Lehmann: Atemholen
Verfasst: 2. Dez 2005, 16:41
von Antoninus Rainer
Paul Celan finde ich als unvermittelten Tipp an einen unbekannten Leser sehr schwer; fast unverständlich, wenn man nicht ihn, sein Schiskal und seine wichtigsten Ideen, seine sprachliche Intuition und seine Metaphorik kennt.
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Ob mein Vorschlag besser ist - ich überlasse es dem Anfrager; Lehmann ist ein rilke-gemäßer Lyriker:
WILHELM LEHMANNN: ATEMHOLEN
Geschehen als Gedicht
- Eine Interpretation zu Lehmanns „Atemholen“
Im Folgenden wird Aufmerksamkeit einem Gebilde zugewendet, in welchem die vielberufenen, für einige jüngere deutsche Lyriker so überaus faszinierend gewordenen »Abenteuer der Netzhaut« (Karl Krolow) so gut wie ganz verborgen sind und welches das substantiell wichtigere, nämlich Struktur und Wirklichkeit schaffende Prinzip der Lyrik Wilhelm Lehmanns gesättigt, aber unauffällig bis zur Absichtslosigkeit enthält. Es findet sich in Lehmanns viertem, 1950 erschienenen Gedichtbuch „Noch nicht genug“, von dem Werner Kraft in seinem wichtigen Aufsatz über den Dichter meint, daß in ihm die lyrische Sprache Lehmanns »ihren reinsten Ausdruck empfangen« hat - was, auch wenn es stimmt, die früheren Bücher nicht geringer macht. Jedenfalls hat nicht dies, sondern allein die Vollkommenheit des Gedichtes selbst mich bewogen, es für einen Interpretationsversuch zu wählen.
- Das Gedicht lautet:
Atemholen
Der Duft des zweiten Heus schwebt auf dem Wege,
Es ist August. Kein Wolkenzug.
Kein grober Wind ist auf den Gängen rege,
Nur Distelsame wiegt ihm leicht genug.
Der Krieg der Welt ist hier verklungene Geschichte,
Ein Spiel der Schmetterlinge, weilt die Zeit.
Mozart hat komponiert, und Shakespeare schrieb Gedichte,
So sei zu hören sie bereit.
Ein Apfel fällt. Die Kühe rupfen.
Im Heckenausschnitt blaut das Meer.
Die Zither hör ich Don Giovanni zupfen,
Bassanio rudert Portia von Belmont her.
Auch die Empörten lassen sich erbitten,
Auch Timon von Athen und König Lear.
Vor dem Vergessen schützt sie, was sie litten.
Sie sprechen schon. Sie setzen sich zu dir.
Die Zeit steht still. Die Zirkelschnecke bändert
Ihr Haus. Kordelias leises Lachen hallt
Durch die Jahrhunderte. Es hat sich nicht geändert.
Jung bin mit ihr ich, mit dem König alt.
*
(Aus: W. L.: Noch nicht genug. Gedichte. 1950)
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Das Gedicht heißt "Atemholen".
Ein Naturmoment gebar es, die erste Strophe hält ihn fest: der Duft des zweiten Heus, ein wolkenloser Augusttag, der Wind ist so gering rege, daß nur Distelsame leicht genug ist, um von ihm getragen zu werden.
Die zweite Strophe beginnt:
Der Krieg der Welt ist hier verklungene Geschichte,
Ein Spiel der Schmetterlinge, weilt die Zeit.
Der Naturmoment hebt die historische Zeit auf, eine andere Zeit geschieht. In ihr bleibt Zarteres aufbewahrt. Dieses entdeckt, wer, wie Lehmann, weiß, daß alle Erscheinungen in ihrer flüchtigen Richtigkeit erfaßt werden wollen; hier etwas von den Gebärden und dem Mienenspiel der Landschaft. Mit solcher Erfassung weiß Lehmann sich als Bewahrer des Konkreten. Als Hüter der Wirklichkeit tut er dieser keinen Zwang an, er läßt sie gewähren. Er gibt der Natur ihr Recht wieder. So gewährt sie sich ihm, er tut ihr seine Schuldigkeit: sie lebt auf als Sprache, geschieht als Gedicht. Dabei gilt seine aus der eigenen dichterischen Praxis stammende Bemerkung: »Das Natursein schafft, wenn es ihm gelingt, wohlbehalten in Dichtung zu übersiedeln, seine eigene Atmosphäre.«
In dieser Atmosphäre »weilt die Zeit«, kräftigt sich jenes darin aufbewahrte Zartere und kommt es zu Atem. Freilich nicht von selbst, sondern mit Hilfe von Lehmanns so gearteter Dichtung, will sagen mit Hilfe der von ihm etablierten Naturlyrik.
