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Schlaflied
Verfasst: 3. Mai 2005, 18:59
von Mini
Hallo noch einmal!
Könnt Ihr mir sagen was Rilke beim Gedicht schlaflied meint:
Ohne dass ich hier wache und
Worte, beinah wie Augenlider,
auf deine Brüste, auf deine Glieder
niederlege, auf deinen Mund.
Dank im Voraus
Verfasst: 3. Mai 2005, 19:09
von gliwi
Ich könnte mir vorstellen, dass das Ganze zu tun hat mit Rilkes Problem von Nähe und Distanz. Mir fällt dazu sein Versuch ein, eine Familie zu gründen und seine alsbaldige Flucht aus dieser Familie. Mir scheint, dass in diesem Gedicht eine intime Nähe zu einer Frau beschrieben wird, in schönen Bildern, und zugleich der Wunsch ausgedrückt wird, diese Nähe wieder aufgeben zu können, diese Frau wieder alleine lassen zu können, ohne dass sie deswegen irgendwie beeinträchtigt ist.
Wer weiß mehr zu diesem Gedicht?
Gruß
gliwi
Verfasst: 4. Mai 2005, 21:34
von helle
"Wissen" will ich das nicht nennen, aber mich interessiert der paradoxe Zug in dem ganzen, weil man natürlich genau das Gegenteil des Gesagten sich vorstellt, und also eben doch – dem Wortlaut zuwider – jemanden, der wacht, und der dieses etwas ungewöhnliche Verhalten hat, "Worte" auf eine andere Person "niederzulegen". Die man sich vorstellt oder die ich mir vorstelle 1., wie "Gliwi", als Frau, weil ich mir den Sprecher des Gedichts als Mann vorstelle, was aber nicht zwingend ist, und 2. als schlafend, weil dieser Sprecher vom "wachen" spricht und dieses Wort sein Gegenteil mit sich führt. Außerdem bin ich durch die "Augenlider" dazu verleitet, die ich mir "niedergelegt" als geschlossen vorstelle. Ich glaube, daß über subjektive Assoziationen hinaus Rilke die Vorstellung in ganz bestimmte Bahnen lenkt, ziemlich raffiniert, ich finde ihn ja sowieso ungeheuer raffiniert, manchmal etwas mädchenhaft und lackig, aber doch auch immer wieder super raffiniert.
Also man stellt sich dies und jenes vor, wie da einer sitzt und die Glieder einer Schlafenden betrachtet und in lyrische Bewegung gerät usf., und dann liest man noch mal und sagt sich: denkste Puppe, es heißt ja, ohne daß ich das alles tue, was du dir da vorstellst und fühlt sich irgendwie aufs Glatteis geführt.
Solange wie der Sprecher das aufschreibt, könnte man denken, wird die Dame ja noch weiterschlafen, und er läßt ihr diese Worte auf einem Schmierzettel da, weil er schon gehen muß, bzw. pardon, bei Rilke natürlich Büttenpapier oder Papyrus Dann wäre das ganze vorstellbar als: ohne daß ich hier noch wache, eine kleine unscheinbare zeitliche Verschiebung aus dem Jetzt ins Nicht-mehr. Aber interessanter scheint mir eigentlich die radikale Verneinung, nichts Zeitliches,sondern etwas Kategoriales, über deren Folgen für das Verständnis des Gedichts ich mir aber noch gar nicht klar bin. Die "Nähe", von der Gliwi spricht, und die Art sprachlicher Zärtlichkeit, die hier vorliegt, blieben allerdings ganz unberührt davon.
Helle
Verfasst: 4. Mai 2005, 22:12
von gliwi
Ja, über das Wort "Schmierzettel" bin ich auch erst gestolpert, aber dann deine Entschuldigung! Ich habe Tränen gelacht!
Aber Zettel hin, Papyrus her, ich denke, er muss nicht fort, er will fort, weil ihm das schon wieder viel zu viel Nähe ist. Du hast recht, es ist eine paradoxe Situation. Es erinnert mich an Liebes-Lied, wo ja auch etwas von dieser Paradoxie drinsteckt, dass er nämlich seine Seele eigentlich vor diesem Mit- und Weiterschwingen bewahren möchte, bei aller Süßigkeit.
Gruß
gliwi
Verfasst: 4. Mai 2005, 23:47
von stilz
Hallo,
Es ist Zeit, das ganze Gedicht hierherzustellen, denke ich:
Schlaflied
Einmal wenn ich dich verlier,
wirst du schlafen können, ohne
daß ich wie eine Lindenkrone
mich verflüstre über dir?
