Suche Drei-Sterne-Gedicht

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

Moderatoren: Thilo, stilz

Kathi

Suche Drei-Sterne-Gedicht

Beitrag von Kathi »

Hallo,

könnt Ihr mir weiterhelfen: ich suche das Drei-Sterne-Gedicht von R.M. Rilke - auch "Winterliche Stanzen" genannt - von 1917 !? Ich habe es gerade erwähnt gefunden in einem Brief Rilkes an Katharina Kippenberg .

Viele Grüße von Kathi :lol:
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Anna B.
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Beitrag von Anna B. »

Hallo Kathi,

hier kommt das Gedicht:

Winterliche Stanzen

Nun sollen wir versagte Tage lange
ertragen in des Widerstandes Rinde;
uns immer wehrend, nimmer an der Wange
das Tiefe fühlend aufgetaner Winde.
Die Nacht ist stark, doch von so fernem Gange,
die schwache Lampe überredet linde.
Laß dichs getrösten: Frost und Harsch bereiten
die Spannung künftiger Empfänglichkeiten.

Hast du denn ganz die Rosen ausempfunden
vergangnen Sommers? Fühle, überlege:
das Ausgeruhte reiner Morgenstunden,
den leichten Gang in spinnverwebte Wege?
Stürz in dich nieder, rüttele, errege
die liebe Lust: sie ist in dich verschwunden.
Und wenn du eins gewahrst, das dir entgangen,
sei froh, es ganz von vorne anzufangen.

Vielleicht ein Glanz von Tauben, welche kreisten,
ein Vogelanklang, halb wie ein Verdacht,
ein Blumenblick (man übersieht die meisten),
ein duftendes Vermuten vor der Nacht.
Natur ist göttlich voll; wer kann sie leisten,
wenn ihn ein Gott nicht so natürlich macht.
Denn wer sie innen, wie sie drängt, empfände,
verhielte sich, erfüllt in seine Hände.

Verhielte sich wie Übermaß und Menge
und hoffte nicht noch Neues zu empfangen,
verhielte sich wie Übermaß und Menge
und meinte nicht, es sei ihm was entgangen,
verhielte sich wie Übermaß und Menge
mit maßlos übertroffenem Verlangen
und staunte nur noch, daß er dies ertrüge:
die schwankende, gewaltige Genüge.

Es wurde zunächst anonym veröffentlicht - von R.M. Rilke so gewünscht. Karl Kraus erkannte , wie Rilke an K. Kippenberg schreibt, den Autoren Rilke an dem Wort "leisten". Du findest den Brief jetzt auch bei rilke.de unter der Rubrik "Briefe". http://www.rilke.de/briefe/191216.htm .
Ich habe irgendwo gehört, dass Rilke später noch eine Fortsetzung zu diesem Gedicht geschrieben hat . Kennt die zufällig jemand hier ?

Viele Grüße von Anna :lol:
Svenja

Beitrag von Svenja »

Hi,

irgendwie erinnert mich das sehr an die Gedichte von Stefan George ?! Was meint Ihr: hat Rilke George gekannt, gelesen ???

Die Fortsetzung würde mich auch sehr interessieren von dem Gedicht!

Liebe Grüße von Svenja :lol:
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Anna B.
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Beitrag von Anna B. »

Hallo,

eine weitere Frage hätte ich doch noch: warum hat K. Kraus den Autoren ausgerechnet an dem Wort "leisten" erkannt ? Was ist daran so Rilke typisch ?

Viele Grüße von Anna :lol:
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Frage ich mich auch. Viel typischer für Rilke finde ich die beiden starken Konjunktive im Endreim: empfände und ertrüge. Bei denen hätte ich auf Rilke getippt, dazu noch wieder mal eine Rose.
Gruß
gliwi
Barbara
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Beitrag von Barbara »

Hallo,

ich habe die Fortsetzung Rilkes zu diesem Gedicht gefunden:

Drum sei dem winterlichen Zimmer gut,
laß dir die harten Außentage kürzen;
vertraute Flammen sprengen wohlgemut
aus alten Harzen die verhehlten Würzen.
Und wenn die Schichten im Kamine stürzen;
so schaue, was du glühest, in die Glut -
und sieh es dort sich bilden und zerstören:
nur was vergehen darf, kann dir gehören.

Los ohne gleichen: im Vergehn zu sein;
zu schweben unter lauter Stellen Schwindens,
sich für die Zeiten künftigen Erblindens
zu füllen mit gefühltem Augenschein.
Da steh ich in der Mitte des Empfindens
und lasse mich mit tausend Wesen ein -,
und wo mir eines unwillkürlich schweigt,
halt ich es gleich für minder zugeneigt.