Diese, sagt er, »beschönigt, verziert das Dasein nicht, sondern nimmt es ganz in ihren Ausdruck auf, auch das Unwirkliche, das Traumhafte, das im Wirklichen liegt«.
Auch das Unwirkliche, das Traumhafte haftet am Konkreten, nährt sich aus ihm, ist ein solches. Und wenn die dritte Zeile der zweiten Strophe konstatiert, daß Mozart komponiert, Shakespeare gedichtet hat, so mag das als ein Moment assoziativer Überraschung wirken und gelten, wenn zugleich deutlich bleibt, daß es sich nicht am eine zufällig aufgetauchte und blindlings ergriffene Assoziation handelt, sondern durchaus um anderes. Jedermann kennt das mit dieser Stelle erwähnte Faktum, indessen keiner denkt daran - ihm, Lehmann, fällt es ein; er fällt es in das Gedicht ein. Mit anderen Worten: er sieht der Natur ihren Traum an und vivifiziert ihn. Aus dem empfindlich gesehenen Naturgeschehen nährt er ihn herauf.
Vergegenwärtigen wir uns das Gedichtgeschehen mit der der Dichtung gegenüber wünschenswerten Nüchternheit, so ergibt sich: Das Gegebene, einen Naturmoment, hält die erste Strophe fest. Der Naturmoment hebt, indem er zu sich kommt, die historische, die fließende Zeit auf; eine andere, nun die eigentliche Zeit, geschieht. Im ihr Aufbewahrtes, das sich als wesentlicher erweist als die sieh überstürzenden Ereignisse des Momentanen, meldet sein Dasein an: Mozarts Musik, Shakespeares Stücke wollen vernommen werden, - »so sei zu hören sie bereit« schließt die zweite; Strophe. Damit dies sein kann, wird - mit der dritten Strophe - der Naturmoment des Anfangs verengt, klar Begrenztes aus ihm herausgeschnitten. Ein bukolischer Augenblick, wie es scheint, geschieht. Tatsächlich aber geschieht noch etwas anderes und mehr. Bukolisch sind Zeit und Ort, gewissermaßen die Bühne, auf welcher das eigentliche Geschehen spielt. Die Landschaft, verengt zur Bühne, zum Spielraum für das nun anhebende Geschehen, wird mit einem Minimum präziser Details konkretisiert.
Ein Apfel fällt. Die Kühe rupfen.
Im Heckenausschnitt blaut das Meer.
Das sind zwei Verse von höchster sinnlicher Qualität. Drei Aussagesätze, die im Präsens stehen, das heißt, das mit ihnen Gesagte ist nicht »festgestellte«, sondern geschehende 'Gegenwart. Die beiden ersten, nur aus Subjekt und Prädikat; bestehend, schaffen dichte, an den Sinnen haftende Nähe; was geschieht (fallen, rupfen), wird mit dem Ohre, Ding und Wesen (Apfel, Kühe) werden mit dem Auge wahrgenommen. Diese doppelte Wahrnehmung eint sich zu sinnlichem Zusammenhang; in zwei einfachen Gebärden sammelt sich die materielle und, wie wir sogleich bemerken werden, die traumhafte Substanz der Natur, in ihnen wird die Landschaft sinnliche, das heißt von den Sinnen belebte Gegenwart. Sie bleibt - denn die beiden Verse bezeugen mehr Hörbares als Sichtbares - insonderheit dem Ohre vernehmlich. Der dritte Satz enthält noch das Wo des mit ihm gesagten Geschehens und lädt so, durch Umstellung des Subjekts und der Ortsbestimmung syntaktisch belebt und damit auch den Blick belebend, diesen in entfernteres Geschehen.
»Im Heckenausschnitt blaut das Meer.«
Sehen wir genau hin, so erweist sich die Belebung der Syntax als zur Genauigkeit erzogenes Sehen und Dichten. Die Genauigkeit des Blicks bleibt in der Präzision der Sprache lebendig. Auch die »natürliche« Poesie, welche in einem Geschehensaugenblick wie diesem liegt, gedeiht nur in einer solchen Präzisierung des Geschehenen ins eigentümlich Dichterische. Die Natur selbst, so »poetisch« sie uns in manchen ihrer Momente auch vorkomme, ist kein Gedicht; das Gedicht macht der Poet, er ist der Autor, der Urheber der Poesie.