Ohne daß ich hier wache und
Worte, beinah wie Augenlider,
auf deine Brüste, auf deine Glieder
niederlege, auf deinen Mund.
Ohne daß ich dich verschließ
und dich allein mit Deinem lasse
wie einen Garten mit einer Masse
von Melissen und Stern-Anis.
Ich versteh nicht so ganz, gliwi und helle, wieso Ihr davon ausgeht, daß das "Ich" in diesem Gedicht gehen will oder muß, weil es ihm zuviel Nähe ist oder wie auch immer...
"Einmal wenn ich dich verlier" heißt für mich etwas ganz anderes, zum Beispiel daß sie (ich sehe das Gegenüber des "Ich" auch als Frau, schon wegen der Brüste) geht... und das "Ich" genießt es einerseits, über sie zu wachen (ähnlich wie in dem Gedicht "Zum Einschlafen zu sagen"), und stellt sich andererseits vor (oder wünscht sich), daß sie dieses "Behütetsein" doch sehr vermissen müßte, wenn sie tatsächlich eines Tages fort sein sollte...
Liebe Grüße
stilz
Verfasst: 5. Mai 2005, 10:25
von Gast
Das ist mir jetzt sehr peinlich, daß ich das Gedicht weder kannte noch nachgesehen habe, ob es mehrere Strophen hat, vielmehr saß ich gestern Abend, bewegungsunwillig durch Sportverletzung, vor dem Rechner, las diesen Beitrag, habe die zweite Strophe spontan als Gedichtganzes verstanden und etwas naßforsch drauflosgeschrieben. Daß es sich tatsächlich nur um eine von drei Strophen handelt, verändert die Lage natürlich entscheidend. Ich muß gestehen, mir ist nicht mal aufgegangen, daß es gereimte Verse sind, ich streue also wirklich Asche auf mein Haupt.
Aber ich kann mir nicht helfen und egal wie ich es drehe und wende: mich würde das Gedicht als Versuch und Wurf weit stärker beeindrucken, wenn es nur aus der zweiten Strophe bestünde, ohne Lindenkrone und Klostergarten, und daß die naiv von mir angenommene Kontextlosigkeit (schon der Titel wäre mir zuviel) ihm ein Mehr an Geheimnis und Vieldeutigkeit und Wagnis geben würde. Das führt jetzt allerdings ab von der ursprünglichen Frage.
Was das Weggehen betrifft, dies zu Stilz, so war es für mich eine Deutungsmöglichkeit, die ich zwar erwogen, aber auch verworfen habe, so konkret wollte ich es tatsächlich ja nicht verstanden haben mit Büttenpapier und Fähnrich am Bettrand. Eher dachte ich an die kategoriale Fremdheit zwischen Ich und Du, aber das ist ganz unausgegoren. Wie auch immer – bitte untertänigst um Entschuldigung.
Grüße H.
Verfasst: 6. Mai 2005, 09:52
von stilz
Hallo,
oh, Helle, danke für Deine "untertänigste Entschuldigung", das beruhigt mich einigermaßen, ich dachte schon, ich wäre wohl ein besonders gefühlsduseliges Wesen, weil ich in diesem Gedicht nichts "Raffiniertes", sondern eher behüten-wollende Zärtlichkeit entdecke, mit dem Bewußtsein der Vergänglichkeit (ich denke dabei nicht in erster Linie an absichtliches Verlassen, sondern eher zwingende äußere Umstände, vielleicht sogar Tod...), und das rührt mich irgendwie...
Aber ich muß sagen, die Vorstellung, nach einer Liebesnacht so einen Schmier-Papyrus mit der kommentarlosen zweiten Strophe vorzufinden... das wäre wirklich allerhand! Und über-drüber-super raffiniert!
Liebe Mini, leider bin ich nicht gut im Gedicht-Interpretieren, ich denke mir immer, wozu soll ich etwas "erklären", was Rilke viel schöner gesagt hat...
Du fragst nach dem Sinn der zweiten Strophe:
Für mich ist es sowas wie ein "Einschlafritual", der Geliebten zärtliche Worte zu sagen, und er legt sie "wie Augenlider" über ihren Körper, das bedeutet für mich, er will in diesem Moment nicht ihre Leidenschaft anfachen, sondern sie sanft in den Schlaf hinübergleiten lassen, in der Geborgenheit seiner Liebe...
Und ich finde sowas einfach wunderschön, ha, ich bin doch gefühlsduselig!
Liebe Grüße
stilz
Verfasst: 6. Mai 2005, 23:50
von helle
Durch den Kontext der drei Strophen verliert das, was ich zuerst gedacht habe, seinen Sinn, das "Ohne" der zweiten Strophe wird Teil und Mitte einer Aufzählung – dessen, was "Einmal" geschehen wird.