Und sind doch alle so wie ich Bemühte
um reinen gegenseitigen Verstand
[und tragen Früchte oder stehn in Blüte
weil sie`s nicht fassen können vor der Hand.
und noch die fernsten bleiben, nicht aus Güte,
im größten Kreis einander zugewandt.]
und geben Früchte oder stehn in Blüte
weil sie`s nicht fassen können vor der Hand
[O was ist Liebenwollen, was ist Güte?
Wer ist uns ab- , wer ist uns zugewandt]

Wie das mit S. George und R. M. Rilke ist, kann ich allerdings auch nicht sagen, Svenja ?! Vielleicht jemand anders hier im Forum ?!

Viele Grüße von Barbara :lol:
Svenja

Beitrag von Svenja »

Hi,

auch bei S. George - und vielen anderen Dichtern - gibt es Rosen - zb:

Komm in den totgesagten park und schau:
Der schimmer ferner lächelnder gestade.
Der reinen wolken unverhofftes blau
Erhellt die weiher und die bunten pfade.

Dort nimm das tiefe gelb. das weiche grau
Von birken und von buchs. der wind ist lau.
die späten rosen welkten noch nicht ganz.
Erlese küsse sie und flicht den kranz.

Vergiss auch diese letzten astern nicht.
Den purpur um die ranken wilder reben.
Und auch was übrig blieb von grünem leben
Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.

Stefan George
(1868-1933)

Dieses nur als kleiner Hinweis . Aber natürlich ist jedes Gedicht für sich besonders und einzigartig :lol: !

Viele Grüße von Svenja
Angela

An Stephan George

Beitrag von Angela »

Hallo,

bereits der frühe R. M. Rilke hat ein Gedicht geschrieben "An Stephan George" , in dem er seine Gedichte mit denen Georges vergleicht . Wo finde ich dieses Gedicht vom 29.11. 1897 ?

Freundliche Grüße von Angela :lol:
e.u.
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Beitrag von e.u. »

Hallo,
ich habe leider nur den Erstdruck zur Verfügung und setze den Text hier einfach hin, so wie ich ihn finde:

AN STEFAN GEORGE / VON RAINER MARIA RILKE

WENN ich, wie Du, mich nie den Märkten menge
Und leiser Einsamkeiten Segen suche, -
Ich werde nie mich neigen vor der Strenge
Der bleichen Bilder in dem tiefen Buche.

Sie sind erstarrt in ihren Dämmernischen
Und ihre Stirnen schweigen Deinen Schwüren,
Nur wenn des Weihrauchs Wellen sie verwischen
Scheint ihrer Lippen Lichte sich zu rühren.

Doch, daß die Seele dann dem Offenbaren
Die Arme breitet, wird ihr Lächeln lähmen;
Sie werden wieder die sie immer waren:
Kalt wachsen ihre alabasterklaren
Gestalten aus der scheuen Arme Schämen.

29.November 97

Gefunden in: Corona. Zweimonatsschrift. Herausgegeben von Martin Bodmer und Herbert Steiner. 6.Jahr (1936) 6.Heft, S.706,
Aber vielleicht reicht das als erste Information?
e.u.
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Das ist ja mal wieder ein fantastischer Fund, lieber e.u.! Habe es mir sofort ausgedruckt. Was meint er mit den "bleichen Bildern in dem tiefen Buche", vor denen sich George neigt und er nicht? Was für ein Buch könnte das sein? Ein bestimmtes oder eine Abstraktion? Leider weiß ich nicht sehr viel über George, obwohl ich ein paar seiner Gedichte sehr schätze.
Gruß
Christiane
e.u.
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Beitrag von e.u. »

Hallo Christiane,
das Gedicht ist in der Tat wenig bekannt, steht auch nicht in der Kommentierten Ausgabe. Aber zur Rilke und George gibt es schon Spezialisten, die etwas dazu schreiben könnten.
Die von Dir genannte Textstelle ist aus dem Stand wohl nicht so leicht zu erklären. Das Gedicht entstand vermutlich bald nach dem Besuch Rilkes zu einer der ersten (exklusiven) Lesungen Georges. Ich vermute (!?), Rilke nimmt hier auch Bezug auf Georges Gedichtbuch von 1897 'Das Jahr der Seele'. Einige Motive finden sich dort wieder (z.B. in dem Gedicht 'Widmungen'). Übrigens meinen manche, Rilkes Gedicht 'Die Flamingos' hätte auch einen Bezug auf George. Aber das ist eine andere Geschichte...
Schönes Wochenende!
e.u.
stilz
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Beitrag von stilz »

Hallo,

oh.