Lassen wir uns vom Gedicht selbst überzeugen: Realiter befindet sich das Meer ein Stück hinter der Hecke, durch welche man es sehen kann; dem von der Substanz der Landschaft ernährten, in der Atmosphäre des Naturseins aufgelebten und der Natur mit dem von ihr Empfangenen wieder zuteil werdenden Blicke aber geschieht das Meer genau »im Heckenausschnitt«. Dieser ist genaue Begrenzung der Szene im Hintergrund und bestätigt so ebenfalls, wie der vorhergehende Vers, das gewissermaßen Bühnenhafte des Augenblickes. Das heißt selbstverständlich nicht, daß die Natur hier zur Kulisse einer beliebig montierten Handlung degradiert wäre; der Ausdruck »bühnenhaft« bietet sich jedoch (als Hilfswort) an, weil in genau begrenztem Raum und mit präziser Deutlichkeit Dasein vernehmlich wird, das in Figuren aufsteht, als Handlung geschieht. Wie kommt es dazu?
Wir hören Lehmanns Auskunft: »Inbrünstige Genauigkeit erfindet die Natur mit dem ihr eingeborenen Traum.«
Hören wir die Strophe, mit welcher das in diesem Gedicht geschieht, als Zusammenhang -
Ein Apfel fällt. Die Kühe rupfen.
Im Heckenausschnitt blaut das Meer.
Die Zither hör ich Don Giovanni zupfen,
Bassanio rudert Portia von Belmont her,
- so erkennen wir nun mühelos, was hier sich begibt. Das erste Verspaar sagt das Wirkliche der geschehenden Natur. Die Sinne - Gehör und Gesicht - nehmen es wahr. In einem Minimum von Details, in einem Etwas also kommt das Ganze der Wirklichkeit zu sich - »im Etwas schwebt das Ganzem weiß Lehmann -, und zwar, infolge der, wie Lehmann sie nennt, inbrünstigen Genauigkeit, mit dem ihr eingeborenen Traum. In ihn hinein atmet das Geschehen auf, wird Kraft und Gegenwart in unsterblichen, durch den Gang der Jahrhunderte aufbewahrten Figuren. Aus dem bukolisch geschehenden Wirklichen, zu dem er die Wirklichkeit dichterisch erzog, läßt Lehmann »das Unwirkliche, das Traumhafte, das im Wirklichen liegt«, aufleben. Aus der Genauigkeit des Einzelnen und der Situation ernährt, steigt es, schwebt es auf, wird sinnliche Gegenwart. Ihr hören und sehen wir zu. Im Fallen eines Apfels und im Rupfen der Kühe tönt auch Giovannis Instrument, und über das im Heckenausschnittt blauende Meer fährt Bassanios Boot mit Portia darin von Belmont her.
»Ist ein Gedicht eroberte Wirklichkeit, so enthält es auch den Traum« lautet eine grundsätzliche Auskunft Lehmanns zur Kunst seines Gedichts. Eroberte Wirklichkeit gibt das erste, den ihr innewohnenden Traum befreit das zweite Verspaar dieser Strophe aus seiner' Verborgenheit. War hier Willkür am Werke vermeint, ist ebenso auf dem Holzwege wie derjenige, der meint, dergleichen falle dem Dichter einfach so zu, gelänge in der Bewegung der schreibenden Hand unwillkürlich und von selbst. Aber gelungene ist immer gekonnte Poesie. Gekonntes poetisches Gelingen bildet sich in der zur Rede stehenden Strophe augenfällig schön und mit besonderer Deutlichkeit ab. Hörbarem bildete Hörbares, Sichtbarem Sichtbares sich zu; aus dem ersten wuchs der dritte, aus dem zweiten der vierte Vers, aus der Wirklichkeit der Traum.
Ein Gedicht ist eroberte Wirklichkeit - das heißt für Lehmann: was geschieht, geschieht als Gedicht. Poesie versteht sich für ihn als die zweite, eigentliche Wirklichkeit über der gegebenen ersten. Nur in jener werden wir dieser inne und habhaft, wird sie unser wirkliches Eigentum. Hier wird der Traum zum eigentlichen Geschehen - das Gedicht fährt fort:
Auch die Empörten lassen sich erbitten, Auch Timon von Athen und König Lear. Vor dem Vergessen schützt sie, was sie litten. Sie sprechen schon. Sie setzen sich zu dir.