Dabei glaube ich, daß das, was Stilz sagt, nicht ausreicht, daß es sich nicht um "sowas wie ein »Einschlafritual«, der Geliebten zärtliche Worte zu sagen", handelt, sondern daß das Nicht-Begehren weiter als für die Nacht reicht und einen Abschied für immer meint (das meinte ich mit kategorial), und zwar nicht aus einem Zerwürfnis heraus oder aus Überdruß, sondern aus einer Haltung des Freigebens, oder wie es etwas modisch heißt, des "Loslassen könnens" oder besser loslassen wollens, des überhaupt nichts mehr vom anderen wollens. Nicht sie (oder ihn) be-wachen und "verschließen" (darum lese ich auch das "und" zu Beginn der drittletzten Zeile als "sondern"). Verschließen ist ja auch ein Gegensatz zum Offenen.
Daß es dem Gedicht damit ernst ist, zeigt sich m.E. darin, daß es nicht im Konjunktiv: wenn ich dich verlieren würde, steht (Rilke hätte ja noch verlöre gesagt), sondern im Indikativ, "wenn ich dich verlier", und eben nicht: verlieren sollte oder falls ich dich verlier, sondern der Verlust ist gesetzt und soll sein. Es steht nicht fest, wann, und auch nicht, wie die Angesprochene ihn aufnimmt ("wirst du schlafen können?" – das Fragezeichen finde ich mal wieder raffiniert), aber das ist beides marginal. Ich glaube, daß das Gedicht an dieser Stelle Rilkes achte Elegie berührt, die hier ja schon mal diskutiert wurde, "Liebende, wäre nicht der andre, der/ die Sicht verstellt, sind nah daran" usw. – also dem Begehren entsagt und auf jenes "Offene" zeigt, mit dem man sich schwer tut und das nicht einfach mit Aussagesätzen zu beschreiben ist.
Gruß H.
Verfasst: 7. Mai 2005, 00:58
von gliwi
Ja, Helle, das leuchtet mir sehr ein. Über den Indikativ "verlier" bin ich auch "gestolpert", aber deine Deutung überzeugt mich. Auch das mit dem "sondern" statt "und" liegt hier nahe, du hast ganz recht. Aber trotz allem scheint mir diese vorsorgliche Verabschiedung nicht ganz uneigennütz, denn er entzieht sich doch auch. Und ihre Meinung ist nicht gefragt: Sie schläft.
Gruß
gliwi
Verfasst: 7. Mai 2005, 11:02
von Anna B.
Hallo,
misch mich mal ein in Eure Diskussion mit der Anmerkung, dass "schlafen" auch "träumen" bedeuten kann . Mit dem Erwachen kann die Schlafende - Ausgeschlafene - neu und frisch agieren , sich einmischen . Überschlafenes kann neue Perspektiven öffnen. Und hoffentlich gibt es hier keine (polizeilich gesuchten) "Schläfer" ?!
Liebe Grüße von Anna

Verfasst: 7. Mai 2005, 11:47
von stilz
Hallo,
ich stimme zu, der Indikativ "verlier" bedeutet, daß es so sein wird, nicht nur so sein könnte... das ist genau das, was ich mit "Bewußtsein der Vergänglichkeit" meine. Warum man einander verlieren wird, scheint da keine große Rolle zu spielen, aber es ist eben dieser Gedanke, daß alles einmal ein Ende haben wird...
Interessant finde ich Eure "sondern"-Assoziation in der letzten Strophe: das würde ich nicht so sehen.
Hier verschließt das "Ich" den "Garten", also wohl die Seele der Geliebten, um sie "allein in Deinem" zu lassen.. das spricht von Loslassen oder vielleicht besser Verlassen, und zwar für die Zeit der Träume. Ich finde nicht, daß es um einen aktuellen Abschied für immer geht, denn solange man einander noch nicht verloren hat, wird man nach dem Aufwachen wohl wieder gemeinsam erleben...
Ich kenne dieses Bild, einen Menschen in der Nacht in Gedanken in einen schönen Park oder Garten einzuschließen, von einem befreundeten Psychotherapeuten, der das mit seinen Patienten "macht", damit sie ihn nicht in seine Träume verfolgen... und es ist wichtig, daß es ein wunderbar schöner Park ist, in dem sie gut versorgt sind, aber eben auch nicht rauskönnen, um was "anzustellen".
Es geht also vielleicht auch im Schlaflied um Abgrenzung, damit man (und zwar beide!) in Ruhe schlafen und träumen kann...
