Ding-Gedichte

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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Anna B.
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Beitrag von Anna B. »

Hallo,

auch Kassner & Co scheinen sich schon damit auseinandergesetzt zu haben - um die Jahrhundertwende (1900) bez. der Dinge ... Wer weiss mehr ?

Mit vielen Gruessen aus den ziemlich vernebelten Schweizer Alpen,

Anna :lol:
"anna blume... man kann dich auch von hinten lesen... du bist von hinten wie von vorne: "a-n-n-a." (kurt schwitters)
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Ich habe mich geirrt. Laut google ist der Begriff erst 1926 von einem gewissen Kurt Oppert erfunden worden, Rilke selbst kann ihn also noch nicht verwendet haben. :oops:
Gruß
gliwi
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
.Sabine.
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Beitrag von .Sabine. »

Hallo gliwi, hallo Alle an diesem Thema Interessierten,

...heisst es nicht in einem frühen Rilke-Gedicht:

"Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um." ?

Könnte das nicht gegen alle romantischen und biedermeierischen Schreiber gerichtet sein ? Nur so ein Gedanke von mir... Und: lässt das nicht darauf schliessen, dass Rilke zumindest die Ding-Problematik (oder -Thematik ?) irgendwie doch bewusst war ? Meines Wissens nach gab es in der Literatur damals schon Ansätze einer Diskussion dazu ?!

Liebe Grüsse von Sabine :lol:

ps: und Anna: grüss Nietzsche von mir :wink: ...
"Ich lerne sehen.... " (Rainer Maria Rilke)
stilz
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Beitrag von stilz »

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.

Aus: Die frühen Gedichte (Gebet der Mädchen zur Maria)



Hallo Sabine,

danke für diesen Hinweis!!!
Ich kenne dieses Gedicht schon lange und mag es sehr gern, und ich kann gar nicht verstehen, daß es mir trotzdem zu diesem Thema nicht eingefallen ist.
Denn es scheint auch für mich sehr gut zum Thema zu passen.

Mir sagt besonders der Satz "Die Dinge singen hör ich so gern." sehr viel.

Und es verstärkt mein Gefühl, daß ich weder Rilkes Gedichte auf sachliche Beschreibungen von Gegenständen reduzieren kann und will, andererseits aber auch nicht genau festlegen will, welche von meinen Assoziationen da "drinstecken" und welche nicht.

Ich habe früher schon einmal gesagt, ich eigne mich nicht zum "Gedicht-Interpretieren"...
ich glaube: nicht deshalb, weil ich da irgendwie "unbegabt" bin, sondern weil es sich für mich nicht "richtig" anfühlt, das zu tun.
Mit jeder Interpretation versuchen wir doch, die "Melodie" festzulegen, die die Dinge in Rilkes Gedichten "singen". Und je mehr wir interpretieren, desto kleiner wird diese "Melodie" - wenn auch möglicherweise dadurch leichter zu fassen. Aber darum geht es doch nicht, oder?


Nochmal herzlichen Dank und liebe Grüße

stilz
.Sabine.
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Beitrag von .Sabine. »

Hallo Ingrid,

ja, das stimmt - man sollte wirklich einmal untersuchen, wo Rilke in welchem Zusammenhang das Wort "Ding" verwendet und wie sich die Bedeutungen verändern ...

Hast Du eine Idee dazu ?

Viele Grüße von Sabine :lol:
"Ich lerne sehen.... " (Rainer Maria Rilke)
stilz
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Beitrag von stilz »

Hallo,

ja, Sabine, Du hast recht, das sollte man wirklich mal erforschen!
Und wenn ich Literaturwissenschafter wäre, dann tät ich es wohl auch...

So bleibt mir nur, zufällig Gefundenes dazu zu ergänzen.
Was meint Ihr dazu?


Um jeden Gegenstand
nach dem ich griff, war Schein von deinem Scheine,
doch plötzlich ward aus ihm und meiner Hand
ein neues Ding, das bange, fast gemeine
Ding, das besitzen heißt. Und ich erschrak.
O wie doch alles, eh ich es berührte,
so rein und leicht in meinem Anschaun lag.
Und wenn es auch zum Eigentum verführte,
noch war es keins. Noch haftete ihm nicht
mein Handeln an. Mein Mißverstehn. Mein Wollen
es solle etwas sein, was es nicht war.
Noch war es klar
und klärte mein Gesicht.
Noch fiel es nicht, noch kam es nicht ins Rollen,
noch war es nicht das Ding, das widerspricht.
Da stand ich zögernd vor dem wundervollen
Uneigentum.

Aus: Die Gedichte 1910 bis 1922 (Weihnachten 1914)



Ganz liebe Grüße!

stilz
stilz
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Beitrag von stilz »

Oder dieses hier (kursiv von mir):


Shawl

Wie Seligkeit in diesem sich verbirgt,
so eingewirkt, dass nichts mehr sie zerstöre;
wie blosses Spiel vollkommener Akteure
so ungebraucht ins Dauern eingewirkt.