Ist das eine - gleichgültig, ob zulässige oder unzulässige - Poetifizierung der Welt? Wer so fragt, verkennt das Wesen der Lehmannschen Dichtung in grober Weise. Lehmann wendet sich scharf gegen jede das Dasein beschönigende, verzierende Pseudo-Poesie. Er weiß, warum. In seiner Dichtung wird nichts poetifiziert; jedes seiner Gedichte unternimmt eine Vivifizierung der Wirklichkeit mit allem, was in ihr liegt. Es ist, als ob sich das im Wirklichen liegende Unwirkliche, Traumhafte jener liebenden, inbrünstigen Genauigkeit, die Lehmann eigen ist und welche Wesen und Dinge geradezu als Wohltat zu empfinden scheinen, verständigt, um aus der Verborgenheit in der Naturwirklichkeit in die Geborgenheit des Gedichts zu übersiedeln. In der Tat ist dies, so könnte man geradezu sagen, die poetische »Praxis« Lehmanns. Eine unkontrollierbar geheimnisvolle? In einer Reihe von Aufsätzen, die als seine Poetik zu bezeichnen wären, hat er die »Geheimnisse« seines Dichtens nüchtern und hilfreich aufgedeckt; dort findet sich, mit anderem hier einschlägig Zitierbarem, der Satz: »Ohne den liebend genauen Blick des frischen Auges, ohne die Phantasie für das Reale mißrät der Dichtung zarte Empirie.«
Diese »zarte Empirie« - ein aus Goethes Maximen und Reflexionen stammender Ausdruck - ist innerhalb der Entfaltung des Lehmannschen Gedichts zu einer Vollkommenheit gediehen, die ihresgleichen sucht, aber nicht findet. Lehmann läßt sein Dichten als einen Akt völliger Gewaltlosigkeit sich ereignen. Ihr verdankt sich das unverletzlich Zarte und das vollkommen Wohlgeratene seiner gelungensten Gedichte. Dieses hier schließt:
Die Zeit steht still. Die Zirkelschnecke bändert
Ihr Haus. Kordelias leises Lachen hallt
Durch die Jahrhunderte.
Es hat sich nicht geändert.
Jung bin mit ihr ich, mit dem König alt.
Was gewahren wir in dieser Strophe? »Ein Spiel der Schmetterlinge, weilt die Zeit« lesen wir am Anfang des Gedichts. Wenn es nun, in der letzten Strophe, heißt »Die Zeit steht still«, so ist das keine Wiederholung aus dem Anfang des Gedichts. Genaues Gedicht fordert zu genauem Zuhören auf; indem wir es tun, bemerken wir den Unterschied zwischen den beiden Aussagen von der Zeit. Die erste enthält: das ganz und gar Durchempfundene der Atmosphäre des Naturmoments, aus dem das Gedicht stammt. Die Zeit »hat Weile«, in dieser Weile kommt sie, die ständig Gehende, Schwindende, zu Atem, geht sie, ein Spiel der Schmetterlinge - Metapher (wenn es eine ist) ist hier nicht erdacht, sondern (Lehmannsches Signum) geschieht, erscheint in dem Naturmoment auf und macht ihn zum bukolischen Augenblick, der ja die eilende Zeit nicht kennt, aber der weilenden bedarf, um sich zu ereignen. In diesem Moment hält die Zeit sich auf, ein Spiel der Schmetterlinge, in Bewegung also. So im Anfang des Gedichts. Nun aber, am Schluß des Gedichts, »steht« die Zeit »still«. Die Natur jedoch geschieht unablässig, unveränderlich weiter- Lehmann tastet ihren Gang nicht an, er läßt sie auch in seinem Gedicht so vor sich hin sinnen, wie sie es tut. Welch ein Hüter der Wirklichkeit, welch ein Bewahrer des Konkreten! »Die Zeit steht still. Die Zirkelschnecke bänden l Ihr Haus.« Natur bleibt, wie sie ist, ihr Gang ist ewig, Schöpfung geschieht immer. Manchmal, wie hier, holt sie Atem; dann ermöglicht sie, nimmt ein Poet dies wahr, das Gedicht, das heißt dem Geschehen Dauer. Lehmann eignet sich solche Momente an, bildet sie der Poesie zu. Dennoch bleibt die Natur an ihr eigenes Dasein verhaftet, dem unbekümmert fließenden Fortgang ihrer selbst anheimgegeben. Sie bedarf keiner Zeit. »Die Zeit steht still.