Für mich ist sogar diese Strophe die allerraffinierteste, denn man könnte dieses "allein mit Deinem" auch so lesen, daß das "Ich" sie nur losläßt, wenn er sicher sein kann, daß sie in ihrem "Garten" allein sein wird, also nicht etwa mit einem anderen... und daß man also, in der Zeit, da man einander noch nicht "verloren" hat, tagsüber wieder "besitzergreifend" sein könnte...
Lieben Gruß
Ingrid
Verfasst: 7. Mai 2005, 12:06
von Anna B.
Hallo,
Ohne daß ich dich verschließ
und dich allein mit Deinem lasse
wie einen Garten mit einer Masse
von Melissen und Stern-Anis.
Die Erwähnung genau dieser beiden Kräuter/ Gewürze scheint mir bewußt gesetzt zu sein: Melisse ist beruhigend, Stern-Anis würzig und fernöstlich . Er will ihr anscheinend ruhigen , aber wohl gewürzten Schlaf schenken . Was meint Ihr ?
Sie ist nicht verschlossen, sondern nimmt in ihren ruhigen Schlaf, ihre Träume die Würze der Zeit, der Erlebnisse des Tages mit ihm mit hinein.
Liebe Grüße von Anna

Verfasst: 7. Mai 2005, 12:48
von stilz
Hallo Anna,
das ist sehr schön, daß Du die Kräuter so genau einbeziehst...
und ich lese es dann so, daß dieses sowohl Beruhigende als auch Würzige für ihn ein Teil ihres Wesens ist, an dem er immer wieder teilhaben darf, das er dann aber wieder loslassen will, eben aus dieser Haltung des "Freigebens" heraus, wie Helle es geschildert hat (danke für die Verbindung mit der achten Elegie!).
Je länger ich mich damit befasse, desto schöner wird dieses Gedicht!
Liebe Grüße
Ingrid
P.S.: Mini, bist Du eigentlich noch da?
Verfasst: 7. Mai 2005, 16:11
von Anna B.
Hallo,
ich habe jetzt noch einmal Eure Beiträge zum Freigeben und Loslassen gelesen und muss sagen, ich kann das nicht akzeptieren so. Zuerst heißt es "Schlaflied", also ist es nicht etwas Endgültiges, dann müßte es Todeslied heißen ... Schlafen bedeutet doch , daß man auch wieder aufwacht .
Wenn ich den anderen verliere, verliere ich an Würze - also was soll dann der "Sternanis" am Ende ? Wir haben zusammen gelebt, haben gemeinsam gearbeitet, miteinander gelernt - haben schöne und traurige, spannende und gemütliche Augenblicke miteinander erlebt, nächtelang diskutiert und philosophiert ... . Das kann ich dann doch nicht so ohne Weiteres aufgeben . Klar, muss ich akzeptieren, wenn der Andere nicht mehr will , vielleicht kann ich um ihn kämpfen, ihn überzeugen, dass doch noch nicht Alles aus ist. Warum aber wünscht er mir Würze, wenn er genau weiß, dass ich zusammenfalle und total schlapp und furchtbar traurig bin, wenn er weg ist

?
Hallo, Ihr seid hoffentlich Alle noch da ?!
Anna

Verfasst: 7. Mai 2005, 17:54
von stilz
Hallo Anna,
Auch ich glaube, daß im Schlaflied nicht auf ein sofortiges Ende der Beziehung angespielt wird.
Sondern es wird im Gegenteil die gegenwärtige Nähe und Zärtlichkeit ausgedrückt, im Bewußtsein ihrer Vergänglichkeit irgendwann später mal.
Aber diese dritte Strophe scheint mir schon auf eine Haltung des "Loslassen Wollens" oder "Freigebens" hinzuweisen, und zwar nicht erst dann, wenn man einander verloren haben wird, sondern auch jetzt schon...
Aber ich meine das nicht im Sinne des "Verlassens" oder gar "Im Stich Lassens", sondern einfach nur, daß er sie nicht in jedem Moment ausschließlich besitzen will, daß er sie zumindest für die Zeit des Schlafens "ganz allein in Deinem lassen" kann, sie nicht in ihrer Ruhe stören will... und gleichzeitig (und das deutet meiner Meinung nach doch wieder in Richtung "nicht ganz loslassen"!!) durch das "Verschließen" dafür sorgen will, daß auch nichts und niemand anderer ihre Ruhe stört.
Rilke hat dafür so schöne Worte gefunden... und je mehr ich versuche, zu erklären, wie ich sie verstehe, desto schwieriger und mißverständlicher scheint es zu werden... ich sag's ja, ich bin ganz unbegabt im "Interpretieren"!
Liebe Grüße
Ingrid