Ich liege vielleicht völlig falsch (habe mich noch nie wirklich mit George beschäftigt und also keine Ahnung, wie er zu dem Thema stand) ---
aber als ich dieses "An George" vorhin das erste Mal las, schien mir ganz klar zu sein, daß mit dem tiefen Buch und der Strenge der bleichen Gestalten darin, deren Lippen sich nur mit den Wellen des Weihrauchs zu rühren scheinen, aber das ist eine Täuschung... daß mit diesem Buch ganz einfach die Bibel gemeint ist.

Das scheint mir sehr zu einigen anderen Äußerungen Rilkes zu passen, mir fällt jetzt zB das "Telefon Christus" ein, aus dem nie eine Antwort kommt...

Mein Eindruck ist, daß Rilke die "etablierte Religion", also die Kirche, als Hindernis empfand, und nicht als das, was sie eigentlich ursprünglich wohl sein wollte: als eine Hilfe auf dem Weg ins "Offene"...


Wie gesagt, das alles sind spontane Assoziationen einer "ganz und gar nicht Expertin".
Was meint Ihr dazu?

Liebe Grüße

stilz
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Anna B.
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Beitrag von Anna B. »

Hallo,

... das hat wohl eine Menge mit der Philosophie und Psychologie dieser Zeit zu tun . R. M. Rilke studierte Philosophie bei Georg Simmel . Und auch die Schriften Friedrich Nietzsches waren ihm sicher bekannt . Für ihn selbst fand auch eine religiöse Auseinandersetzung statt ( - denkt nur mal an das "Stundenbuch" und die später entstandenen Gedichte, oder auch an die "Christus-Visionen") .

S. George scheint ein viel religiöserer Dichter gewesen zu sein. Interessant dazu die Website: http://www.stefan-george.de/begriffe.htm . Aber bestimmt gibt es da auch im Forum Insider, die sich damit auskennen ...

Viele Grüße von Anna :lol:
e.u.
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Beitrag von e.u. »

Hallo,
ich fürchte, von George als religiösem Dichter werden wir doch wegkommen müssen. Höchstens in dem Sinn ist er das, dass er die Kunst selbst als eine (höchste) Religion ansieht. Das mag Rilke in dieser penetranten Form (mit Jünger-Kult und höchstem Zeremoniell) arg an die bigotten Formen der Prager Mutter erinnert - und wenig begeistert - haben. Deshalb die Distanz, die er gegenüber George schon früh entwickelte. Der mochte ihn später nicht und nannte ihn eine glatte Null in der Dichtung.
Dazu gibt es einen schönen Aufsatz von Eudo C.Mason: Rilke und Stefan George. - In. Käte Hamburger (Hg.): Rilke in neuer Sicht. Stuttgart u.a. 1971, S.32.
e.u.
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Anna B.
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Beitrag von Anna B. »

Hallo e.u.,

genauso habe ich es gemeint - und es blöd missverständlich formuliert . Gut, dass Du es noch einmal ausgeführt hast :
Höchstens in dem Sinn ist er das, dass er die Kunst selbst als eine (höchste) Religion ansieht. Das mag Rilke in dieser penetranten Form (mit Jünger-Kult und höchstem Zeremoniell) arg an die bigotten Formen der Prager Mutter erinnert - und wenig begeistert - haben.
Es steht ja auch so auf der Site, zu der ich den Link genannt habe:

"So entwickelt George einen eigenen Deklamationsstil, deren Ähnlichkeit mit der Sprechweise der katholischen Liturgie bereits von seinen Jüngern bemerkt worden ist. Wie beim katholischen Kultus kommt es beim feierlichen Lesen und Hören von Gedichten im George-Kreis nicht auf das individuelle Verständnis der Textbedeutung, sondern auf den kollektiven Vollzug der Ritualhandlung an, weil sich in dieser der Sinn der Poesie "ereignet" " aus "Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur."

Was meint Ihr: ist das vielleicht auch schon eine Form der Kritik an herkömmlicher Religionsausübung, psychologisch gesehen - in dem Übertriebenen (was mir fast als Persiflage erscheint) ? Sicher hat S. George das anders gesehen, aber für uns mit etwas Abstand gesehen, könnte es vielleicht diese Bedeutung haben ? Was bedeutet es, wenn Kunst zu Religion, das eigene Werk S. George zum "religiösen" Ritual wird ? Was genau bedeutet "Ästhetischer Katholizismus" ? Gibt es diesen Begriff nur in Zusammenhang mit S. George oder auch allgemeiner (im Katholizismus) ?

Liebe Grüße von Anna :lol:
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