« Auch die stillstehende Zeit geschieht. Spürsames Eingehen auf die poetische Intention, welche sofort mit dem ersten Satze dieses Gedichts zu genauem Zuge kommt und das Spiel Vers für Vers in der Hand behält, erkennt das, und die objektive (Untersuchung des sprachlichen Sachverhaltes bestätigt es. Genaues Studium des Gebrauchs, den Lehmann von der Grammatik macht, die er so exakt wie zart auf das ihm vorschwebende Gedicht hin -literaturgeschichtlich gesprochen: auf die von ihm introduzierte und introduzierend sogleich auf ihren Gipfel geführte neue Naturlyrik hin - erzog und präzisierte, belehrt nämlich darüber, daß das Präsens bei ihm niemals feststellenden, fixierenden Charakter hat, sondern immer geschehende Gegenwart, also Kraft ausdrückt. Schon daran, als an etwas seinem Wesen Eigentümlichen, läßt sich jedes von ihm geschriebene Gedicht als das seine erkennen, mit keinem anderen zu verwechseln. Innerhalb der so, wie dieses Gedicht es will, sich ereignenden Zeit, die erst weilt, dann, am Ende, still steht, gelangt das mit der ersten Zeile anhebende, erst in ihr Wirklichkeit werdende und mit jedem weiteren Vers mehr zu sich selbst kommende Geschehen an sein Ende, vollendet sich das Gedicht:
Kordelias leises Lachen hallt
Durch die Jahrhunderte.
Es hat sich nicht geändert.
Jung bin mit ihr ich, mit dem König alt.
Hat, wer das Gedicht, das Geschehen also, bis dahin Zeile für Zeile hat nicht nur mit-, sondern durchempfinden und dessen Wirklichkeit, das heißt die Realität dessen, was eigentlich geschieht, dem eigenen Dasein einverleiben können, im Ernst noch eine Schwierigkeit mit diesen Versen am Ende des Gedichts, mit dem in ihnen sich vollendenden Geschehen? Es ist kaum zu denken. Und was soll man jemandem, der sie hat, noch sagen? Geschieht, was dem Dichter geschah, nicht auch uns? Wer nun noch nach dem »eigentlichen« Sinn eines so gearteten Gebildes zu fragen sich müßig findet, der lasse sich bedeuten, daß Lehmann weder in diesem noch in einem anderen Gedichte einen »tieferen«, einen Hintersinn verborgen hat. Deshalb plage man sich auch nicht mit der Frage herum, was der Dichter hier mit den Gestalten, die uns aus einem ganz anders erworbenen Besitz her geläufig und vertraut sind, denn nun »eigentlich gemeint« habe. Dieses wie jedes Gedicht von Lehmann meint nicht, sondern ist etwas. Auch diese Figuren hier aus Mozarts und Shakespeares Stücken bedeuten nichts anderes als was sie sind. Daher befremdet es uns auch nicht, daß sie auftauchen. Gleichwohl darf man fragen: warum sind sie da. und was steht in ihnen auf?
Das Geheimnis, wie es zu diesen gewiß überraschenden, doch keineswegs seltsamem oder gar absurden Hereinnahmen kommt, ist leicht gelüftet. Dem Dichter, wie Lehmann ihn versteht, -»sind die Dinge nicht Stoff, abgesondert vom Geist. Materie ist ihm inspiriertes Phänomen«. Auch der Gang dieses Gedichtes stellt einen »Sieg über den Stoff dar, damit er seine Schwere verliere und als inspiriertes Phänomen auf schwebe«.
In solchem Vollzuge erweist sich Dichtung als etwas, worin - nochmals mit Lehmanns eigenen Worten - »Natur und Geist als eins im andern enthalten zum Frieden kommen«.
Diesen Frieden konstituiert auch das zur Rede stehende Gedicht. Auf unauffällige Weise und ohne jede sichtbare Anstrengung tut dieses Gedicht der Natur wie dem Menschen das Richtige an: es siedelt die Empfindung im Gedanken und dem Gedanken in der Empfindung an. Es gelingt ihm, Empfindung und Gedanke zu identifizieren.
(Verfasst 1953)
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Werner Siebert: Geschehen als Gedicht. In: Gegenart des Lyrischen. Essays zum Werk W. L.s. Gütersloh 1967.S. 132-139.