1. Duineser Elegie

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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Max
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1. Duineser Elegie

Beitrag von Max »

"Es bleibt uns vielleicht / irgend ein Baum an dem Abhang ..."
Warum wählt Rilke ausgerechnet dieses Bild? Ich habe darauf in der Literatur bisher keine zureichende Antwort finden können und wäre dankbar, wenn mir jemand weiterhelfen könnte. Zugegeben eine Detailfrage.
Marie
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Beitrag von Marie »

Hallo Max,

hier gibt es einen Bezug zu einem quasi-mystischen und für Rilke sehr intensiven Erlebnis, dass er in Duino hatte. Er war während eines Spaziergangs in den "Bann" eines Baumes an einem Abhang, der zum Meer führte, geraten und hatte dort die Gegenwart längst verstorbener oder zumindest nicht verkörperter Personen wahrgenommen.
In den Duineser Elegien spiegeln sich mehrere solcher "Momentaufnahmen" aus Rilkes Leben wider und lassen mit ihrer bizarren Intensität den Leser aufhorchen - auch wenn er/sie die Bezüge nicht kennt.
Nachzulesen ist dieses Ereignis auch in den Erinnerungen von Marie v. T. u. T.
Gruß :D
stilz
Beiträge: 1226
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Beitrag von stilz »

Hallo Marie,

das ist für mich sehr interessant, was Du da erzählst... leider kenne ich die Erinnerungen von M.v.T.u.T. nicht...

Was meinst Du, paßt auch der Baum im folgenden Gedicht dazu?

Eingang

Wer du auch seist: am Abend tritt hinaus
aus deiner Stube, drin du alles weißt;
als letztes vor der Ferne liegt dein Haus:
wer du auch seist.
Mit deinen Augen, welche müde kaum
von der verbrauchten Schwelle sich befrein,
hebst du ganz langsam einen schwarzen Baum
und stellst ihn vor den Himmel: schlank, allein.
Und hast die Welt gemacht. Und sie ist groß
und wie ein Wort, das noch im Schweigen reift.
Und wie dein Wille ihren Sinn begreift,
lassen sie deine Augen zärtlich los...


Liebe Grüße

stilz
helle

Beitrag von helle »

Interessant finde ich den Hinweis auf das "für Rilke sehr intensive Erlebnis" auch. Aber für die Deutung des Gedichtes sollte man solche biographischen Reminiszenzen ignorieren. Rilke hat ja keine Fußnote geschrieben und erläutert, mit diesem Baum hat es übrigens für mich außerhalb des Gedichtzusammenhanges folgende Bewandtnis ..., sondern er hat dieses Gedicht hin- und ausgestellt, damit der Leser etwas mit dem gegebenen sprachlichen Material anfange.

Gruß H.
Paula
Beiträge: 239
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Beitrag von Paula »

"So wie angehaltner Atem steht
steht die Nymphe in dem vollen Baume"


- auch das ist von R. M. Rilke !

Liebe Grüße, Paula :lol:
stilz
Beiträge: 1226
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Beitrag von stilz »

Hallo,

Na, das finde ich aber ziemlich schwierig, solche "biographischen Reminiszenzen" total zu ignorieren... ich meine: wenn ich ein Gedicht lese und mir Gedanken dazu mache, dann kann ich das natürlich nur aus meiner eigenen Lebenssituation heraus, andere Gedanken kann ich mir ja gar nicht machen...
Und ich halte es für nicht ganz unwahrscheinlich, daß auch Rilke das, was er geschrieben hat, eben aus seiner Lebenserfahrung heraus geschrieben hat...
Was sollte es also für einen Sinn haben, solches Hintergrundwissen zu ignorieren?
Ich verstehe schon, daß man sich nicht nur daran "festklammern" sollte, welche Details aus Rilkes Leben wir zufällig kennen... aber ganz und gar ignorieren, das scheint mir doch zu streng!

Aber das ist natürlich alles total unwissenschaftlich... :wink:


Liebe Grüße

Ingrid
Svenja

Beitrag von Svenja »

Ja, ja, die Herren Professoren - mit mindestens drei Doktortiteln - :roll: !

Manchmal habe ich schon den Eindruck, diese Herren lassen Ihre Lebenserfahrung vor der Seminartüre... :? . Elfenbeintürmler , die sie sind ... :x ! Mir haben sie jedenfalls die Freude am akademischen Arbeiten gründlich verdorben ... :roll: ! Bitte lasst das Forum wie es ist !!!

Svenja :lol:
Paula
Beiträge: 239
Registriert: 29. Feb 2004, 11:01

Beitrag von Paula »

Hallo,

Svenja, ich kann Dich gut verstehen - aber ich habe auch andere Profs getroffen und so gilt auch hier - wie so oft: Ausnahmen bestätigen die Regel :wink: !