So eingewirkt in schmiegende Figur
ins leichte Wesen dieser Ziegenwolle,
ganz pures Glück, unbrauchbar von Natur
rein aufgegeben an das wundervolle
Geweb in das das Leben überging.
0 wieviel Regung rettet sich ins reine
Bestehn und Überstehn von einem Ding.


Aus: Die Gedichte 1922-1926 (Ragaz, Juli 1924)



Alles Liebe!

stilz
Gast

Dinge

Beitrag von Gast »

Hallo!
Ich beschäftige mich auch gerade mit dem Thema Dingedichte und Rilkes Meinung zu Dingen. Habe dabei folgende Zitate entdeckt, bei denen sich Rilke mit dem Begriff Ding beschäftigt:

"Das Ding ist bestimmt, das Kunst-Ding muss noch bestimmter sein ; von allem Zufall fortgenommen, jeder Unklarheit entrückt, der Zeit enthoben und dem Raum gegeben, ist es dauernd geworden, fähig zur Ewigkeit."
(aus einem brief von 1903)

Alle Dinge, an die ich mich gebe,
werden reich und geben mich aus.

(aus "Der Dichter" aus den "Neuen Gedichten")

Was sagt ihr zu diesen Ziataten?
Mich erinnert es an Platon, der sagte alle Dinge die wir sehen wären nur Abbilder und das eigentlichen Dinge wären die Ideen. Könnte Rilke versuchen hinter dieses Abbild zu sehen und die Idee zu beschreiben?
monablume
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Beitrag von monablume »

hallo gast, danke für die zwei zitate :)

und danke an ? für den link zu Thorsten Preuß' essay :)

ich arbeite auch gerade an einer hausarbeit über die neuen gedichte und habe zum thema ding zum beispiel noch gefunden:

Die Dinge „enthalten am reinsten die Gesetze“ S. 35

Das Ding hat „hundertausend Stellen, die alle lebendig“ sind. S. 46

Rilke war der Meinung, dass viele Künstler, speziell Rodin, an einem Ding das Leben als Ganzes sahen, und dass dieses Ding ein Erlebnis war, „das auch mittrieb in dem großen Strome, der fortwährend in seiner Kunst mündet[e]“. S. 47

aus:

Rainer Maria Rilke: Briefe aus den Jahren 1902 bis 1906 (Insel-Verlag)

und:

Rilke „das Gedicht um einen festen Punkt in dem Prozeß des Schauens aufbaut“ „in seinem Krisenmoment festgehalten“ S. 18

aus:

Jelena Volić-Hellbusch : Untersuchung zur Dichtung Rilkes, Eliots und Pasternaks

sowie:

nicht nur Beschreibung von Äußerem, sondern ganzer Charakter der Dinge, Rilke identifiziert sich mit den Gefühlen und der Natur des Panthers. S. 58

aus:

K.A.J. Batterby: Rilke and France

und in dem Buch hier gibt's ein ganzes Kapitel zum Thema "Ding":

Wolfgang Müller: Rainer Maria Rilkes „Neue Gedichte“

außerdem bearbeite ich noch die folgenden zwei Bücher:

Ulrich Schödlbauer: Rilkes Engel (Manutius Verlag)

und

Manfred Engel: Rilke-Handbuch (das Buch kostete 64 euro, vielleicht braucht es ja jemand ab Juni?)
Die Liebe ist eine köstliche Blume, aber man muß den Mut haben, sie am grausigen Rand eines Abgrunds zu pflücken.
Henri Stendhal
http://www.tauschticket.de/cgi-perl/hom ... =monablume
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lilaloufan
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Beitrag von lilaloufan »

In einem vielzitierten Brief (an Witold Hulewicz, 1925) [aus dem meine Signatur stammt] über die Duineser Elegien deutet Rilke mit einem „wer weiß…“ an, dass das Tätigwerden des den Dingen nach Goethes Wort „Neigung“ erweisenden, aus Weltinnenraum eine neue, innenseelische Welt erschaffenden Menschen auf dem Wege von „fortwährenden Umsetzungen des geliebten Sichtbaren und Greifbaren in die unsichtbare Schwingung und Erregtheit unserer Natur“ eine nicht nur in „Intensitäten geistiger Art“ neue Welt vorbereite:

