräuchte ein "richtiges" Gedicht zum analysieren mit dem LK!
Kann mir jemand welche nennen? Bei wikipredia bekommt man ja den Text sowieso. Am besten die bekanntesten, damit das finden einer Interpreation leichter wird. Villeicht kennt jemand auch eine Interpreatation zu einem exp. Gedict?
Freue mich über schnelle Antworten!
Danke!
Denis
Verfasst: 19. Jan 2006, 20:14
von helle
Wenn man den Expressionismus als Epochenbegriff versteht, ist die Frage unsinnig, das liegt ja vielleicht nicht an Dir (gegen die Lehrer darf man pauschal hier aber nichts sagen, sonst werden sie pauschal verteidigt). Denn die Besonderheiten des expressionistischen Stils haben wenig mit dem Stil Rilkes zu tun. Wenn man den Begriff von seiner Wortherkunft versteht, dann könnte man auch Gedichte von Goethe oder Celan expressionistisch nennen. Ich finde, die Frage führt nicht weiter, sie ist ziemlich doof, Rilke war ebensowenig ein Expressionist wie sagen wir Franz Kafka, obwohl es bei beiden zeitliche oder auch motivische Berührungen gibt, aber ausdrücken konnten sie sich besser als die meisten Expressionisten, die so gern laut und pampig wurden. Du solltest das Thema ändern und Deinem Lehrer oder Dir selbst sagen, daß schon die Fragestellung falsch ist.
Auch wenn Rilke ein typisch expressionistisches Thema auswählt wie das Pariser Leichenschauhaus, bleibt es in der Sprache doch Rilke, mit dem, was nicht in der Epoche aufgeht, aber für ihn typisch ist, also mit Strophenenjambements, Konjunktiven, überraschenden Reimen, dem Mix von konkret und abstrakt usw., und es wird kein typisch expressionistisches Gedicht mit 12 Ausrufezeichen, Satzbrüchen und Plakatstil. Beweis:
Morgue
Da liegen sie bereit, als ob es gälte,
nachträglich eine Handlung zu erfinden,
die mit einander und mit dieser Kälte
sie zu versühnen weiß und zu verbinden;
denn das ist alles noch wie ohne Schluß.
Was für ein Name hätte in den Taschen
sich finden sollen? An dem Überdruß
um ihren Mund hat man herumgewaschen:
er ging nicht ab; er wurde nur ganz rein.
Die Bärte stehen, noch ein wenig härter,
doch ordentlicher im Geschmack der Wärter,
nur um die Gaffenden nicht anzuwidern.
Die Augen haben hinter ihren Lidern
sich umgewandt und schauen jetzt hinein.
Aus: Neue Gedichte (1907)
Verfasst: 19. Jan 2006, 22:26
von gliwi
Liebe Helle,
ich halte das so beliebte Auf die-Lehrer-Eindreschen für eine der Ursachen unseres schlechten Abschneidens bei der Pisa-Studie. Aber das gehört nicht zum Thema, wir können das gerne mal per mail austragen.
Trotzdem gebe ich dir hier völlig Recht; wer bei Rilke "expressionistische Gedichte" findet, trägt Kategorisierungsscheuklappen. Vollends die Elegien! Man stelle daneben mal so einen Stramm oder van Hoddis, dann sieht doch jedeR, dass das nicht in dieselbe Schublade gehört. Bzw. bei deinem Beispiel könnte man entsprechende Benn-Gedichte vergleichen. Ein grundsätzlicher Unterschied ist wahrscheinlich, dass Rilke niemals jemanden schockieren wollte, nicht "épater le bourgeois".
Gruß
gliwi
Verfasst: 20. Jan 2006, 10:28
von helle
von "eindreschen", liebe Christiane, soll garnicht die Rede sein, neinnein, nur ab und zu ein Eintrag ins Klassenbuch z.B. bei falscher Aufgabenstellung. By the way, es tut jetzt auch nichts zur Sache, aber ich bin männlich (wofür es Zeugen gibt)
Gruß helle
Verfasst: 20. Jan 2006, 14:39
von deni
Danke Helle und Gliwi!
@helle: Ich habe heute meinem Lehrer deine Ausführungen näher gebracht und er ist so ziemlich deiner Meinung. Die Themenwahl ist für ihn entscheidend, dass es im Stil große Unterschiede gibt, war ihm wohl vorher nicht so bewusst, aber findet er auch gar nicht schlimm.