Und: schaut Euch mal kurz im Forum bei der (wissenschaftlichen !) Rilke-Gesellschaft um unter : http://www.rilke.ch . Da würde ich doch sagen, dass dieses Forum hier wesentlich besser und kompetenter ist :lol: :!:

Aber nun zum eigentlichen Thema: stellt Euch vor, Ihr geht in ein Kunstmuseum , um Bilder anzusehen. Diese gefallen Euch sofort. Ihr seht Euch um. Entdeckt vielleicht welche mit gleichen oder ähnlichen Motiven . Die Farbgebung deutet auf eine Aussage hin. Einige erzählen Geschichten, zeigen Landschaften, Gegenstände... Je länger Ihr hinseht, desto mehr Einzelheiten entdeckt Ihr. Geht vielleicht etwas naeher hin, um zu sehen , aus welchem Material die Bilder bestehen , geht etwas weiter weg, um die Perspektive zu wechseln, einen Blick für das Gesamte zu bekommen . Immer wieder entdeckt Ihr so Neues, Anderes . So ähnlich ist es auch mit den Gedichten von Rilke . Sie können einem ohne weiteres Wissen zusagen, etwas ausdrücken . Man kann sie als Einzelnes einfach schön finden . Man entdeckt dann - bei genauerem Hinsehen, im Vergleich - ähnliche oder gegensätzliche Motive, kann die Sprache untersuchen , die Farb-Nuance-Gebung im Klang , beim wiederholten Lesen entdeckt man immer wieder Neues . Ihr unterhaltet Euch mit anderen darüber und ergänzt Eure Sichtweisen ... Einige wissen vielleicht etwas mehr: über das Leben der Künstler, über die Bedeutung der Motive, über Reim und Rhythmik ... über die Zeit , in der das Bild/ Gedicht entstanden ist, und Zeitgenossen . Ihr ergänzt Euch. Jeder kann etwas beitragen dazu. Wichtig ist, dass Ihr gekommen seid, um Bilder / Texte anzusehen und das gerne tut . Gerade das gefällt mir auch im Forum hier. Und ich bekomme immer wieder gerne neue Anregungen und Ergänzungen .

Typisch - mal wieder - , dass ich als Künstlerin dieses Beispiel gewählt habe . Und natürlich habe ich auch mal Kunst(-wissenschaft) studiert, bin inzwischen aber völlig in der Kunstausübung gelandet . Deswegen muss ich auch gleich wieder in mein Atelier .

Liebe Grüße von Paula :lol:
helle

Beitrag von helle »

Eigentlich schätze ich die Anonymität dieses Forums, wo man öffentlich Meinungen austauschen kann ohne gleich persönlich und knotig zu werden. Aber da sich "Svenjas" Beitrag wohl direkt auf meinen bezieht –: ich habe darin eine Meinung vertreten, die man wissenschaftlich oder akademisch finden kann, aber 1. habe ich das bislang nicht für etwas Ehrenrühriges gehalten und 2. bleibt es trotzdem meine eigene Meinung und man muß ihr nicht zustimmen. Auch habe ich eigentlich niemanden verunglimpft oder angegriffen, verstehe also so pauschale Wendungen wie "diese Herren" und "Elfenbeintürmler" nicht. Wer immer Ihnen "die Freude am akademischen Arbeiten gründlich verdorben" hat, ich war's nicht, können Sie mir glauben, ich wollte mich hier eigentlich nur zu Rilkes Text und seiner Deutung äußern, sicher in anderer Weise als Sie es tun würden (aber ein Beitrag von Ihnen war ja gar nicht vorhanden). Wenn Sie nur Auffassungen gelten lassen wollen, die Ihren eigenen entsprechen, dann wäre es hier sicher auch sehr farbig, aber ein Zwang dazu bestand bislang nicht. Ob einer Doktor oder Professor ist (ich bin es nicht, nicht daß ich darauf stolz wäre), ist doch gegenüber Rilke und seiner Dichtung völlig schnuppe, aber es ist peinlich und Zeitverschwendung, sowas hier diskutieren zu müssen.

Helle
Paula
Beiträge: 239
Registriert: 29. Feb 2004, 11:01

Beitrag von Paula »

Hallo helle,

... das sehe ich auch so. Es ging Svenja wohl nur darum, dass das Forum keinen reinen universitären Charakter bekommen sollte , was natürlich wissenschaftliche Beiträge nicht ausschliesst . Im Austausch kann man dann ja weiter nachhaken , ergänzen , diskutieren... . Wir sollten versuchen, möglichst allgemeinverständlich zu formulieren , was Du ja getan hast . Insofern verstehe ich Svenja auch nicht . Gerade diese Vielfalt der unterschiedlichen Besucher und Mitglieder im Forum ist ja das Interessante und kann für einen inhaltlichen Austausch sehr fruchtbar sein ! So bringt eben jeder seine Erfahrungen und Kenntnisse ein !

Ich wollte gerade meinen letzten Beitrag noch ergänzen, um die Bemerkung, dass es auch wichtig sein kann für die Betrachtung eines Gedichtes, ob man es leise oder laut liest . Also ruhig selbst mal ein Rilke Gedicht laut lesen (- vor dem Computer) .

