Ja, eine künstlerische Art, die Dinge der Welt anzuschauen, wird ein materialistisch zu urteilen gewohnter Mensch immer als Träumerei abzutun sich schuldig sein – und er bemerkt nicht, dass diese Art zu blicken die einzige Chance wäre, den Ausweg aus der intellektuellen Befangenheit zu finden – aus einem Käfig, innerhalb dessen er dem von ihm als einzig real anerkannten „Dinglichen“ am allerwenigsten gerecht werden kann.
Die Auftrennung zwischen einer den Wissenschaften zugänglichen und einer von den Künsten dargebotenen Welt statt einer Gliederung der Welt in die einander durchdringenden Aspekte von Sein und Wahrheit hat immer schon die Genies bekümmert, die beide Lebensfelder kundig betraten und beackerten und doch von den Zeitgenossen auf nur das eine der beiden beschränkt anerkannt wurden.
So schreibt Schiller an Goethe [der sich gerade vergrätzt über Lichtenberg (
den „witzigen Kopf“: ‹Der Amerikaner, der den Kolumbus entdeckte, machte eine böse Entdeckung.›) beklagt hat, dass jener Goethes optischen Versuche ebensoweniger Erwähnung würdigte wie schon drei Jahre zuvor Goethes naturwissenschaftliches Hauptwerk, die Farbenlehre] am 23. November 1795:
- »Seien Sie versichert, wenn Sie einen Roman, eine Comödie geschrieben haben, so müssen Sie ewig einen Roman, eine Comödie schreiben. Weiter wird von Ihnen nichts erwartet, nichts anerkannt – und hätte der berühmte Hr. Newton mit einer Comödie debütirt, so würde man ihm nicht nur seine Optik, sondern seine Astronomie selbst lange verkümmert haben. Hätten Sie den Spaß sich gemacht, Ihre optischen Entdeckungen unter dem Namen unsers Professor Voigts oder eines ähnlichen Cathederhelden in die Welt zu bringen, Sie würden Wunder daran erlebt haben.«
Der andere meiner beiden Denk-Lehrer sagte am 3. Oktober 1922 in Stuttgart:
- »Die Leute sagen heute: Das ist kein richtiger Wissenschafter, der nicht ganz logisch die Beobachtung und das Experiment interpretiert, der nicht von Gedanke zu Gedanke fortschreitet, wie sie nur nach den richtig ausgestalteten Methoden fortschreiten dürfen. Der ist kein richtiger Denker, der das nicht tut. - Wie aber, (…) wenn die Wirklichkeit eine Künstlerin wäre und unserer ausgestalteten dialektischen und experimentellen Methoden spottete, wenn die Natur selber nach Kunstimpulsen arbeitete? Dann müsste der Natur wegen die menschliche Wissenschaft zur Künstlerin werden, sonst käme man der Natur nicht bei! Das aber ist ja nicht der Standpunkt der heutigen Wissenschafter. Deren Standpunkt ist: Mag die Natur eine Künstlerin sein oder eine Träumerin, das ist uns gleichgültig; wir befehlen, wie Wissenschaft zu treiben ist. Was geht es uns an, ob die Natur eine Künstlerin ist? Das geht uns gar nichts an, denn das ist nicht unser Standpunkt.«
Ich frage mich halt, ist vielleicht Rilkes künstlerischer Sinn des: «Ich lerne sehen»
eine Art verfeinerter Phänomenologie und in dieser Verfeinerung geradeso wenig elitär wie die Kunstfertigkeit unseres Schreiners, der mit Werkzeugen, die mich ratlos stehen lassen, Werkstücke entstehen lassen kann, die IKEAs ready to assemble Produkte nicht etwa durch Zierrat und Schnörkel im Wert übertreffen, sondern durch die Beschränkung aufs Edle, Wesentliche.
Als Christoph Martin Wieland in seiner Biberacher Zeit (um 1761) Marie Sophie von La Roche wiederbegegnete, da trat in seinem Leben etwas von dem ein, was aus künstlerischem Sinn heraus die Welt befruchtet, ob’s die „Marxisten“ verachten mögen oder nicht. Mein besagter Lehrer schreibt über diese Zeit in Wielands Biographie in der Einleitung zu einer Anfang des 20. Jahrhunderts erschienenen einbändigen Ausgabe von Christoph Martin Wielands Werken, „
aus der Feder eines namhaften Literaturhistorikers“

:
- «Nüchternheit, getaucht in Grazie und anmutige Schönheit, wurden ihm [Wieland] mehr wert als der Blick in übernatürliche Höhen des Ideals. Eine solche Gesinnung stellt das Leben höher als alles Nachdenken und Nachsinnen über das Leben. Mag des Menschen Vernunft auch nicht ausreichen, die eigentlichen Tiefen das Daseins auszuschöpfen; diese Vernunft ist nun einmal da, und man halte sich an sie. Mag die Sinnlichkeit auch trügerisch sein: diese Sinnlichkeit ist dem Menschen gegeben, er soll sich ihrer freuen.»
Hier kommen wir der Frage nach dem
Zusammenklang von Wahrheit und Ästhetik in Kunst sowie Wissenschaft schon recht nahe.
[Ob Rilke sich über Wieland gnädiger geäußert hat als über Goethe (bzw. ob überhaupt), weiß ich allerdings nicht. {Wieland hatte ja auch schließlich keine „leidige
Bremse“.

}]
Für mich ist es jedesmal neu spannend und staunenswert, wie Rilke die epistemologische Gebärde: «Das-Sein-Erkennen» behutsam, aber radikal umkehrt (
übrigens ohne die „Dinge“ je zu anthropomorphisieren), zum Beispiel zu einem:
Rilke hat geschrieben:Erkennst du mich, Luft, du…
Und wenn wir bei Rilke („
An den Engel“) einen Komparativ von »angeschaut« lernen: Die Angeschautesten sind: wir! Wie, wenn der Engel uns mit künstlerischem Blick betrachtete? Uns, sein Modell. Wenn sein Gebet das wäre, uns – als Menschen-Ich-Ideal – zu imaginieren und die (letzten?) Genies unter uns zu inspirieren?
Sind wir vielleicht, wenn wir ein meisterliches Gedicht einigermaßen angemessen gesprochen haben, ›Eratmetere‹ des Kosmos?
l.