Deshalb werde ich dann das Gedicht Morgue zum Bearbeiten mit der Klasse nehmen oder hast du noch ein besseres (im Sinne von expressionistisches Thema), bzw eins, wo du eine (auch unvollständige) Interpretation mitliefdern kannst?
Die Frage ist auch an alle Mitleser gerichtet!
Alles Liebe,
Denis
Verfasst: 20. Jan 2006, 21:30
von Paula
Hallo,
wie wär´s denn mit diesem Gedicht - von Rilke - ?
(stehend stunden auf der Elektrischen mit lauter schlechtes Blut ausschlagenden Hinterhälsen vor mir, hab ich mir einen solchen Haß gegen Nacken zugezogen, daß................)
Haßzellen, stark im größten Liebeskreise
daß ihr des tiefen Giftes nicht verlört
in der unendlich zugegebnen Weise
sei unerkannt Unendliches empört.
Seht wie dem eingeschwungnen Widerstande
Brüllen und Ruck entringt, entreißt
doch ein Umfangen nimmt sie an vom Rande
und, was zu widerlegen schien, beweist.
Gequältes Kind, geschwenktes, durch Grimassen,
das an ein fremdes Muttermal gerät -
O nicht die Tür, die Zimmerwand, die Gassen
und Luft, die dich stumm und unstet belädt,
nicht dieser Karrn vorüberfuhr geheimer
nicht diese traumentflossene Gestalt,
ach, Mut zu haben zu dem Abfalleimer,
zur abgestoßnen Ecke die Einfalt.
Schlechtester Stuhl, entlassenes Geländer
Raum unterm Küchenschrank, wer dich erwägt?
Und daß den tragenden, den Kleiderständer,
auch ihn, ein Stern, die Erde trägt.
Wer weint mit diesem Kerzenrest? Ist schwinden
nicht groß genug an diesem Gegenstand?
Du sahst bei dieser Kerze deine Hand;
in welchem Schein wirst du sie wiederfinden?
Ach, dies Gedräng in deinen Blick. Wer hat
in dich gerufen? bist du ein Theater?
Du Hohles, Offnes: in dir steht dein Vater
und starrt enttötet in die volle Stadt.
Wir sind wie Keile Unterwelt hinein
in dichtes Sicht - Unsichtbares getrieben.
Und schon verbiegt sich unser Lieben
an Hüten und an Häuserreihn.
Hab teil an mir, du einstige Tapete
an der ich starrte, fieberernstes Kind.
Wenn ich mich endlich weg ins Zimmer drehte,
warst du in mir, mehr, als die Adern sind.
Und solltest nicht? Wer weiß an deinen Streifen
glitt mir entlang das Lächeln, das zutiefst
in mich verfand. O welche Schmerzen reifen
an den Spalieren, die du blaß verliefst.
Gewagter Bau der innersten Gebäude,
innerster Fenster Blindheit oder Schau,
innerster Gärten Ablaß, Abendfreude
und Dauerung bis Tau und Morgengrau.
Innerster Stille Statuen: aus blauen
Nachtsteinen, die der Pfau mit Schrei bedroht:
Rumpfräume, reiner Kopfraum, den kein Schauen
hinüberzerrt ins unheilbare Rot,
in euch bewohnen wir die Welt. Zerbricht
ein Glas noch ist es nicht in euch zerbrochen,
doch vielleicht fällt es auch in euch nach Wochen
und zieht uns einen Sprung ins Angesicht.
Wir haben nichts, als was dort innen steht,
wir haben alles, was dort innen steht.
Wie fassen wir denn, was dort innen steht,
da auch das Fliegende dort innen steht.
Da auch der Winde mancher innen steht
und Fallendes nicht fällt und innen steht
und dennoch fällt indem es innen steht
fallender fällt indem es innen steht.
Da auch Geschwundenes dort innen steht
Und nicht mehr schwindet seit es innen steht.
Im Schwinden selber steht, was innen steht.
Wie fassen wir denn, was im Schwinden steht?
O Blütenbaum, o Blütenbaum in mir,
jetzt bist du endlich auf der Jubelseite
singst nicht in Blicke mehr und hast, statt vier
Zeiten des Jahres, Himmel nach der Breite
Und du, o meine Heldin, Nachtigall,
wie konnte dir ein Zwischenraum genügen:
in mich erst türmtest du in vollen Zügen
dein stufig ausgerufenes Metall.
Rainer Maria Rilke, Wien, Anfang April 1916
Paula
ps.: ich muss schon sagen, mir gefällt der Impressionismus besser

!