«Und diese Tätigkeit wird eigentümlich gestützt und gedrängt durch das immer raschere Hinschwinden von so vielem Sichtbaren, das nicht mehr ersetzt werden wird. Noch für unsere Großeltern war ein „Haus“, ein „Brunnen“ [sic!], ein ihnen vertrauter Turm, ja ihr eigenes Kleid, ihr Mantel: unendlich mehr, unendlich vertraulicher; fast jedes Ding ein Gefäß, in dem sie Menschliches vorfanden und Menschliches hinzusparten. Nun drängen, von Amerika her, leere gleichgültige Dinge herüber, Schein-Dinge, Lebens-Attrappen Ein Haus, im amerikanischen Verstande, ein amerikanischer Apfel oder eine dortige Rebe, hat nichts gemeinsam mit dem Haus, der Frucht, der Traube, in die Hoffnung und Nachdenklichkeit unserer Vorväter eingegangen war Die belebten, die erlebten, die uns mitwissenden Dinge gehen zur Neige und können nicht mehr ersetzt werden. Wir sind vielleicht die Letzten, die noch solche Dinge gekannt haben. Auf uns ruht die Verantwortung, nicht allein ihr Andenken zu erhalten (das wäre wenig und unzuverlässig), sondern ihren humanen und larischen Wert. („Larisch“, im Sinne der Haus-Gottheiten.)
Die Erde hat keine andere Ausflucht, als unsichtbar zu werden: in uns, die wir mit einem Teil unseres Wesens am Unsichtbaren beteiligt sind, Anteilscheine (mindestens) haben an ihm, und unseren Besitz an Unsichtbarkeit mehren können während unseres Hierseins, - in uns allein kann sich diese intime und dauernde Umwandlung des Sichtbaren in Unsichtbares, vom Sichtbar- und Greifbar-Sein nicht länger Abhängiges, vollziehen, wie unser eigenes Schicksal in uns fortwährend zugleich vorhandener und unsichtbar wird.
»

Ich bin überzeugt, dass Rilke das eigentümliche Zeitenschicksal des Ding-Erlebens (und damit der Dinge selbst) als Anlass seiner so genannten „Dinggedichte“ empfunden haben mag. Die philologisch kritischen Fragen zum Begriff Ding-Gedicht verblassen angesichts der Mission, die diese Gedichte – so betrachtet – haben.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
stilz
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Beitrag von stilz »

Vielen Dank für diese Zitate!

So kann ich mich auch endlich anfreunden mit dem Begriff "Ding-Gedicht" --- mit meinem bisherigen Eindruck, daß es sich bei diesem Begriff um eine Reduzierung des Gehaltes eines Gedichts auf "rein Materielles" handeln sollte, war ich ja wirklich nicht glücklich.

Nochmal vielen herzlichen Dank!

Mit lieben ("eisheiligen") Grüßen

stilz
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lilaloufan
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Beitrag von lilaloufan »

gliwi hat heute in http://rilke.de/phpboard/viewtopic.php?p=6720#6720 auf Eichendorffs "Schläft ein Lied in allen Dingen" aufmerksam gemacht. Ein interessanter Hinweis, finde ich.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
monablume
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Beitrag von monablume »

danke, lilaloufan :) bei mir bring ich eichendorff und novalis zwar nicht unter, aber dein zitat ist hilfreich.
Die Liebe ist eine köstliche Blume, aber man muß den Mut haben, sie am grausigen Rand eines Abgrunds zu pflücken.
Henri Stendhal
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lilaloufan
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Beitrag von lilaloufan »

Im Internet finde ich gerade: Ende November 2004 gab es eine Veranstaltung der Universität Tübingen oben im Tübinger Schloss, mit dem Thema: Dingbefremdung
Die Kultur der Dinge – neue Erfahrungen und Modellierungen

Dort hielt Manfred Koch am 26.11.2004 einen Beitrag mit dem Thema:

Schwindel-Dinge -
Ästhetische Ding-Kontemplation und metaphorische Ding-Konstitution bei Rainer Maria Rilke

Im Programm liest man folgenden erläuternden Text:
Die emphatische Rede vom „Ding“ sowohl in der Literatur als auch in der Philosophie des 20. Jahrhunderts (Heidegger) geht maßgeblich auf Rainer Maria Rilke zurück. Der Vortrag stellt im ersten Teil Rilkes um 1900 entworfene Theorie ästhetischer Kontemplation vor; zentral ist dabei die Konzeption eines „Schauens“, das als Prozess sinnlich-materialer Entsemiotisierung begriffen werden kann. Teil II behandelt Rilkes „Ding-Gedichte“ als prekären Versuch einer metaphorischen Neukonstitution von Dinglichkeit. Leitend ist hier die Frage, warum Rilke fast durchgängig Dinge in Drehbewegungen präsentiert oder an ihnen Erfahrungen des Absturzes und des Schwindels evoziert.

War womöglich von euch jemand zugegen, oder wüsstet ihr, wo man eine Nachschrift des Vortrags finden kann?
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
stilz
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Beitrag von stilz »

Vor kurzem bin ich wieder auf die "Geschichten vom lieben Gott" aufmerksam geworden, da heißt es:

»Was wäre das für ein Unsinn: lebende Dinge?« »Nun, « beharrte ich, »meine leben. Das ist also der Unterschied. Sie können verschiedenes werden, und ein Ding, welches als Bleistift oder als Ofen zur Welt kommt, muß deshalb noch nicht an seinem Fortkommen verzweifeln. Ein Bleistift kann mal ein Stock, wenn es gut geht, ein Mastbaum, ein Ofen aber mindestens ein Stadttor werden.«

und

...Ein jedes Ding kann der liebe Gott sein. Man muß es ihm nur sagen.‹ .... ›Ein Tier kann das nicht. Es läuft davon. Aber ein Ding, siehst du, es steht, du kommst in die Stube, bei Tag, bei Nacht: es ist immer da, es kann wohl der liebe Gott sein.‹

:lol:

Lieben Gruß

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
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