Liebe Grüße von Paula :lol:
stilz
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Beitrag von stilz »

Hallo,

na, dazu möchte ich mich auch nochmal melden, schließlich war ich es wohl, die ich mit meinem
Aber das ist natürlich alles total unwissenschaftlich... Svenjas Beitrag über die "Elfenbeintürmler" überhaupt ausgelöst habe...

Ich wollte niemanden irgendwie angreifen, es ist mir wichtig, das ganz klar zu machen!!!
Ich habe bisher weder gute noch schlechte, sondern schlicht überhaupt keine Erfahrungen gemacht mit Literaturwissenschaftern.

Sondern ich komme von ganz woanders her, nämlich von der Musik... und da habe ich eben die Erfahrung gemacht, daß es schon hilfreich sein kann, etwas aus dem Leben der Komponisten zu wissen, wenn man zB deren Lieder singen will... wenn man das auch nicht "akademisch" (Huch, schon wieder so ein Reizwort?) sehen sollte, denn natürlich ist auch alles, was man sozusagen "unvoreingenommen" empfinden oder assoziieren mag, wichtig...

Ich finde es sehr interessant, daß der "wissenschaftlich-akademische" Standpunkt in der Musik zu sein scheint: "Du sollst dir, wenn du an die Interpretation eines Musikstücks herangehst, der Lebensumstände eines Komponisten bewußt sein", während es in der Literatur gerade umgekehrt ist ???

Oder hab ich da etwas falsch verstanden?

Liebe Grüße

stilz
Beate

der Baum am Abhang

Beitrag von Beate »

Hallo,

ich höre auch gerne Musik - ohne etwas Genaueres über den Komponisten zu wissen. Und sicher erkennt man auch in der Lyrik aus welcher Zeit ein Text stammt: Goethe schreibt eben anders als Rilke ...

Noch einmal zu Eurer Ausgangsfrage:

Was bedeutet denn nun :

"Es bleibt uns vielleicht / irgend ein Baum an dem Abhang ..."

- wenn man die Geschichte mit Marie v. T. u. T. nicht kennt und diese Stelle textimmanent interpretieren will ?

Der "Baum" kommt bei Rilke ja öfter vor als Motiv und "an dem Abhang" ist sicher auch ein Bild ?!

Wäre schön, wenn wir darauf eine Antwort finden könnten gemeinsam !

Viele Grüße, Beate :lol:
svenja

Beitrag von svenja »

Hallo,

ich möchte mich entschuldigen , helle . Ich wollte Dich nicht angreifen mit meinem Beitrag . Nur reagiere ich bei dem Wort "akademisch" nun mal ziemlich allergisch - wie stilz schon richtig erkannt hat. Auch ging es mir eher um die Thematik Wissenschaft / Lebenserfahrung in meinem Beitrag als speziell um Deinen Beitrag, helle .

Wäre doch schön, wenn wir wieder auf eine inhaltliche Ebene zurückfinden könnten in unserem Austausch .

Viele Grüße von einer reichlich zerknirschten Svenja :lol:
Marie
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Beitrag von Marie »

Hallo Silz, Paula u. alle anderen,

- Das Gesicht "Eingang", Stilz, stammt meines Wissens aus dem Buch der Bilder (1902 - 06) , deswegen kann Rilke hier nicht die Erfahrungen von Duino (1911/12) einbezogen haben.

- Dass Rilke persönliche Erebnisse zu Metaphern in seinen Werken gemacht hat, kann aber als gesichert angesehen werden (z. B. auch durch Aussagen in seinen Briefen) - es wäre doch auch unnatürlich, wenn dem nicht so wäre?! Und trotzdem hat er sich z. B. gegenüber K. v. Kippenberg geweigert, die Elegien zu interpretieren. Als tiefsinniger Künstler spürte er sicher, dass seine persönlichen Bilder und Erlebnisse Geschenke des Schiksals waren, die in seiner Dichtung in einem viel umfassenderen und individuell zu lesenden Kontext aufblühten (und immer noch aufblühen). Gerade das macht ja die Magie großer Weke (nicht nur in der Dichtung) auch aus, oder?

Gruß an alle :D
helle

Beitrag von helle »

Die Entschuldigung nehme ich gern an – und wollte nur darauf hinaus, daß man sich in der Deutung des Gedichts darauf konzentriert, was in ihm steht, was also jedem Leser zur Verfügung steht. Daß Rilke persönliche Erlebnisse zu Metaphern macht, sehe ich auch, aber für das Verständnis seiner Dichtung zählen m.E. eben die Metaphern, nicht was zu ihnen führt und was man zumeist auch nur durch Zufall nachverfolgen kann. Den Baum z.B. verstehe ich als einen Gegensatz zum Abhang, man kann sich an ihm festhalten, draufklettern oder sich an den Stamm anlehnen usf. – das sagt das Gedicht zwar nicht ausdrücklich, aber der Text läßt solche (und andere) Deutungen zu. Der Baum hat für mich also etwas Standhaftes gegenüber der Gefahr des Fallens, die der Abhang birgt, und ich glaube, daß das mit der im Gedicht erwähnten Treue zusammenhängt.

Gruß H.
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